· Das moderne Leben hat den Ruf unstet und hektisch zu sein. Aber wieso eigentlich? Die Zeit, die uns zur Bewältigung unserer Aufgaben zur Verfügung steht, ist dieselbe wie früher. 24 Stunden am Tag, 7 Tage in der Woche, 52 Wochen im Jahr…
· ... und mehr Jahre in einem durchschnittlichen Leben als je zuvor! Das heißt, wir haben insgesamt sogar mehr Lebenszeit zur Verfügung als früher, weil wir erstens länger leben, was wir der Technologisierung und den gestiegenen medizinischen und hygienischen Standards zu verdanken haben …
· … und weil zweitens die gesamte Moderne eine einzige Geschichte des Zeitsparens ist: Das Essentielle am Auto ist, dass es uns schneller von A nach B bringt als unsere Füße oder eine Kutsche. Dasselbe gilt für Mikrowellen, Staubsauger, Handys, Waschmaschinen, E-Mails erreichen ihren Adressaten in Sekundenschnelle. Fast jede Technik ist mit dem primären Versprechen verbunden, dass wir mit ihr Zeit gewinnen.
· Dennoch, trotz Zeitersparnis bei unseren einzelnen Aufgaben, haben wir das Gefühl, immer weniger Zeit für alles Anstehende zu haben. Weil die Aufgabenmenge so rasant wächst, dass sie vom Zeitgewinn bei den einzelnen Aufgaben nicht mehr kompensiert werden kann. Früher wechselten Menschen nur einmal die Woche ihre Wäsche, heute machen wir das (mindestens) täglich. Statt zwei oder drei Briefe wie früher schreiben und lesen wir 30, 40, oder noch mehr E-Mails im Monat und kommunizieren sowieso andauernd mit jedem über Whattsapp und SMS. Und mit dem Auto legen wir viel weitere Strecken zurück als unsere Vorfahren damals zu Fuß.
Wir fahren sogar so viel weitere Strecken, dass wir trotz der Zeitersparnis pro Kilometer
insgesamt länger im Auto unterwegs sind als die Leute früher zu Fuß. Und das ist der Kernpunkt, weshalb die Moderne ihr Versprechen der Zeitersparnis nicht halten
kann:
· Nun stellt sich die Frage, warum „die Aufgabenmenge“ so rasant angestiegen ist? Ein Grund hierfür ist sicher die kapitalistische Wachstumslogik, die sich tief in unsere kulturelle Denkart eingebrannt hat. Wir wollen mehr – mehr wissen, um damit mehr von der Welt zu verstehen und sich mehr zu bilden, um aufgrund dessen einmal mehr zu verdienen, damit man mit dem Geld mehr erleben kann und das Erlebnis wollen dann mit immer mehr Leuten teilen. Aber wer mehr arbeitet, um sich einen längeren Flug leisten zu können und dann in die Fotolinse anstatt auf die Landschaft zu schauen, der hat unterm Strich nicht mehr – sondern weniger.
· Ein anderer Grund für die gefühlt steigende Angebotsmenge offenbart sich, wenn man die Moderne phänomenologisch analysiert: Mit ihren technischen Neuerungen und weltlicher Diversifizierung vergrößert die Moderne die Anzahl der uns zur Verfügung stehenden Optionen, unsere Wahlmöglichkeiten wachsen. Im Vergleich zu früher stellt sie uns quasi ein Mehr an Welt in Reichweite. Besitzt ein Mensch bspw. ein Auto, weitet das den Horizont seiner Möglichkeiten: Er kann heute Nachmittag noch schnell in die Stadt fahren, in die Natur hinausfahren, ein Konzert oder einen Freund im Nachbardorf besuchen. Und wer ein Smartphone besitzt weiß, dass der mit ihm einhergehender Mehrwert an Möglichkeiten nicht dafür sorgt, dass man Zeit dazugewinnt. Beim Warten hört man plötzlich Musik, auf Toilette liest man und vorm Schlafengehen schaut man sich YouTube-Videos an.
