Damit Monotheisten einen Anspruch erheben können, etwas zur Grundlage oder Begründung der Moral liefern zu können, müssten sie folgende Probleme lösen:
1. Gott als Grundlage der Moral kann als Begründung nie besser sein als der Beweis seiner Existenz. Wie wir noch sehen werden, steht es um einen Beleg seiner Existenz allerdings sehr, sehr schlecht [1].
2. Euthyphrons Dilemma: Solange dieses Problem - das übrigens älter ist als das Christentum - nicht gelöst ist, ist die Behauptung, Gott sei die Grundlage aller (oder einer) Moral, absurd.
3. Damit Gott die Grundlage einer guten Moral sein kann, muss man beweisen, dass er selbst gut ist. Dies scheitert an einem dritten ungelösten Problem, über das noch zu reden sein wird: dem Theodizeeproblem. Kurz gesagt, angesichts des Leids in der Welt mussman an der Güte eines Schöpfergottes, falls er existiert, stark zweifeln.
4. Angesichts der Tatsache, dass monotheistische Moral sehr verschieden ausfällt, muss man doch stark bezweifeln, dass die Theologen von einer göttlichen Moral reden. Vielmehr gibt es Beweise dafür, dass sie ihre eigene, egoistische Moral als die eines Gottes ausgeben, der nicht existiert. Um sich einen unfairen Vorteil zu ihren Gunsten zu erschleichen. Siehe dazu den vorigen Abschnitt. Kurz, wir haben keine Beweise dafür, dass Theologen über göttliche Moral reden, aber sehr wohl Beweise dafür, dass sie ihre eigene Meinung dadurch zu stärken versuchen, dass sie die als »die Moral Gottes« ausgeben.
5. Eine moralische Begründung aufgrund von Naturrecht, wie es die katholische Kirche versucht, ist aufgrund eines von David Hume aufgeworfenen Problems zurückzuweisen. Gemeint ist hier der naturalistische Fehlschluss , über den noch zu reden ist.
6. Eine offenbarte Moral scheitert an den Problemen der Offenbarung selbst. Davon ist beispielsweise hier die Rede: Die Offenbarung Gottes. Kurz gesagt: Wenn Gott will, dass ich nach einer bestimmten Moral leben soll, muss er selbst es mir sagen – und nicht Du!
7. Wenn diese Probleme alle gelöst sind, dann erst können wir anfangen , darüber zu verhandeln, ob wir zugunsten eines kosmischen Aliens unsere moralische Autonomie aufgeben. Denn eigentlich ist die Voraussetzung aller Moral die Tatsache, dass als moralisch autonome Subjekte darüber entscheiden.
8. Gott taugt nicht als Rollenmodell. Wenn man die Macht hat, einzugreifen, ist es moralisch falsch, bei einem Mord oder einer Vergewaltigung zu sagen: Ich lasse den Täter gewähren und bestrafe ihn dann dafür später.
Aber: Eine von einer obersten Autorität vorgegebene Moral kollidiert mit unserer moralischen Autonomie, die aber die Grundlage einer jeglichen Moral wäre.
Eigentlich basiert die monotheistische, theologische Moral auf einem völlig falschen Verständnis von dem, was mit Moral eigentlich gemeint ist. Moral ist die Einigung autonomer Subjekte, wie sie untereinander ihre Konflikte und Probleme lösen wollen. Darin kann sich keine außerirdische Macht, nicht einmal die außerstaatliche Macht des Vatikans, einmischen. Man kann Ratschläge geben, aber das war es auch schon. Eine verbindliche Moral, vergeben von Gruppen, die nicht von dieser Moral betroffen sind, kann und darf es nicht geben.
Solange also von den oben skizzierten Problemen keines gelöst ist, kann ein Theologe – und sei er der Papst selbst – nicht mehr als unverbindliche Ratschläge geben, wie man die Schwierigkeiten des Zusammenlebens lösen könnte. Inzwischen behandeln die meisten in westlichen Industrienationen lebenden Christen kirchliche Moralvorstellungen auch als unverbindliche Empfehlungen. Das ist, auch wenn die Kirchen das anders sehen, ein moralischer Fortschritt.
