Dies ist die Vorabversion eines Textes, den ich im Rahmen meines Philosophiestudiums, 1. Fachsemester Universität Göttingen, als Hausarbeit abgegeben habe. Dies erklärt seine für diese Website atypische Form.
Der Utilitarismus ist seit jeher umstritten, bereits sein Urvater Jeremy Bentham fand zahlreiche Kritiker. Ironischerweise hat sich aber gerade jene dauerfeuernde Kritik als das größte Glück des Utilitarismus erwiesen, denn diese
ermutigte Benthams Nachfolger nur, die utilitaristische Theorie weiter auszudifferenzieren. Man kann also folgerichtig behaupten, der Utilitarismus sei mit seinen Kritikern
gewachsen.
Der zweite große utilitaristische Entwurf nach
Benthams „Handlungsutilitarismus“ war John Stuart Mills Theorie, die man heute unter der Bezeichnung „Regelutilitarismus“ kennt. Mill kannte Bentham über seinen Vater und wurde auf diesem Wege mit dem utilitaristischem Gedankengut affiziert. Nun war John Stuart Mill
jedoch erstens seit seiner Kindheit darauf getrimmt wurden, mal ein Genie zu werden, und zweitens auch tatsächlich hochbegabt und außerordentlich reflektiert. Diese beiden Umstände brachten ihn schließlich dazu, die Inhalte des klassischen Utilitarismus nach
Bentham nicht nur zu rezipieren, sondern auch dessen Schwächen zu erkennen und eine eigene utilitaristische Moralphilosophie zu entwerfen. Mills Regelutilitarismus kann von daher als Replik auf
viele der Mängel gelesen werden, die man Benthams Handlungsutilitarismus noch angemessen vorwerfen konnte.
Allzu oft vergessen Kritiker des Utilitarismus
den Umstand, dass vielen ihrer Einwände mit dem Regelutilitarismus souverän entgegnet werden kann bzw. diese nur auf den Handlungsutilitarismus zutreffen, den heute aber kaum jemand mehr
vertritt.
So zumindest meine These, dass der Utilitarismus, in Form des Regelutilitarismus, plötzlich wehrhaft gegen viele, wenn nicht gar gegen die meisten seiner
populärsten Kritikpunkte wird. Im Folgenden soll nun ein besonderes Augenmerk auf diese, meine These gelegt werden, während besagte Kritikpunkte in systematischer Abfolge referiert
werden.
Sehr häufig zielen Utilitarismuskritiken auf den Aspekt der Handlungsfolgen ab und darauf, dass diese eigentlich nicht vorhersehbar seien. Im Kern fordert der Utilitarismus uns dazu auf, unter allen potentiellen Handlungsentscheidungen jene zu wählen, die die besten Folgen für alle Betroffenen haben wird. Dabei liegt eine besondere Akzentuierung auf den Begriff der Handlungsfolgen, insofern sie es sind, nach denen der Utilitarist seine Taten ausrichtet. Er geht damit auch klammheimlich bereits davon aus, dass die Folgen von Handlungen tatsächlich vorhergesehen werden können. Eben dies bezweifeln Utilitarismuskritiker aber vielfach und halten den Utilitarismus deshalb, selbst wenn er theoretisch stark sein sollte, für unpraktikabel. Denn wenn zukünftige Handlungsfolgen noch nicht im vornerein gewusst werden können, können wir natürlich auch nicht unsere Handlungspraxis nach ihnen ausrichten.
In der Literatur finden sich verschiedene Ansätze, die diesen Kritikpunkt aufgreifen: (1) Jack Nasher beispielsweise theoretisiert auf physikalischer Ebene, dass vor dem Hintergrund eines chaotisch-deterministischen Universums „ein übernatürliches Wesen von der Natur des Laplace´schen Dämons vonnöten“[1] wäre, um Handlungsfolgen vorhersehen zu können. Und damit nicht genug, in der modernen Physik wird
das Universum als nicht-deterministisch angenommen, was nicht weniger heißt, als dass zukünftige Folgen von Handlungen nicht nur praktisch, sondern prinzipiell aprognostizierbar sein sollen. (2)
Der US-amerikanische Philosoph Daniel
Denett wählt einen illustrativeren, handhabbareren Argumentationsweg[2]: Am 28. März 1979 ereignete sich ein Kernschmelzunfall im Atomkraftkerk „Three Mile Island“ im US-Bundesstaat
Pennsylvania, der letzten Endes relativ glimpflich verlaufen ist. Denett konstantiert nun, dass es vor dem Ereignis unmöglich gewesen sei, dieses mit einem utilitaristischen Wert zu belegen. Wenn
beispielsweise die Mitarbeiter etwas aus ihren Fehlern gelernt haben und der Unfall sowieso passiert wäre, wäre es begrüßenswert, dass er sich jetzt so glimpflich
und nicht wann andersmal ereignet hat. Aber wer weiß so etwas schon im Voraus?