· Wir scheinen süchtig zu sein nach mehr – und unser Wirtschaftssystem ist das sowieso. Süchtig nach mehr Möglichkeiten, mehr Erlebnisperioden… und dementsprechend brauchen wir auch mehr Zeit. Es gibt nicht wenige Leute in Deutschland, die nichts mehr brauchen, außer die Zeit, all das zu tun, was sie tun könnten, wenn sie die Zeit dazu hätten. Zeit ist die Währung der Moderne. Aber weshalb wollen wir immer mehr? Weil wir es für eine Bedingung des gelungenen Lebens halten, möglichst viel Welt in unsere Reichweite zu bringen. Und weil wir uns versprechen, dass allein schon ein Mehr an Auswahloptionen Glück in uns auslösen könnte, das wir so mehr Freiheit erlangen würden.
· Beides ist nicht richtig und beide Vorstellungen sind gefährlich. Alle beiden Trugschlüsse bestehen darin anzunehmen, dass die Steigerung an Wahlmöglichkeiten an sich einen persönlichen Glückswert haben könnte. Die Möglichkeit einer Wahl ist jedoch nicht vergleichbar damit, eine Wahl auch tatsächlich zu treffen. Das Buch, das in meinem Regal steht und das Opernhaus, das sich auch in meiner persönlichen Reichweite befindet, bringen mir persönlich wenig - bis ich das Buch in die Hand nehme und lese und das Opernhaus besuche verschafft mir die bloße Freiheit das zu tun noch keinen wirklichen Genuss.
· Tatsächlich träumen nicht nur davon, sondern packen auch immer mehr in unsere Leben. Heute pflegen wir mehr Kontakte als früher, sehen mehr von der Welt, konsumieren mehr Informationen und lernen allgemein mehr Facetten des Lebens kennen, als sie unsere Vorfahren noch kannten. Wir sind also reicher an Erlebnissen, aber dennoch ärmer an Erfahrungen. Weil Erlebnisse nicht mehr in Erfahrungen transformiert werden. Ein Erlebnis ist flüchtig, eine Erfahrung ist Teil meiner Geschichte, Teil meiner Identität.
· Wir identifizieren uns mit nichts mehr, weil alles flüchtig, relativ, proportioniert und trivial wurde. Wir wollen alles, was dazu führt, dass wir gefühlt alles ein wenig besitzen, alles ein wenig können, alles ein wenig sind - aber nichts davon wirklich. Und dennoch haben wir das Gefühl nicht genug Erlebnisse in dieselbe Zeitspanne zu pressen. Wir haben nie das Gefühl, dass es mal genug ist. Und das macht nicht glücklich, sondern unglücklich. Denn wer immer mehr will, hat nie das Gefühl genug zu haben, zu können oder zu sein. Dabei geht es schon längst nicht mehr nur um die Befriedigung unserer Grundbedürfnisse. Die konnten sich unsere Vorfahren – mehr oder weniger - auch befriedigen, sonst hätten sie uns nicht zeugen können. Nein, es geht um die Befriedigung von von uns neuerschaffener, künstlicher Bedürfnisse, wie das nach dem neuen IPhone, nachdem das alte – wiederum nur gefühlt – obsoleszensiert ist.
· Der Großteil unserer Arbeit richtet sich der Befriedigung solcher künstlichen Bedürfnisse. Es ist auch nicht der Umfang ihrer Arbeit per se, der die Menschen der Moderne krank macht. Auch unsere Vorfahren haben unglaublich hart gearbeitet und hatten viel seltener Depressionen oder Burnout Probleme. Aber etwas anderes hat sich geändert, eben dass man mehr möchte bzw. häufiger das Gefühl hat, es sei nicht genug, was man darstelle. Und solche Gedanken und Gefühle kommen nicht von ungefähr, es ist unsere Umwelt, die uns zu wenig Halt gibt und bestärkt, die uns zu selten Anerkennung und Zuwendung zuteilwerden lässt. Denn Halt und Anerkennung kosten Zeit und wir sind so damit beschäftigt es noch besser zu machen, dass wir gar nicht dazu kommen uns zu sagen, dass wir es auch jetzt schon gut machen oder dem anderen Hilfe anzubieten. Das führt zu Depressionen und Burnout. Und am Ende zum Gegenteil dessen, wofür wir uns eigentlich so verrückt gemacht haben.
