„In einer Welt, die überflutet wird von belanglosen Informationen, ist Klarheit Macht.“ 

- Yuval Noah Harari

Konventionalismus

Der Konventionalismus (latein. conventio: „übereinkommen“) ist innerhalb der Philosophie eine Richtung, die von der These ausgeht, dass wissenschaftliche Erkenntnisse nicht auf Übereinstimmung mit der Beschaffenheit der Realität, sondern auf Konventionen beruhen.

 

„Die konventionalistisch aufgefaßten Naturgesetze sind durch keine Beobachtung falsifizierbar, denn erst sie bestimmen, was eine Beobachtung, was insbesondere eine wissenschaftliche Messung ist.“
– 
Karl PopperLogik der Forschung[1]

 

Konventionalismus innerhalb der Wissenschaftstheorie geht davon aus, dass Beobachtungstatsachen durch beliebige Konstruktionen in eine rationale Ordnung gebracht werden können. Eine bestimmte Theorie könne immer mit den Beobachtungen in Übereinstimmung gebracht werden; demzufolge können Tatsachen keine Prüfungsinstanz für die Gültigkeit von Theorien abgeben. Erforderlichenfalls wird der Konventionalist die angestrebte Übereinstimmung mittels Einführung von Ad-hoc-Hypothesen erzielen.[2]

 

Der Konventionalismus in der Sprachphilosophie behauptet, logische und sprachliche Regeln seien nur Konvention.

 

Philosophische Strömungen, die dem mathematischen Formalismus
zuzurechnen sind, weisen ebenfalls konventionalistische Tendenzen auf.

 

Eine ähnliche, aber modernere Variante stellt der Sozialkonstruktivismus dar.

Allgemein

Als Begründer des Konventionalismus gilt der französische Mathematiker und Physiker Henri Poincaré. In seinem Buch La science et l'hypothèse beschrieb er ein gedankliches Experiment zur Demonstration der „Unbestimmtheit“ der wahren Geometrie des Raumes.

 

Er stellt sich eine zweidimensionale Scheibenwelt vor, auf der alle Dinge auf Grund einer universellen Kraft gleichermaßen im Abstand vom Mittelpunkt zu schrumpfen beginnen, also kleiner sind, je weiter sie vom Mittelpunkt entfernt sind. Die Bewohner dieser Welt nehmen also eine andere Geometrie des Raumes an, als für Außenstehende zu beobachten ist. Dies führt zu zwei möglichen Geometrieannahmen: Der euklidischen und der Bolyai-Lobatschewski-Geometrie. Der Konventionalismus betont, dass eine Entscheidung für eine der Theorien getroffen und als Konvention angenommen werden muss, obwohl beide Theorien gleichwertig sind.

 

In Bezug auf die euklidische Geometrie bedeutet dies, dass sich zum Beispiel die Maßstäbe von Objekten zueinander nicht ändern und sich Lichtstrahlen geradlinig ausbreiten, obwohl andere Modelle vorstellbar sind und nicht den Beobachtungen widersprechen; Sie würden lediglich nicht unseren Konventionen und Gedankenmodellen entsprechen.

Beispiel

Am Beispiel seiner Deutung der Relativitätstheorie, die Poincaré mitentwickelte, lässt sich sein Konventionalismus vielleicht besonders provokant illustrieren: Verkürzen sich bei sehr schnellen Bewegungen nur die Lineale oder auch die Geometrie? „Fließt“ ein durch das Gravitationsfeld der Sonne abgelenkter Lichtstrahl durch den gekrümmten Raum oder bleibt der Raum „gerade“? Poincaré gibt als Antwort: Es ist Konvention! Die relativistische Krümmung ist nämlich nur als Krümmung der Lichtstrahl-Geodäte - etwa dadurch, dass sie durch ein Gravitationsfeld abgelenkt wird - auffassbar und nicht notwendig als Krümmung einer geometrischen Geraden. Die „Metriken“ der Feldgleichungen sind also nicht zwingend geometrische Metriken (vgl. Hinweise zur Diskussion Protophysik vs. Relativitätstheorie in Protophysik). Insofern bleibt die Frage, ob die wirkliche Geometrie euklidisch oder nichteuklidisch ist, für den Konventionalisten Poincaré offen.

