WIDENMEYER nähert sich über die Frage, was modern ist, der Diskussion über den ontologischen Naturalismus, wonach es im Kosmos überall "mit rechten Dingen" zugeht. Wir Menschen, so der Autor, richteten uns gewöhnlich nach einem herrschenden Trend oder nach der vermuteten Mehrheitsmeinung aus. Die Ursachen für unsere Haltungen seien weitgehend unabhängig von der Intelligenz, womit der Autor impliziert, dass das Moderne oft das Ergebnis unreflektierter Entscheidungen, der soziale Konsens Folge einer gewissen Beliebigkeit des Zeitgeistes sei.
WIDENMEYER ist erkennbar bemüht, auch den
Naturalismus, auf den sich die Realwissenschaften stützen, als das Ergebnis eines unreflektierten Konsenses darzustellen, sieht in dessen Akzeptanz sogar Gefährdungspotenziale, da er ihn als
Grundlage "totalitäre[r] Systeme der Zeitgeschichte" wie den Nationalsozialismus und Marxismus ausgemacht haben will (ebd., 11). Und er
sieht die Gefahr, dass bei der Akzeptanz des Naturalismus
"…persönliche weltanschauliche Haltungen, liebgewordene Lebenskonzepte, ideologische Beeinflussungen, ein gegenseitiges Nachplappern [sic!] und andere Quellen kollektiven Irrtums den Ausschlag geben" (ebd., 13).
Ist die Befürchtung, der Naturalismus sei aus einem "kollektiven Irrtum" heraus zur Mehrheitsmeinung der aufgeklärten Gesellschaft avanciert, begründet? Keineswegs; der Autor ignoriert völlig, dass sich der Naturalismus erst allmählich in einem jahrhundertelangen Prozess des rationalen Abwägens und kritischen Prüfens als tragfähiges Fundament der Real- bzw. Naturwissenschaften herausschälte.[1] Diese These wollen wir im Folgenden sehr sorgfältig begründen.
Unter der Überschrift
"die ‚machtvolle Propagandakampagne‘ des Naturalismus" beklagt sich WIDENMEYER darüber, dass Menschen, die übernatürliche "Erklärungen" zur Entstehung der Welt und der Arten favorisieren, als
"Obskurantisten" bezeichnet werden. Als Reaktion auf die sinngemäße Feststellung des amerikanischen Philosophen Daniel DENNETT, der Naturalismus sei für den modernen und aufgeklärten Menschen die
einzige Option, der Glaube an Gott dagegen genauso unbegründet wie der Glaube an Elfen oder an den Osterhasen, antwortet der Autor:
"Derartige Vergleiche haben keinen argumentativen Gehalt; sie haben reinen Appellcharakter. Der Bezug auf zentrale Attribute Gottes (und nicht auf den Osterhasen) wird zum Beispiel relevant, wo wir die wesentlichen Ausstattungsmerkmale der Welt rational nachvollziehbar machen wollen (Abschnitt 8.2). Unzählige Wissenschaftler, Philosophen und Theologen haben bislang in den letz[t]en 2500 Jahren von dieser Erklärungsoption auf hohem intellektuellem Niveau Gebrauch gemacht – und werden von Dennett in der New York Times unter Umgehung einer sachlichen Argumentation ins Lächerliche gezogen." (ebd., S. 89)
Man kann aus DENNETTs Feststellung aber auch die sachliche Forderung nach einsichtigen Gründen für die vom Autor betriebene ontologische Erweiterung herauslesen.
So wird z. B. überhaupt nicht klar, weshalb WIDENMEYER von zentralen Attributen Gottes spricht. Könnte man nicht schlechterdings jeder übernatürlichen Entität
entsprechende Attribute zuweisen und für die Ausstattungsmerkmale der Welt verantwortlich machen? Henri BERGSONs Élan vital (BERGSON 2014) und TEILHARDs tiefe
ontologische Drift (KUMMER 2006, 41) sind zwei Beispiele dafür. WIDENMEYERs Forderung nach "rationaler" Nachvollziehbarkeit würde demnach genauso gut ein evolutionärer Theismus gerecht
oder der LEIBNIZ‘sche Deismus, der immerhin mit einem weltimmanenten Naturalismus kompatibel ist. Und was spräche dagegen, den Ursprung der Welt der Initiative eines Dämons, der
des Teufels oder der DENNETTs sprichwörtlicher Elfen anheim zu stellen? "Wenn man den Teufel einführt, darf man auch seine Großmutter zulassen usw." (BUNGE & MAHNER 2004, 11; SUKOPP 2006,
52). Das ist es vermutlich, was DENNETT mit seiner Kritik zum Ausdruck bringen möchte. Jedenfalls dürfte es der Autor schwer haben zu begründen, warum man Bezüge zu der von ihm bevorzugten
Variante des Supranaturalismus herstellen sollte.