· Was kann man dagegen tun? Wir sollten es uns wieder erlauben, Zeit zu erfahren. Anders als Geld lässt sich die Erfahrung von Zeit jedoch nicht anhäufen oder erarbeiten. Deshalb sollte man mit der Zeit auch eine ganz andere Taktik einschlagen, als bei den Finanzen. Nicht Zeitsparen ist die Methode der Wahl, die hat uns gerade erst in die Zeitnot geführt. Zeitsparen hilft wenn dann nur dem, der Geld anhäufen möchte. Wer sich hingegen wieder reich an Zeit fühlen möchte, wie früher als Tage noch lange und die Sommerferien ewig gingen, sollte sie verschwenden. Er oder sie sollte einfach mal nichts planen, stagnieren.
Beispiel: Ein Mann verbringt seit 30 Jahren die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr in seinem Heimatdorf im Schwarzwald. Währenddessen verlässt er das Dorf nicht, komme was wolle. Der
Schnee liegt immer schwer auf den Fichten, diese kippen dann gelegentlich und reisen die Hochspannungsmasten mit sich. Dann fällt der Strom aus. Sobald der Akku seines Handys leer ist, kann er
weder ins Internet, noch telefonieren, noch Musik hören. Er fällt gewissermaßen aus dem modernen Zeitplan und kann ohne schlechtes Gewissen nichts tun. Er verschwendet, aber vor allem gewinnt er
bei all dem an Zeit.
WissensWert (Donnerstag, 07 Juli 2016 00:45)
Menschen haben als einzige Tiere Wege gefunden, ihre Vollzeitbeschäftigung mit Tätigkeiten, die ihrer Ernährung und Reproduktion dienen - und die "von der Evolution" mit Wohlbefinden belohnt werden - durch kulturellen und technologischen "Fortschritt" zu reduzieren. Seit wir das Feuer nutzen und nicht mehr fast den ganzen Tag mit dem Kauen von Pflanzen verbringen, seit wir nicht mehr Jagen und Sammeln, sondern uns die Nahrung mit Ackerbau und Viehzucht selbst vor der Haustüre züchten, haben wir theoretisch sehr viel Zeit übrig. Abgesehen davon, dass wir das als "Langeweile" empfinden, hat die Art der Verteilung der Früchte dieser Umstellung und der Arbeitsteilung so wie eine beständige Unzufriedenheit und Streben nach "Verbesserung" dies aber weitgehend verhindert.
Unsere Bedürfnisse, die aus einem komplexen Geflecht aus triebbedingten hormoneller Emotionen und kultureller Traumatisierung des Schmerzvermeidungsgedächtnisses entstehen (aber natürlich auch aus der Erfahrung von Freuden), existieren weiter, ursprünglich entstanden, um uns dazu anzutreiben, uns mit Energie zu versorgen und "Kopien" von uns selbst zu erzeugen, nun als Quell einer unersättlichen Nachfrage, die innere Leere mit Entertainment und Konsum zu füllen, ein ideales Opfer für Suchtverhalten und den ökonomischen Prozess der Kommodifizierung der Welt und des Lebens und der Akkumulation gegenseitiger "Schulden", ein gewaltiger Markt der "inneren Schweinehunde", die hungrig darauf warten, Sinn verkauft zu bekommen.
Was Marx als Warenfetisch bezeichnete ist nichts anderes als die sublimierte Suche nach vermeintlichem Ersatzglück, das durch die Entfremdung nicht nur vom Produkt der eigenen "Arbeit", sondern von der Lebensweise, auf die unser phylogenetisches Gedächtnis angepasst war und von einander, "verloren" ging. Und die Kopplung der Inklusion, der Möglichkeit, dieses zu nutzen, mit der kommodifizierten eigenen Arbeitskraft und der Fähigkeit, sich selbst und andere zu vermarkten bzw. dies mit Hilfe von Technologie zu optimieren, führt einerseits dazu, dass wir uns selbst überflüssig machen, und andererseits entwertet es permanent die menschliche Arbeitskraft gegenüber der Vermarktung von Technologie zu diesem Zweck.