Die Konventionalismus-Kritik von Karl Popper

Für Karl Popper ist Konventionalismus als Wissenschaftstheorie logisch und praktisch immer durchführbar. Denn der Konventionalist kann im Fall einer „Krise der Wissenschaft“ stets die Beobachtungen durch Änderung der Messverfahren uminterpretieren.[3]

 

Dies entspricht jedoch nicht der Methodologie von Erfahrungswissenschaft, wie Popper sie in der Logik der Forschung vorgeschlagen hat. Danach soll Erfahrungswissenschaft neuer Erfahrung bzw. der Widerlegung von Beobachtungshypothesen, systematisch dadurch Rechnung tragen, dass nach solchen Widerlegungen stets gesucht und beim Scheitern eines Experiments auch nach Konsequenzen für die jeweils beteiligte Theorie gefragt werden sollte. Das Umdefinieren von theoretischen Begriffen oder die Rettung von Beobachtungen durch Hilfshypothesen lehnt daher Popper als konventionalistische Wendung
bzw. 
Immunisierungsstrategie ab.

 

Gerade der Konventionalismus lieferte indes Popper gegenüber dem logischen Positivismus (Wiener Kreis) die Begründung dafür, dass eine eigene Methodologie der empirischen Wissenschaften notwendig sei. Denn die Abgrenzung vom Konventionalismus kann nicht erkenntnislogisch, sondern nur durch methodologische Entscheidungen erfolgen (nämlich darüber, wie man im Falle von widersprechenden Beobachtungsergebnissen mit der Theorie umzuspringen habe).

 

Wolfgang Stegmüller hat einen Versuch vorgelegt, den Theorienwandel im Anschluss an Thomas S. Kuhn historisch zu deuten, und zwar mittels mengentheoretischer Strukturen. Damit übt er Kritik an Poppers Methodologie, sie fasse wissenschaftliche Gesetzesaussagen als All- und Existenzsätze auf und verkenne damit, dass etwa die Physik ihre Behauptungen in mathematischen Strukturen formuliere.[4] Nach der strukturalistischen Sichtweise physikalischer Theorien, wie Stegmüller sie vorschlägt, ist nicht mehr sinnvoll zu sagen, dass Teile eines Theoriekerns durch empirische Beobachtungen widerlegt werden könnten. Zum Beispiel: Noch nie hat jemand angegeben, wie empirische Daten beschaffen sein müssten, um das zweite Newtonsche Gesetz zu falsifizieren.[5]

 

Die Kontroverse läuft somit im Grunde auf folgende Fragen hinaus: 1. inwieweit die Trennung von synthetischen und analytischen Aussagen immer strikt durchführbar sei, und 2. dass Theorien immer nur als Ganzheit geprüft werden können, wobei bei einem empirischen Misserfolg nie bekannt sei, an welchem Bestandteil der Theorie oder der Prüfbedingungen der Fehler liege (Duhem-Quine-These).

Literatur

·       Henri Poincaré: Science et méthode. Flammarion, Paris 1908 (Bibliothèque de philosophie scientifique).

·       Henri Poincaré: Dernières pensées. Flammarion, Paris 1913 (Bibliothèque de philosophie scientifique).

·       Clark Glymour: Thinking Things Through. An Introduction to Philosophical Issues and Achievements. MIT Press, Cambridge MA u. a. 1992, ISBN 0-262-07141-X (A Bradford book).

·       Wesley C. Salmon: Space, Time and Motion. A Philosophical Introduction. Second Edition, revised. University of Minnesota Press, Minneapolis MN 1980, ISBN 0-8166-1044-5.

·       Nick Huggett (Hrsg.): Space from Zeno to Einstein. Classic Readings with a Contemporary Commentary. MIT Press, Cambridge MA u. a. 1999, ISBN 0-262-08271-3 (A Bradford book).

·       Karl R. Popper: Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie. Aufgrund von Mss. aus den Jahren 1930–1933 Herausgegeben von Troels Eggers Hansen. 2. verbesserte Auflage. Mohr, Tübingen 1994, ISBN 3-16-145774-9 (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften 18).

Einzelnachweise

1.    Karl R. Popper: Logik der Forschung. 8. Auflage. J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1984, S. 48.

2.    Victor KraftDas Problem der Induktion. Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie. 1, 1970, S. 80f.

3.    Etwas drastischer formuliert: „Man entschloss sich, an gewissen Ideen festzuhalten, komme was da wolle, und das Ergebnis war natürlich das Überleben dieser Ideen.“ (Paul FeyerabendWider den Methodenzwang. Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie. Frankfurt 1976, S. 64)

4.    Wolfgang Stegmüller: Eine kombinierte Analyse der Theoriendynamik. in: Gerard Radnitzky, Gunnar Andersson: Voraussetzungen und Grenzen der Wissenschaft.Tübingen 1981, S. 277 ff.

5.    Wolfgang Stegmüller: Eine kombinierte Analyse der Theoriendynamik. in: Gerard Radnitzky, Gunnar Andersson: Voraussetzungen und Grenzen der Wissenschaft.Tübingen 1981, S. 299

Dieser Aufsatz ist z.T. der Wikipedia entnommen.

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