Beide Beispiele zeigen, dass, welche Folgen eine Handlung mit sich bringen wird, zumindest nie zu hundert Prozent orakelt werden kann. Dies ist das Hauptproblem mit den
Handlungskonsequenzen und trifft, wie der Terminus bereits erahnen lässt, jede konsequentialistische Moraltheorie in ihren fundamentalen Grundannahmen. Auch der Egoismus findet beispielsweise seine Grenzen darin, dass sich nicht immer
exakt sagen lässt, welche Handlungen die besten Folgen für einen selbst nach sich ziehen würden. Beim Utilitarismus stellt sich das Problem mit der Folgenabschätzung mit einem nochmals größerem
Nachdruck, da dieser bestenfalls alle Konsequenzen für alle irgendwie tangierten Menschen, oder gar Lebewesen, miteinkalkulieren möchte, bevor er sich für eine explizite Handlung
entscheidet. Da aber niemand eine solche universale Folgenabschätzung zu leisten imstande ist, würde der Utilitarist kognitiv überfordert und schlimmstenfalls von seinem eigenen Anspruch als
handelnder Mensch gelähmt werden - so zumindest sehen es die Utilitarismusgegner. Und prima facie scheint diese Beanstandung ja auch gleichermaßen berechtigt und beträchtlich zu sein. Jedoch hält
sie keinen zweiten, kritischerem Blick stand und wird sich, wie wir sehen werden, als ein Paradebeispiel für meine Anfangsthese entpuppen.
„Den Utilitarismus“ gibt es erstmal freilich nicht. Die Prämisse, dass der Utilitarist wirklich immer alle Folgen jeder Handlung kennen muss, trifft auch nur auf den Handlungsutilitarismus zu - und so auch der Kritikpunkt. Der Regelutilitarismus hingegen fragt nach den Handlungsregeln, die, bei allgemeiner Befolgung, die größtmögliche Nutzensumme erzielen würden. Wenn nun beispielsweise eine Person am Zugticketschalter nicht betrügt, so ist das regelutilitaristisch sicher richtig, weil es den utilitaristischen Gesamtnutzen mehr mehren würde, wenn niemand betrügen würde, als wenn jeder betrügen würde. Es wäre selbst dann noch regelutilitaristisch richtig, wenn das ehrliche Handeln der Person in diesem konkreten Fall über ein paar, unumsehbare Ecken den Sturz einer alten Dame nach sich ziehen und in Folge mehr Leid als Glück erzeugen würde. Denn es geht im Regelutilitarismus um die langfristige Glücksbilanz von allgemeinen Regeln, nicht um konkrete Einzelsituationen. Und ob eine Regel wie „du sollst nicht betrügen“ letztendlich dazu tendiert, eher Nutzen oder eher Unnutzen zu stiften, lässt sich meistens ziemlich gut sagen. Es mag Situationen geben, in denen es utilitaristisch besser wäre, zu betrügen, aber das sind statische Ausnahmefälle und in der Regel ist es für uns alle sicher besser, wenn keiner betrügen würde, als wie wenn alle betrügen würden. Wenn wir die Folgen von Regeln für eine Gesellschaft gar nicht abschätzen könnten, wären staatliche oder sittliche Gesetze auch unbrauchbar.
Und wenn für uns die Folgen von Handlungen vollkommen im Dunkeln lägen, wären wir gar nicht in der Lage sinnvoll Absichten mit unseren
Handlungen zu verknüpfen und vollkommen orientierungslos im alltäglichen Handeln. Wir verfolgen aber Absichten mit unseren Handlungen, oft sogar sehr erfolgreich, und orientierungslos sind wir im
Alltag auch nicht. Dies zeigt, dass wir vielleicht nicht die chaotischen Auswirkungen eines Schmetterlingflügelschlages, der ein Sturm auslösen kann,
sehen, doch zumindest aber die räumlich und zeitlich unmittelbaren. Wenn der Handlungsutilitarismus nicht mehr verlangt als das, ist sogar er ohne weiteres
praktikabel.
