Man kann die
Alltagserfahrung durch Bayes Theorem [1] ausdrücken, aber ich möchte Ihnen hier die Mathematik ersparen. Bayes Theorem besagt, dass je unwahrscheinlicher eine Hypothese nach erstem Augenschein (unserem Alltagswissen) ist, umso
bessere Evidenzen müssen wir verlangen, um die Hypothese annehmen zu können. Für
eine so unserer Alltagserfahrung und unserem bisherigen Wissen widersprechenden Hypothese wie "Gott existiert" müssten also die Evidenzen schon sehr, sehr stark sein.
Stattdessen haben wir nicht den Hauch eines Beweises. Wir haben auch keine akzeptablen Gründe dafür, dass wir die Entscheidung, ob wir an Gott glauben sollen oder nicht, auf jeden Fall treffen
müssen. Wir haben auch keine Hinweise darauf, dass Glauben ein angemessener Ersatz für Wissen ist, und dass wir daher unsere rationalen Bedenken über Bord werfen sollten. Viele Menschen glauben,
weil sie nie einen Grund gefunden haben, den (kulturell) ererbten Glauben in Frage zu stellen. Sie haben daher auch nie wirklich eine Entscheidung getroffen. Und alleine deswegen wäre es schon
notwendig, eine offensichtlich von anderen Menschen getroffene Entscheidung zu hinterfragen.
Wenn wir eine Hypothese akzeptieren oder zurückweisen, so sollten wir stets damit rechnen, dass wir dabei Fehler machen - dies ist eine Folge des Münchhausentrilemmas. Es gibt keine perfekte Erkenntnis -
eigentlich ist dies selbst eine triviale Erkenntnis. Es gibt dabei zwei Arten von Fehlern, die wir machen können (und unvermeidbar auch hin und wieder machen werden):
Je mehr wir unter konstanten Bedingungen versuchen, Fehler 2. Ordnung zu vermeiden, umso sicherer begehen wir Fehler 1. Ordnung. Wir müssen, um Fehler der einen oder der anderen Art zu
minimieren, die Qualität und/oder die Quantität der Evidenzen
erhöhen. Nun versuchen Gläubige unter allen Umständen, Fehler 2. Ordnung zu vermeiden - es könnte ja "doch etwas dran sein". Da sie die Qualität der Evidenzen nicht beeinflussen können (meist, weil es keine gibt) bedeutet dies, dass sie umso sicherer bestimmte Annahmen als wahr akzeptieren,
die falsch sind (Fehler 1. Ordnung).
Nun zeigt die Erfahrung, dass wahre Annahmen generell viel seltener sind als falsche Annahmen. Das bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit für Fehler 2. Ordnung gering ist, die für
Fehler 1. Ordnung aber sehr hoch - die Gläubigen sorgen sich um die falsche Fehlerart, tatsächlich rechnen sie oft überhaupt nicht damit, an falsche Annahmen zu glauben. Wer nun sagt, dass diese
Erfahrung nicht für den religiösen Glauben gilt, der weiß nicht, ob dies nicht bereits wieder ein Fehler ist. Wenn wir keine Erfahrung über ein Gebiet haben bzw. unsere normale Erfahrung dort
nicht gilt, dann sind solche Behauptungen besonders kühn und benötigten daher auch besonders starke Evidenzen.
Verkürzt gesagt, wer Angst davor hat, einen Glauben als falsch zurückzuweisen, der wird umso sicherer an das Falsche glauben. Das gilt auch für die Behauptung,
unsere Erfahrung sei auf dem Gebiet des Glaubens nicht gültig - je weniger Erfahrung wir auf einem Gebiet haben, umso mehr Fehler werden wir machen.
Um Fehler dieser Art zu vermeiden, bleibt uns nur der dritte Weg übrig: Weder die Hypothesen zu akzeptieren noch sie zu verwerfen - Agnostizismus.
Damit die Gläubigen diesen Weg nicht gehen, wird psychologischer Druck ausgeübt, z. B. durch Androhung von Höllenstrafen oder Ähnliches, z. B. der Verlust des ewigen Lebens. Das scheint höchst
unredlich zu sein. Warum sollte Gott es nötig haben, Menschen gegen ihre Erfahrung handeln zu lassen, wenn er sich in seiner Allmacht doch leicht offenbaren könnte?
Die üblichen
Offenbarungen kann
man nicht für stichhaltig halten, weil sie alle aus zweiter Hand stammen - etwas aus zweiter Hand aber kann keine göttliche Offenbarung sein. Das Fehlen einer objektiven göttlichen Offenbarung
ist eine weitere schwer wiegende Evidenz gegen die Existenz Gottes (oder
eine Evidenz dafür, dass Gott nichts mit uns zu tun haben will - das würde
alle sog. "Offenbarungsreligionen" aber ungültig machen).