Hinzu kommt noch eine Sache: Alle religiösen Versuche zur Lösung moralischer Probleme sind in der Vergangenheit schon über Jahrtausende gescheitert. Die Moral war früher - siehe Kreuzzüge, Zwangsbekehrung, Judenverfolgung, Ketzerverbrennungen, Hexenverfolgung, Todesstrafe und Folter, Kindesmissbrauch, Sklaverei, Stellung der Frau, Legitimation der Erbmonarchie etc. pp. – nicht besser als heute, im Gegenteil. Etwas wieder und wieder zu versuchen in der Hoffnung, dass es beim nächsten Mal besser ausgeht, entspricht schon der Definition von Dummheit.
Dann gibt es noch ein weiteres Problem: Es gibt keine Beweise dafür,
dass sich die Anhänger einer Religion im Durchschnitt besser betragen als die Anhänger anderer oder keiner Religion. Es wird versucht, den Eindruck zu erwecken, es sei anders. Aber, das beruht
darauf, nicht vergleichbare Einzelfälle miteinander zu kontrastieren.
Der Trick ist immer derselbe: Man bewerte die besten, vorbildlichsten Ausnahmen der eigenen Gruppe und vergleiche
diese mit den schrecklichsten Beispielen, die man in der Vergleichsgruppe findet. Schon hat man einen Scheinheiligenschein, mit dem man die Leute blenden kann.
Beispiel: Man nehme MUTTER THERESA, FRANZISKUS (nicht den jetzigen
Papst), MAXIMILIAN KOLBE, MAHATMA GANDHI und vergleiche sie als Gläubige mit den bösartigsten Atheisten, die man finden kann, also etwa ADOLF HITLER, STALIN, MAO und POL POT. Natürlich, es wird
ein wenig getrickst, weil GANDHI ein Hindu war und HITLER ein Katholik und die Nazis überwiegend Christen, siehe [Steigmann-Gall 2004], und STALIN vermutlich (sagt seine Tochter, siehe [Schad 2005]) auch ein gläubiger Theist, aber alles ist
erlaubt bei Theologen. Hauptsache, man kann ohne Beweise seine ideologischen Gegner verleumden.
Man könnte diesen Trick auch umdrehen und beispielsweise katholische Massenmörder wie ANTE PAVELIC (siehe Wikipedia-Eintrag) mit atheistischen Philanthropen wie z. B. BILL GATES vergleichen - nur sind Atheisten oft zu fair, um diesen Trick zu kopieren. Tun sie es doch, beschweren sich auch die Gläubigen zu Recht.
Es gibt aber keine Beweise dafür, dass sich Gläubige im Durchschnitt besser verhalten als Ungläubige. Mehr als die pure Behauptung der Theologen, dass Atheismus zu irgendwelchen Verbrechen führt, haben wir nicht. Die Tatsachen deuten nicht darauf hin. Man kann das mit Fug und Recht als »gewöhnliche theologische Beleidigung und Tatsachenverdrehung« bezeichnen, wobei wegen der erdrückenden Belege gegen eine solche These inzwischen viele Theologen vorsichtiger geworden sind.
Man sollte sich weder als Gläubiger noch als Atheist von den Theologen bluffen lassen. Theologische Moral ist die Achillesferse der organisierten christlichen Religion, was man symptomatisch durchaus am sexuellen Missbrauch in der Kirche ablesen kann. Hat sich der katholische Klerus hier besser verhalten als die Mitglieder anderer Organisationen? Eher nicht.
Die schlimmsten und grausamsten Verbrechen der aufgezeichneten Geschichte wurden unter dem Deckmantel der Religion oder anderen edlen Motiven begangen.
Im Monotheismus wird die Moral als etwas hingestellt, was von einem außerirdischen nicht menschlichen Wesen den Sterblichen als Gebote aufgegeben wird. Man könnte es eine Führermoral nennen, ihre Vermittlung erfolgt autoritär. Berufung auf eine Ethik des Handelns ist folglich eine Bestimmung durch eine (fremde) Autorität.
Heutzutage wird das zum großen Teil abgelehnt. Die Nazis haben sich in den Nürnberger Prozessen ebenfalls auf eine autoritäre Moral berufen. Der Führen hat es befohlen, wir haben es nur ausgeführt – daher sind wir auch nicht verantwortlich für die Folgen. Richtig daran ist, dass man für die Konsequenzen einer Handlung nur dann verantwortlich gemacht werden kann, wenn diese auf einer autonomen Entscheidung beruht.