Skeptiker hacken an diesem Punkt ein und wenden ein, dass selbst wenn wir die Folgen von Handlungen zuverlässig abschätzen könnten, wir damit noch lange nicht aus dem Schneider wären. Denn dann ständen immer noch die Fragen offen, welche Folgen die glückbringendsten wären und wer wir sind, diese Frage stellvertretend für alle Anderen mitbeantworten zu wollen. Einfache Beispiele scheinen nämlich bereits zu zeigen, dass individuelle Glückszustände inkommensurabel bzw. nicht aggregierbar sind: Nehmen wir an, Sie seien der Bundeskanzler Deutschlands. Als dieser haben Sie die Macht, die Wirtschaftspolitik in einem liberaleren oder sozialdemokratischeren Sinne zu gestalten. Mit einer liberaleren Politik würde Sie den Bürger Freiheiten und Möglichkeiten ermöglichen, wohingegen die Entscheidung zu einer sozialdemokratische Politik soziale Sicherheit verspricht. Mit beiden Entscheidungen gehen also unterschiedliche Glückszustände einher und es scheint unmöglich, ein für alle Mal auszumachen, ob der Glückszustand der Freiheit nun mehr oder weniger aufwiegt als der der Sicherheit. Weiterhin scheint es aber auch genau dies zu sein, was die Utilitaristen versuchen. Ihre Moraltheorie erwächst geradezu aus dem Gedanken, dass die unterschiedlichen Glücks- und Unglückszustände von Individuen interpersonal vergleichbar sind und sich vernünftig gegeneinander aufrechnen lassen. Diese Annahme bemängeln ihre Kritiker als fehlerhaft.
Doch ist sie dies tatsächlich? In der empirischen Glücksforschung hat man schon länger erkannt, dass Beobachtungen oder
objektive Lebensumstände keine guten Methoden sind, um das Glück von Menschen zu quantifizieren. Durch Befragungen über das eigene subjektive Wohlbefinden lassen sich aber ganz gute Metadaten
darüber gewinnen, welche z.B. gesellschaftlichen Umstände die Menschen tendenziell glücklicher machen als andere. Aufgrund dieser Metadaten und im Geiste des Regelutilitarismus kann man dann
festmachen, welche (etwa gesellschaftlichen) Regeln bei allgemeiner Befolgung das größte Gesamtglück hervorrufen würden. Auf
diesem Wege erleichtert uns der Regelutilitarismus einerseits den Vergleich von Glückszuständen, denn für ein individuelles Abwägen zwischen Glückszuständen, welches der Handlungsutilitarist
einfordert, helfen uns allgemeine Metadaten nicht. Andererseits erschwert er sie uns aber auch: Mill führte mit der qualitativen Dimension von Glückszuständen freilich ein nur schwer zu
erfassendes Element ein.[3]
Der Utilitarismus ist in dem Sinne egalitär, in dem er uns auffordert, die Dinge von einem unparteiischen und unpersönlichen Standpunkt aus abzuwägen. Das eigene Glück oder das Glück einer geliebten Person sollten nicht mehr wiegen als das Glück eines Fremden. Das führt, nach den Kritikern des Utilitarismus, zu harten Konsequenzen: (1) Da bereits eine kleine Geldsumme in der Regel mehr Glück bei Obdachlosen als bei uns zu stiften vermag, sollten wir in Zukunft nur noch das Nötigste für uns selbst ausgeben und den Rest spenden. Dies ist das Prinzip der Unparteilichkeit gegenüber der eigenen Person, es verlangt eine große Aufopferungsbereitschaft, gerade von relativ bessergestellten Personen. Von ihm kann (2) das Prinzip der Unparteilichkeit gegenüber uns nahestehenden Personen unterschieden werden. Eine Geldsumme kann - in einem utilitaristischen Sinne – auch gewinnbringender investiert werden, als in ein Essen mit der Freundin, etwa in Form einer Spende für Flüchtlinge. Weil der Utilitarismus von uns nun absolute Unvoreingenommenheit fordert und wenn die Spende tatsächlich mehr Nutzen bringt, sollten wir unsere Zeit und monetären Mittel auch lieber in Flüchtlingshilfe stecken, als in unsere Partnerschaften.