Die momentan - leider nicht gesellschaftlich, sondern nur punktuell - diskutierte Möglichkeit einer "technologischen Singularität", d.h. dem Zeitpunkt, ab dem intelligente Maschinen sich selbst verbessern, also nach chemischer, biologischer und kultureller eine technologische Evolution einsetzen würde, und deren positive oder negative Auswirkungen auf die Rolle der Menschheit in diesem Prozess, halte ich für weder sicher, noch komplett ausgeschlossen. Gerade solche Aussichten wie der Erfolg simulierter neuromorpher Netze und die Möglichkeit, diese in nanotechnologischen Werkstoffen wie Graphen in nichtsimulierter Form zu realisieren, zeigen, dass es gar nicht so abwegig ist.
Wie solche Künstliche Intelligenz uns gegenüber eingestellt sein wird und handeln wird, hängt natürlich auch stark davon ab, mit welchen Motiven sie geschaffen und eingesetzt wird. Vermutlich wird es weniger der direkte Ansatz sein, dem Menschen zu dienen als Profit zu generieren und zu optimieren.
Nach Logik, Geschwindigkeit und Möglichkeiten des technologischen Fortschritts ist jedoch relativ sicher, dass die Verbindung der Vermarktung der eigenen menschlichen Arbeitskraft mit dem Anrecht, die dadurch generierten gesellschaftlichen Einrichtungen zu nutzen, sich sehr bald ad absurdum führt - wobei ein bedingungsloses Grundeinkommen das Problem auch nur symptombehandelt, da der Konsum nur eine Seite der Teilhabe an der Gesellschaft ist, der neben gesellschaftlicher Produktion und Investition eben nicht die Sinnfrage der eigenen Rolle löst.
Credits: Ölgemälde "Zeichen der Zeit: Entfremdung" von Susanne Flint
WissensWert (Donnerstag, 31 März 2016 19:10)
https://www.youtube.com/watch?v=gOfehjB2EVQ
Seelenlachen (Samstag, 17 Oktober 2015 03:44)
Nein, zumindest nicht in dem Ausmaß, wie wir heutzutage künstliche Bedürfnisse haben.
Bis noch weit nach der Industrialisierung hatten wir in einer (GRUND-)BEDÜRFNISDECKUNGSGESELLSCHAFT gelebt, wir wollten am Abend etwas zwischen den Zähnen und ein Dach über den Kopf haben.
Dann haben wir in einer BEDARFSDECKUNGSGESELLSCHAFT gelebt, in dem all das, was wir sonst noch haben wollten, Auto und Kühlschrank zum Beispiel, dazugekommen ist.
Heute leben wir natürlich in einer BEDARFSWECKUNGSGESELLSCHAFT, in der uns viele Wünsche erst eingeredet werden, die wir von alleine gar nicht hätten.
Unsere Großeltern gingen noch "Einholen", also das Nötigste für den Kühlschrank kaufen, die Vorstellung vom "Shoppen", also blind Loszugehen um Geld auszugeben, ohne wirklich etwas zu brauchen, kannten sie noch nicht. Erst mit der Zeit und den gestiegenen Ansprüchen an das Leben kamen die künstlichen Bedürfnisse in unsere Köpfe.
Wir leben inzwischen schon länger nicht mehr in einer Gesellschaft, in der die Menschen nur das einkaufen, was sie brauchen. Wir könnten uns von nun an auch mit dem begnügen, was wir wirklich brauchen und müssten dafür dann nur noch ein paar Stunden am Tag arbeiten. Ich denke, dass speziell wir Deutschen zufriedener, ja, glücklicher wären, wenn wir diesen Weg wählen würden und weniger arbeiten und weniger wollen wöllten.
Liebe Grüße und gute Nacht,
Johannes
Pi (Samstag, 17 Oktober 2015 03:18)
Hatten die Menschen früher keine künstlichen Bedürfnisse?