Aber – und das wurde den Nazis zum Verhängnis – die Entschließung, seine Verantwortung zu delegieren, ist selbst ein eigenständiger Entschluss. Für die Folgen daraus ist man wiederum selbst zuständig. Deswegen kann man Moral nicht an eine fremde Instanz abgeben und hoffen, nun nicht voll für seine Handlungen verantwortlich zu sein: Moral setzt Autonomie voraus . Das bedeutet, man muss aus eigener Urteilskraft heraus bewerten, ob eine Tat gut oder schlecht ist, und niemand kann einem das abnehmen. Niemand heißt: Kein Gott, keine Autorität, kein Theologe, kein anderer Mensch, keine Instanz.
Ethik ist nichts, was vom Himmel geworfen wird und dem man sich dann unterordnet. Wenn man sich entscheidet, die Eigenverantwortung abzugeben, ist man doch wieder für die Folgen schuldtragend. Weder ein himmlischer noch ein irdischer Diktator entscheidet über die Moral, das müssen wir selbst tun. Wir tragen schließlich auch die Konsequenzen.
Wichtig ist die Funktion der Moral. Moral dient dazu, die Probleme menschlichen Zusammenlebens zu lösen, Interessenkonflikte zu vermeiden oder gerecht gegeneinander abzuwägen und vermeidbaren Schaden von anderen abzuwenden. Dies setzt eine autonome Interessenvertretung voraus, deswegen machen wir beispielsweise Kinder nicht voll für ihre Taten verantwortlich. Daher erkennen wir es auch an, dass es Umstände gibt, unter denen die moralische Verantwortung gemindert ist, etwa bei Alkohol- oder Drogeneinfluss, ebenso bei Zwang.
Moral setzt eine Verhandlung von autonomen, mündigen Individuen voraus, um Schaden gegenüber unwilligen oder unmündigen Dritten abzuwenden. So haben wir zum Beispiel festgelegt, dass man fremde Personen nicht verletzen darf – außer, der Andere hat darin eingewilligt. So darf man niemanden mehr auspeitschen – außer, er oder sie möchte das so und ist erwachsen und mündig, steht nicht unter Zwang (kein Abhängigkeitsverhältnis!), und unbeteiligten oder unwilligen Dritten entsteht dadurch keine Beeinträchtigung. Deswegen verstoßen an freiwilligen Sado-Maso-Spielen Beteiligte gegen keine Moral, auch, wenn (leichter) körperlicher Schaden entsteht.
Deswegen unterliegt das, was erwachsene Homosexuelle freiwillig in ihrem Schlafzimmer treiben, keinerlei moralischen Vorschriften. Das wird inzwischen ziemlich allgemein anerkannt – außer von der katholischen Kirche, die darin einen Verstoß gegen »ihre« Moral sieht. Das zeigt aber, dass die römisch-katholischen Kleriker ein falsches Verständnis davon haben, was wir unter Moral verstehen sollten. Die meisten Gläubigen in westlichen Staaten haben es sich daher auch angewöhnt, moralische Vorgaben ihrer Kirche in weitem Umfang zu ignorieren.
Diese notwendige Autonomie ist gegen die Kirchen erstritten worden.
Es wird von Kirchenvertretern gerne eingewandt, dass dies zu einem moralischen Relativismus führt. Das ist aber längst eine Tatsache: Andere Kulturen legen ihre Ethik nach eigenen Gegebenheiten, eigener Tradition und eigenem Verständnis aus. Das bedeutet aber keineswegs, dass man etwa Menschenrechtsverletzungen in China oder arabischen Ländern nicht kritisieren darf. Denn durch den globalen Austausch sind auch wir davon betroffen. Jede Moral unterliegt der Kritik, und selbst die Kirchen können sich nicht davon ausnehmen, ob sie sich nun auf Gott berufen oder auf ein Naturrecht. Wobei, was noch zu zeigen sein wird, ein Naturrecht ohnehin auf einem logischen Fehler beruht, dem sog. naturalistischen Fehlschluss . Das ist derselbe Fehler, den Sozialdarwinisten begehen. Wenn man den Sozialdarwinismus ablehnt, hat man auch keinen Grund, eine Berufung auf Naturrecht von anderen zu akzeptieren.