Diese beiden Konsequenzen sind nicht neu und auch nicht nur hypothetisch zu verstehen. Mill schreibt selbst: „Der Utilitarismus fordert von jedem Handelnden,
zwischen seinem eigenen Glück und dem der anderen mit ebenso strenger Unparteilichkeit zu entscheiden wie ein unbeteiligter und wohlwollender Zuschauer.“[4] Und der zeitgenössische Utilitarist Peter Singer meint gar: "Kein Zweifel, wir bevorzugen es instinktiv, denjenigen zu helfen, die uns nahe stehen. Nur Wenige könnten einem
Kind beim Ertrinken zusehen; aber viele schaffen es die vermeidbaren Kindstode in Afrika oder Indien zu ignorieren. Die Frage sollte indes nicht sein, was wir tun, sondern was wir tun sollten und
es ist sehr schwer eine moralische Rechtfertigung für den Standpunkt zu finden, dass Distanzen oder Mitgliedschaften einen entscheidenden Unterschied bei unseren moralischen Verpflichtungen
machen sollten."[5] Wenn es nach Singer ginge, sollte eine Person - im moralischen Bestfall - spenden, bis sie den Punkt erreicht hat, ab dem jede weitere Spende mehr Schaden bei ihr, als Gutes
beim Empfänger erzeugen würde. Bis dieser Punkt erreicht ist muss der Spender aber nicht nur etliche persönliche Aufopferungen auf sich nehmen, sondern wie wir gesehen haben auch Vieles tun, was
selbst im moralischen Sinne falsch zu sein scheint. Pathetisch könnte man sonach fragen, ob wir nicht gerade dann unsere Menschlichkeit und Moral verlieren,
wenn wir eher einem Unbekannten ein bisschen mehr Glück bescheren als der Geliebten einen schönen Abend zu zweit?
Diese knifflige Frage soll jeder für sich selbst beantworten, entscheidender für uns ist zu wissen, ob die Unparteilichkeitsprinzipien wirklich so kategorisch aus
dem Utilitarismus folgen. Es gibt gute Gründe, dies zu bezweifeln:
Dieser vierte Punkt trifft primär auf eine regelutilitaristische Sicht der Dinge zu, weil nur diese bedenkt, wie sich ein Verhalten regel- und dauerhaft auf das Gesamtglück einer Personengruppe auswirken würde. Aus allen vier Punkten geht hervor, dass selbst für einen hartgesottenen Utilitaristen, für den das Wohlergehen jeder Person gleichviel zählt, Parteilichkeit im Verhalten bis zu einem gewissen Grad erlaubt, ja sogar geboten ist, weil sich so die utilitaristisch besten Ergebnisse erzielen lassen.
Ein weiterer Vorwurf, der dem Utilitarismus oft gemacht wird, ist der des Wertmonismus. Der Utilitarismus würde sich vollkommen auf den Glücksaspekt versteifen und so alle anderen Aspekte außer Acht lassen, oder zumindest auf diesen singulären Endzweck reduzieren. Auf Benthams Utilitarismus trifft dieser Vorwurf unbezweifelbar zu. Dieser geht noch von einem rein hedonistischen Menschenbild aus, in dem der Mensch nur durch die zwei Zustände Lust und Leid bestimmt ist[7]. Da der Mensch stets nach der Maximierung von Lust bzw. nach der Vermeidung von Leid strebe, sei eine Handlung in dem Maße gut, wie sie freudbringende Erlebnisse fördert und leidbringende Erlebnisse mindert. Hierbei rechnet Bentham Lust und Leid rein quantitativ miteinander auf, eine qualitative Differenzierung verschiedener Arten von Lust bzw. Leid nimmt er nicht vor. Was bspw. dazu führt, dass eine banale Schlammschlacht in seinen Augen genauso wertvoll sein kann, wie die Lektüre eines guten Gedichtes. Folglich ist der Vorwurf des Wertmonismus beim quantitativen Hedonismus Benthams sicher gerechtfertigt. Nicht gerechtfertigt ist der Vorwurf aber, wie der Name bereits erahnen lässt, beim qualitativen Hedonismus Mills. John Stuart Mill unterscheidet Freuden nicht nur rein quantitativ, sondern auch