Nicht damit zu rechnen, Fehler zu machen, scheint mir schon der erste Fehler der Theologie zu sein. Jede Erfahrung zu verwerfen, weil wir auf dem Gebiet keine Erfahrung haben können, scheint mir
dann gleich der zweite Fehler zu sein. Und an Offenbarungen aus zweiter Hand zu glauben, dass bedeutet eben nicht, an göttliche, sondern an menschliche Offenbarung zu glauben und Menschen an die
Stelle Gottes zu setzen. Und dass Gott es nicht besser kann, sondern so brüchige Konstruktionen benutzen muss, um an seine Verehrung zu kommen (die er wozu braucht?) scheint mir eher Blasphemie
zu sein.
Dass wir Behauptungen nur im Lichte alter Erfahrungen überhaupt beurteilen können, veranlasst die Theisten meist, unseren Verstand und unser Wissen zu attackieren. Aber je unsicherer unsere Basis
wird, umso mehr müssen wir uns darauf verlassen, dass das, was wir noch wissen, stimmt. Wenn wir aber einmal nicht zutreffendes Wissen annehmen - sei es aus Irrtümern heraus, sei es, weil wir an
etwas Falsches zu glauben genötigt werden - dann ist unsere Wissensbasis korrumpiert, und wir können dazu veranlasst werden, die unwahrscheinlichsten und unmöglichsten Dinge für wahr zu halten -
weil wir die neuen Behauptungen anhand alter (falscher) Angaben beurteilen. Deswegen bemühen sich die Theisten so sehr, unser Wissen als unsicher darzustellen, damit sie ihre Glaubenssätze
einschmuggeln können, d. h., wir sollen ungeprüfte (und meist unprüfbare) Behauptungen als sicheres Wissen in unsere Wissensbasis einfügen. Dadurch wird die Basis unseres Denkens aber
korrumpiert, vor allem, weil diese Glaubenssätze gegen Widerlegung immunisiert worden sind - es also nicht
einfach, falsche Aussagen wieder zu entfernen.
Der Glauben besteht meist nicht in einer Ansammlung beliebiger Aussagen. Die Glaubenssätze sollen unmittelbare Konsequenzen für unser Leben haben. Normalerweise prüfen wir
Aussagen, die Einfluss auf unser Leben haben, viel gründlicher als Aussagen, die keinen Einfluss haben. Wenn Sie mir beispielsweise erzählen, sie äßen jeden Morgen zum Frühstück ausschließlich
Bananen, so werde ich Ihnen dies ungeprüft glauben. Nichts aus meiner Erfahrung spricht dagegen, dass das möglich ist. Menschen essen noch viel ungewöhnlichere Dinge zum Frühstück. Wenn Sie mir
nun aber weismachen wollen, dass dies für meine Gesundheit von ungeheurer Wichtigkeit ist, mein Verhalten Ihrem Verhalten anzupassen und meine Ernährung umzustellen - dann werde ich schon
skeptischer und werde Sie nach einer Begründung fragen. Können Sie mir eine sehr gute Begründung liefern, so werde ich erwägen, mein Frühstück auch auf Bananen umzustellen. Ist
Ihre Begründung nicht sonderlich gut, so werde ich Ihnen sagen: "Ist ja schön und gut, wenn Sie nur Bananen frühstücken, aber ich bleibe bei meinem Vollkornbrot".
Wenn Sie nach theistischer Überzeugungsmanier verfahren würden, um mich zu überzeugen, dann würden Sie zunächst mein Ernährungswissen attackieren und das klein reden (Angriff ist die beste
Verteidigung - das lenkt dann von den fehlenden Begründungen ab). Dann würden Sie diese Lücken nutzen, um Überzeugungen über Ernährung in mein Denken zu schleusen, die nicht überprüfbar sind und
die ich nicht widerlegen kann. Außerdem würden Sie von den Freuden des Bananenessens schwärmen und wie gesund das sei und gleichzeitig meine Essgewohnheiten als krank machend darstellen (alles
ohne Beweise oder Indizien, versteht sich). Und irgendwann hätten Sie genug Kontrolle über meine Überzeugungen, um meine Gewohnheiten zu ändern - zumindest im Denken. Ich würde eventuell selbst
meist Vollkornbrot essen, aber anderen von Bananen vorschwärmen, um zu sehen, ob das überzeugend ist. Nichts gegen Bananen - das war nur ein Beispiel - aber diese Methode der Bananenmission
überzeugt mich nicht und macht mich eher misstrauisch. Warum sollte ich aufgrund unüberprüfbarer Behauptungen mein Leben ändern?
Nein, wenn Sie mich überzeugen wollen, dann bitte mit guten Gründen. Auf etwas anderes reagiere ich nicht - aus Erfahrung. Und wenn Sie meine Erfahrung angreifen und schlecht machen, dann werde
ich misstrauisch. Denn aus der Tatsache, dass unser Wissen begrenzt ist und unser Verstand schwach, da schließe ich, dass wir neues Wissen nur sehr zögerlich akzeptieren dürfen, nur aus guten
Gründen und nicht ohne sorgfältige Prüfung. Und je kleiner und unsicherer unsere Basis ist, umso strenger und genauer muss geprüft werden - nicht weniger, wie uns die Theisten glauben machen
wollen.
1. Reverend Thomas Bayes (1702-1761) war übrigens ein englischer Geistlicher, Pastor und Mathematiker. Ironie der Geschichte?
Gastbeitrag von: Volker Dittmar