Der Versuch, sich gegen moralische Kritik zu immunisieren, in dem man seine Moral auf Gott zurückführt, ist aber scharf abzulehnen.
Einige der vorigen Abschnitte mögen sich so lesen, als ob die Menschen, die ihre eigene Moral als die Gottes ausgeben, damit einen bewussten Betrug begehen. Das dürfte ausgesprochen selten der Fall sein. Die meisten wissen es nur nicht besser und haben es sich selbst eingeredet.
Es gibt einen kognitiven Fehler, der in den üblichen Listen der Denkfehler fehlt. Ich würde ihn als »Glaubwürdigkeitsfehlschluss« bezeichnen. Normalerweise glauben wir, lügen hieße »die Unwahrheit sagen«. Das ist falsch. Lügen heißt vielmehr: Etwas anderes sagen, als man selbst glaubt . Wir schätzen die Glaubwürdigkeit anderer Menschen danach ein, ob wir Anzeichen erkennen, dass sie selbst nicht glauben, was sie sagen. Natürlich sind wir notorisch schlecht darin, diese Anhaltspunkte zu erkennen. Aber, wenn wir abschätzen, dass der andere an das glaubt, was er uns mitteilt, dann neigen wir zu dem Fehlschluss, dass er die Wahrheit sagt ! In Wirklichkeit sagt er uns nur, wovon er überzeugt ist, ob dies die Wahrheit ist, ist eine ganz andere Frage und hängt nicht von seinen persönlichen Eigenschaften ab.
D. h., oft ist es so, dass wenn jemand mit einer großen inneren Überzeugung uns etwas erzählt, dann neigen wir dazu, anzunehmen, dass er uns die Wahrheit sagt. Menschen, die das können, die andere überzeugen können, haben enorme Vorteile im Leben. Deswegen haben wir die Fähigkeit entwickelt, uns selbst von etwas überzeugen zu können, auch, wenn es falsch ist - falls es für unsere Absichten von Vorteil ist. Das wiederum können wir anderen leichter einreden, weil andere leichter darauf hereinfallen. Deswegen beruht »Wahrheit« für viele Menschen auf Autoritäten . Deswegen lassen wir uns so leicht Irrtümer aufschwatzen.
Hierzu ein wichtiges Zitat:
»Das erste Prinzip ist: Du darfst Dich nicht selbst täuschen, und Du selbst bist die am leichtesten zu täuschende Person «.
- Richard P. Feynman
Gerade in der Kombination mit unserer Unfähigkeit, Lügen zu erkenne, ist das fatal. Es führt auch dazu, dass die Person, die wir am leichtesten täuschen können - wir selbst sind. Dazu kommt noch das »Privileg des inneren Erlebens«. Wir haben einen gegenüber anderen Menschen privilegierten Zugang zu unserem inneren denken und fühlen. Wir haben nur nicht ausreichend Möglichkeiten, uns dort gegen Irrtümer und Fehleinschätzungen abzusichern, weil uns erstens eine zweite Quelle zum Abgleich fehlt, zweitens die meisten unserer Denkprozesse nicht dem Bewusstsein zugänglich sind und wir drittens keine Alarmmeldung bekommen, wenn wir einen Denkfehler begehen.
Appelle, etwa in der Form der Bergpredigt, machen noch keinen moralischen Anspruch aus und bessern die Menschen keineswegs.
„Es gibt weder eine Problemlösung, noch eine für die Lösung bestimmter Probleme zuständige Instanz, die notwendigerweise von vornherein der Kritik entzogen sein müßte. Man darf sogar annehmen, dass Autoritäten, für die eine solche Kritikimmunität beansprucht wird, nicht selten deshalb auf diese Weise ausgezeichnet werden, weil ihre Problemlösungen wenig Aussicht haben würden, einer sonst möglichen Kritik standzuhalten. Je stärker ein solcher Anspruch betont wird, um so eher scheint der Verdacht gerechtfertigt zu sein, dass hinter diesem Anspruch die Angst vor der Aufdeckung von Irrtümern, das heißt, also: die Angst vor der Wahrheit, steht.“
Hans Albert
Gastbeitrag von: Volker Dittmar