auf qualitativer Ebene. Er macht das am Beispiel von Mensch und Tier und den Begriffen Zufriedenheit und Glück deutlich: Ein Tier oder ein Narr haben nur wenige Bedürfnisse und sind deshalb schnell zufriedenzustellen. So braucht beispielsweise ein Schwein keine Erziehung in Kunst und Wissenschaft, um zufrieden zu sein, der Mensch hingegen schon. Dem Schwein genügt Futter, Sexualität und Schlaf und weil es so wenige Bedürfnisse hat, ist es selbstverständlich auch schnell zufrieden - aber nach Mill noch lange nicht glücklich! Denn zum Glück gehört etwa die Fähigkeit, sich mit der Unvollkommenheit des Glücks abfinden zu können und diese Fähigkeit ist dem Schwein nicht gegeben. Der Mensch hingegen kann seine Unvollkommenheit erkennen, aber nie ganz zufriedengestellt werden, weil er zu hochgesteckte Bedürfnisse hat. Nachdem Mill auf diese Weiße körperliche, zufriedenstellende Freuden und geistige, glückstiftende Genüsse gegenübergestellt hat, konstatiert er für sich, dass die geistigen Genüsse höher zu bewerten seien als die körperlichen. Daraus folgt dann auch sein berühmtgewordener Ausspruch: „Es ist besser ein unzufriedener Mensch als ein zufriedenes Schwein zu sein; lieber ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedener Dummkopf sein.“[8]
Mit Verweis auf die Anfangsthese konnte hiermit gezeigt werden, dass die enge These des Wertmonismus, also dass der Utilitarismus nur einen Wert
kennen würde, nicht auf den millschen Utilitarismus zutrifft. Der Regelutilitarismus ist eindeutig wertpluralistisch.
Wie aber verhält es sich mit der weiten These des Wertmonismus, dass der Utilitarismus wichtige Werte wie Freiheit, Gerechtigkeit, Tugendhaftigkeit, Gleichheit, Wahrheit, Individualität oder Menschenwürde außenvorlasse? Diese These ist a priori nicht von der Hand zu weißen und trifft, wie ich zugestehe, auch zu Teilen auf den Utilitarismus zu, was dazu führt, dass dieser uns teilweise zu Handlungen und Normen rät, die die Mehrheit der Menschen als unmoralisch bewerten würden.[9] Andere Ethiker, gerade Regelutilitaristen, sehen das anders als ich und meinen, dass bei kontraintuitiv erscheinenden Handlungsvorschriften seitens des Utilitarismus (a) unsere moralische Intuition schlichtweg falsch liegt und am Glücksmaximierungsprinzip festzuhalten sei, oder (b) die Situation nur oberflächlich durchdacht wurde und bei einer eindringlicheren Abwägung aller direkten und indirekten, unmittelbaren und fernen Konsequenzen eine utilitaristische Handlungsweisung herauskommen müsse, die mit unserer Intuition im Einklang steht. Smart betont beispielsweise, dass viele intuitiv wichtige und tradierte Wertvorstellungen in der Tat utilitaristisch brauchbar seien, da ihre Befolgung im Allgemeinen und auf langer Sicht zu einer Nutzenmaximierung führe. Außerdem gibt es auch einen idealistischen Utilitarismus, der im Gegensatz zum hedonistischen Utilitarismus auf direktem Wege Werte wie Schönheit oder Liebe einfordert. Bei der Auflistung all dieser verschiedenen Ausprägungen dürfte auch deutlich werden, dass der Utilitarismus als Oberbegriff keineswegs wertmonistisch sein kann, sondern vielmehr vielzählige Werte besitzt: Der Präferenzutilitarismus bezieht beispielsweise auch die eigenen Interessen mit ein und genaugenommen kennt schon Benthams Regelutilitarismus, mit der Vermehrung von Freude (positiver Utilitarismus) und der Vermeidung von Leid (negativer Utilitarismus), mehr als nur einen Wert.
Im Folgenden wollen wir uns zwei Werten zuwenden, die dem (Regel-)Utilitarismus zu Unrecht abgesprochen werden.
Der erste Wert ist der der Gerechtigkeit durch Gleichbehandlung. John Rawls ist der bekannteste Vertreter der These, dass der Utilitarismus diesen Wert missachte[10]. In der zeitgenössischen Utilitarismuskritik wurden vor allem McCloskey und sein Sheriffbeispiel[11] für jene These bekannt. Der Kern dieses Kritikpunktes lässt sich aber auch an einem einfachen Beispiel illustrieren: Stellen Sie sich vor, Sie wären Chefarzt einer Klinik und hätten 5 Patienten bei sich, die alle dringend ein je anderes Organ bräuchten, um überleben zu können. In Ihrem Wartezimmer sitzt derweil ein, bis auf einen Schnupfen, quickfideler Mann, den Sie umbringen und seine Organe entnehmen, und somit die 5 Menschenleben retten könnten. Der Utilitarismus würde jetzt, so zumindest der Kritikpunkt, es geradezu befehligen, den Mann umzubringen, weil die fünf dadurch zu rettenden Menschenleben sicher mehr Glück aufwiegen, als das eine geopferte. Verfechter dieses Kritikpunktes übersehen aber, dass der Regelutilitarismus auch die weitreichenderen Konsequenzen der allgemeinen Befolgung einer Handlungsmaxime miteinbezieht. Wenn nun mehrere Doktoren so kaltkalkuliert agieren würden, würde die Bevölkerung das Vertrauen in den gesamten Berufsstand verlieren und gar nicht mehr zum Doktor gehen. Das wiederum würde das kollektive Glück drastisch absenken, wenn niemand mehr den Ärzten vertrauen würde, und deshalb kann, wie hier exemplarisch gezeigt wurde, eine krasse Ungerechtigkeits- bzw. Ungleichbehandlung nicht im Sinne eines Utilitarismus liegen.
Dieser einfache Gedankengang lässt sich auf nahezu alle Kritiken der weiten, wertmonistischen These übertragen. Und zwar wie folgt: Ein Handeln und Entscheiden, das aufsummiert in einer unfreien, ungerechten, untugendhaften oder unmenschenwürdigen Gesellschaft resultieren würde, kann regelutilitaristisch nicht richtig sein. Ein bestimmter Aspekt der Kritik aus der weiten, wertmonistischen These kann so aber nicht abgewehrt werden. Ihm gilt der nächste Abschnitt.
An zweiter Stelle wollen wir uns dem Wert der Wahrheit zuwenden, und damit der Frage, ob der Utilitarismus das Lügen erlauben kann. Die Kernkritik lässt sich wieder an einem Beispiel verdeutlichen: Ein ranghoher Politiker steht unter Eid vor Gericht. Er ist jedoch nicht selbst angeklagt, sondern soll als Zeuge zu einem Jahre alten Fall aussagen. Nachdem er einige Fragen wahrheitsgemäß beantwortet hat, wird er gefragt, was er an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Uhrzeit getan hat. Der Politiker erinnert sich, dass er ausgerechnet an jenem Tag seine Frau betrogen hat. Er hatte damals beschlossen, niemanden etwas zu sagen und seine Frau nie wieder zu betrügen. Daran hat er sich auch bis heute gehalten. Doch nun steht er vor der Entscheidung: Sagt er wahrheitsgemäß aus und riskiert damit, dass sich seine Frau nach all den glücklichen Jahren von ihm scheiden lässt, oder lügt er unter Eid und gibt vor, um die Zeit etwas anderes getan zu haben? Eine gängige Intuition ist, dass der Politiker die Wahrheit sagen muss, etwa, weil es in keinem Fall richtig sein kann, zu Lügen. Der Utilitarismus aber scheint dem Politiker entgegen dieser Intuition anzuweisen, unter Eid zu lügen, wenn das den Prozessverlauf nicht definitiv ändert und ihm und seiner Frau viel Leid erspart. Verleitet uns der Utilitarismus hier also zur einer moralisch inkorrekten Handlung?
Nein-, glauben viele Utilitaristen und argumentieren gemeinhin, dass der Utilitarismus keine Lügen erlauben könne, da solche ein ungutes Gefühl und somit eine Minderung des Glücks nach sich ziehen.[12] Doch diese Erwiderung ist schwach, denn es ist sehr gut vorstellbar, dass der Politiker oder viele andere Personen in anderen Situationen durch ihre Lügen so viel Glück erzeugen können, dass dieses das bisschen Unglück, das beim Lügen entsteht, locker überkompensiert.
Es existieren zwei viel stärkere Erwiderungen: (1) Der Regelutilitarismus kann auch in Ausnahmefällen keine Lügen tolerieren, denn wenn jeder in Ausnahmefällen lügen würde, würde dies das Vertrauen der Menschen untereinander unterminieren. Vertrauen ist aber wichtig für ein gutes und glückliches Miteinander, weshalb in keinem Fall gelogen werden darf. (2) Ein einmaliges Lügen kann einen Präzedenzfall darstellen, beim nächsten Mal Lügen ist die Hemmschwelle bereits niedriger und irgendwann lügt man schon aus Bequemlichkeit. Was zu einer dauernd lügenden und somit zutiefst misstrauischen und unglücklichen Gesellschaft führt, deshalb soll man den Anfängen wehren und gar nicht erst anfangen etwas zu sagen, was nicht der Wahrheit entspricht.
Der letzte Punkt im Hauptteil dieser Hausarbeit hat nichts direkt mit den Vorteilen des Regelutitarismus gegenüber dem Handlungsutlitarismus zu tun. Er darf aber gleichwohl in keiner Hausarbeit fehlen, die den Titel „Kritik am Utilitarismus“ trägt. Es handelt sich um den oft an den Utilitarismus angeführten Kritikpunkt, dass Mill im vierten Kapitel seines Utilitarismus metaethischen Fehlschlüssen unterliegt: (1) In einem ersten Schritt konstatiert Mill zunächst, dass jeder Mensch augenscheinlich nach seinem eigenen Glück strebe. (2) Hieraus zieht Mill die reduktive Conclusio, dass Glück vom Einzelnen nicht nur gewünscht wird, sondern auch wünschenswert in einem moralisch-abstrakten Sinne sei. (3) Schließlich möchte Mill den Utilitarismus mit der Feststellung untermauern, dass das Vermehren vom kollektiven Glück moralisch wünschenswert sei.
Kritiken an jenen Begründungsansätzen sind nun von besonderer Brisanz, attackieren sie doch nicht nur singuläre Aussagen des Utilitarismus, sondern versuchen gleich
sein gesamtes Fundament zu unterminieren. Ein solcher Kritiker war Georg Edward Moore, der Mill unterstellte, er begehe von (1) auf (2) einen Sein-Sollen-Fehlschluss, indem er von einem Faktum
(Glück wird angestrebt) auf eine Norm (Glück ist erstrebenswert) schließt. Möglicherweise, so mutmaßt Moore, fällt Mill dabei auf eine irreführende Analogie in der englischen Sprache herein. Denn
das englische „desirable“ (erstrebenswert) scheint ja ganz ähnlich aufgebaut zu sein wie das Adjektiv „visible“ (sichtbar), das sich aus dem Umstand heraus ableiten lässt, dass etwas gesehen
wird. Warum sollte dann nicht auch, dass etwas erstrebenswert ist, aus dem Umstand ableitbar sein, dass es erstrebt wird? Die Antwort ist einfach: Weil „erstrebenswert“ ein normativer
Begriff ist und sich solche, wie Moore selbst gezeigt hatte, nicht aus bloß deskriptiven Begriffen ableiten lassen. Mills Fehlschluss hat also die Form: (P1) A ist Q bzw. Glück ist
Erstrebtes. Also: (K) A ist gut bzw. Glück ist gut. Dies ist einerseits ein gravierender Fehler, der sich andererseits jedoch kinderleicht beheben lässt, indem man die Prämisse (P0) Q
ist gut bzw. Erstrebtes ist gut voranstellt. Denn, wenn: (P0) Erstrebtes gut ist und (P1) Glück erstrebt wird, dann (K) ist Glück gut. John Stuart Mill postuliert (P0) zugegeben an keiner
Stelle explizit, wir könnten aber davon ausgehen, dass er implizit von ihr ausgegangen ist und ihn somit vor dem Sein-Sollen-Fehschluss bewahren. Rein formal wäre sein berühmter Beweis damit gerettet, inhaltlich haben wir ihm indes neben einer
allein schon fragwürdigen Prämisse P1 (Wird Glück wirklich ausnahmslos erstrebt? Wie steht es mit Asketen? Oder Masochisten) noch eine zweite fragwürdige Prämisse P0 (Ist Erstrebtes
wirklich immer gut? Erstreben manche Menschen nicht auch furchtbar schlechte Dinge?) eingebrockt.[13]
Wie eingangs erwähnt, findet die utilitaristische Theorie seit jeher zahlreiche Kritiker - und wächst an diesen. Diese Entwicklung war mit Mill natürlich nicht beendet, sondern schreitet bis heute fort. Gegenwärtig kennt der Diskurs so enorm viele Kritikpunkte und Utilitarismustypen, dass es schwer scheint, alle zu überblicken, und unmöglich, sie in einem fünfzehnseitigen Aufsatz darzustellen. Sinn und Zweck dieses Aufsatzes war es deshalb allein, aufzuzeigen, wie wehrhaft der Utilitarismus in Form des Regelutilitarismus gegenüber viele populäre Beanstandungen sein kann. Ausgelassen wurden dabei Kritiken, denen auch der Regelutilitarismus nichts entgegnen kann, sowie andere Utilitarismusansätze wie der zurzeit sehr populäre Präferenztulitarismus.
[2]. Denett, Daniel (1995), Darwins gefährliches Erbe
[3]. Nasher, Jack (2009), Die Moral des Glücks
[4]. Mill, John Stuart Mill (1861), Der Utilitarismus
[5]. Singer, Peter (2011), Praktische Ethik
[6]. vgl. Eintrag „Konsistenz des Verhaltens“ im Lexikon der Psychologie (2014)
[7]. Utilitarismuseintrag der Philopedia, ein Projekt der Universität Potsdam
[8]. Mill, John Stuart Mill (1861), Der Utilitarismus
[9]. Vgl. z.B. Derek Parfits Argument der „widrigen Schlussfolgerung“
[10]. Rawls, John (1971), Eine Theorie der Gerechtigkeit
[11]. McCloskey, H.J (1957) An Examination of Restricted Utilitarianism
[12]. Bernard Williams (2007), über Nebenwirkungen und Integritätsverlust im Utilitarismus
[13]. Hübner, Dietmar (2014), Einführung in die philosophische Ethik
tsSLAueP (Mittwoch, 15 November 2023 17:33)
1
Rudolph (Mittwoch, 22 Dezember 2021 12:05)
Danke für deine Arbeit, ich habe sie gerne gelesen.
Sie gibt einen guten und kurzen Überblick auf die Hauptkritikpunkte am klassischen Utilitarismus.
Leider ist sie an ein paar Stellen ein wenig zu abgekürzt.
Es fehlen Begriffsdefinitionen ('konsequenzialistisch', beispielsweise)
Das Beispiel mit dem Kernkraftwerk bleibt für mich unklar.
Auf Seite 10 Unten verwechselst du Regel - und Handlungsutilitarismus, was schade ist, da du ja genau auf diese wichtige Trennung hinweisen möchtest.
Schade ist auch, dass du bei den Beispielen ein sehr kolonialistisches Bild von 'Afrika' zeichnest, welches aus utilitaristischer Sicht sicher nicht immerwieder reproduziert werden solltest.
Auch reproduzierst du ein heteronormatives, patriarchales Verständnis von Liebesbeziehungen, was für dich Stimmen mag aber ebenfalls zu viel Leid geführt hat und immernoch führt.
Supertoll wäre natürlich, wenn du das für zukünftige Leser*innen anpassen würdest, obwohl die Arbeit schon ein paar Jahre alt ist.
Danke für deine Arbeit.
Lg Rudolph
Tod (Montag, 10 September 2018 07:35)
Der Gründer des Utilitarismus war Jeremy Bentham. Er vergleichte “Nutzen” mit “Genuß” und sah die Hauptbestimmung der Moral darin, dass sie die Menschen orientieren muss, das Leiden zur Seite gehen muss und den Genuß fühlen muss. http://www.infotaste.com/kritik-des-utilitarismus/
Peter (Montag, 10 September 2018 07:33)
Der Utilitarismus ist eine Richtung in der Ethik, die der Nutzen als die Grundlage der Moral repräsentiert.
WissensWert (Sonntag, 20 Mai 2018 01:35)
Moreover, utilitarism presupposes psychological hedonism, that the only thing that we desire as good in itself is pleasure and the only thing that is bad itself is pain. But as Robert Nozick pointed out via his Experience Machine thought experiment, we in fact want more tha experiences of pleasure. We want tob e a certain kind of person, to actually do activities in the world, and to experience not just a wking drwam but reality (Nozick, 1974). To actually be an Olympic athlete a wonderful friend, or a world-class scientist is better than merely to hace allt he same subjektive experiences of an Olympic athlete, a wonderful friend, or a world-class scientist. If we would prefer to have ´both´ the subjective experiences ´and´ the objektive reality of being a great athlete, firend, and scientist, the hedonism´s claim that we only desire the subjective experience of pleausre is false. If hedonism is false, then utilitarism is unjustified.