Ohne Frage wurzelt die zeitgenössische Wissenschaft im Theismus, und der Glaube an Gott kann eine starke Motivation sein, um Wissenschaft zu betreiben. Dies zeigt
sich beispielsweise an dem Begründer der modernen Physik, Sir Isaak NEWTON, der mithilfe der Wissenschaft dem vermeintlichen Plan Gottes auf die Spur kommen wollte. Auch in der Moderne gibt es,
wie etwa LENNOX (2009) nachweist, namhafte Naturwissenschaftler, die von tiefer Religiosität durchdrungen waren. Dem Nobelpreisträger Werner HEISENBERG wird der Spruch nachgesagt: "Der erste
Schluck aus dem Becher der Wissenschaft führt zum Atheismus, aber auf dem Grund des Bechers wartet Gott." (Es gibt allerdings Hinweise darauf, dass dieses Zitat eine Fälschung
ist.) Indessen ist die These, man benötige eine übernatürliche Entität, um "die wesentlichen Ausstattungsmerkmale der Welt rationalnachvollziehbar" zu erklären, schlicht
falsch (zur Erläuterung dieser Tatsache siehe Teil 3: "Das Argument der Feinabstimmung der Naturkonstanten"[2] u. Teil 4 der Besprechungsreihe: "Entropie, Ordnung und die ‚Widerlegung‘ des Naturalismus").[3]
Der Umstand, dass verschiedene Aspekte des Christentums, wie etwa die rationale Diskurstradition, die Entstehung der Naturwissenschaften gefördert haben und dass
viele Forscher an Gott glauben, sagt also nichts über die Bedeutung von Religion für die zeitgenössischen Naturwissenschaften aus. Religion kann ein Stimulus sein, eine Heuristik, die aber keine
Rolle mehr spielt, sobald die Erscheinungen in der Welt und ihre Voraussetzungen durchdacht, beschrieben und erklärt werden. Um es in Abwandlung der berühmten Metapher von "WITTGENSTEINs Leiter"
zu formulieren: Ist man erst einmal mithilfe der Heuristik über die Mauer der Transzendenz hinaus gestiegen, kann man die Leiter getrost wegwerfen, weil sich aus der neuen Perspektive die
praktisch-wissenschaftliche Bedeutungslosigkeit der Transzendenz offenbart.
Die folgende Tatsache ist ein Symptom dafür: Wie religiös der einzelne auch sein mag – alle Fachwissenschaftler verhalten sich wie
Naturalisten (bzw. Materialisten), sobald sie ihre Mäntel vor den Labortüren und Denkzellen ablegen und ihre Artikel schreiben. Führen wir diese Behauptung in den Worten BUNGE & MAHNERs
(2004, 224f.) etwas näher aus:
"Betrachtet man die Bezugsklassen
wissenschaftlicher Theorien, so wird offensichtlich, dass dort ausschließlich auf natürliche – genauer: materielle – Gegenstände und Prozesse Bezug genommen wird. Ein Wissenschaftler, der darüber
hinaus an die reale Existenz von übernatürlichen religiösen Wesenheiten glaubt, müsste darlegen, warum diese Wesenheiten nie Gegenstand wissenschaftlicher Theoriebildung sind oder sein sollen.
Sehen wir uns zwei Beispiele an: Isaak Newton war sicher durch seinen überaus starken religiösen Glauben inspiriert, und seine Konzeption des absoluten Raumes war in der Tat von seinen
theologischen Betrachtungen beeinflusst. Dies machte seine Aussagen – nicht aber seine formale Theorie – zu diesem Thema inkonsistent. … Kein Wunder also, dass ‚Newton’s cherished theology was
rapidly peeled off by all the competent hands that could get at him’ (Burtt 1932, S 296). Was seine formalen Theorien betrifft, so gibt es darin keine Variable, die sich auf Gott oder eine
göttliche Kraft bezöge. …
Auch James Clark Maxwell, der Vater der Theorie des Elektromagnetismus war ein frommer Christ. Dennoch schmuggelte er keine religiösen Begriffe in seine wissenschaftliche Arbeit hinein. Sein
monumentaler Treatise etwa ist durch und durch naturalistisch… Vor allem seine berühmten Gleichungen enthalten keine Variablen, die sich auf übernatürliche Entitäten oder
Prozesse beziehen. …
Es würde kein formales Problem darstellen, eine Variable in diese Gleichungen einzuführen, die sich beispielsweise auf eine göttliche Kraft bezöge. Doch weder in Maxwells Theorie noch in anderen
wissenschaftlichen Theorien ist so etwas zu finden. Warum? Weil selbst religiös gläubige Wissenschaftler offenbar wissen, (a) dass die Wissenschaft naturalistisch ist, (b) dass in einer
supranaturalistischen Ontologie Beliebiges möglich ist und (c) dass sie deshalb ihren Glauben lieber aus der Wissenschaft heraus halten."
Es mag provozierend klingen, aber in diesem Sinn haben die zeitgenössischen Naturwissenschaften tatsächlich Gott begraben – auch wenn es
heutzutage zum "guten Ton" gehört, Religion und Naturwissenschaften zu sich gegenseitig nicht überschneidenden Lehrgebieten zu erklären (GOULD 1997; WHITEHEAD 1959, 184.[4]).
Die Tatsache, so BUNGE & MAHNER weiter, dass in der Biologie lange Zeit kreationistische, teleologische und vitalistische Faktoren eine Rolle gespielt
haben, könne kein Einwand gegen diese These sein, weil auch sie Zug um Zug aus ihr eliminiert wurden.
Zum einen sind alle
wesentlichen Schlüsselterme (Schöpfung, Dreifaltigkeit usw.) semantisch unbestimmt Einerseits postuliert die
Religion die (geistige) Wirkung einer Entität, die sie durch keinen Mechanismus beschreiben und durch kein empirisches Datum belegen kann und auch durch kein Theorem, das für sie spräche.
Andererseits kann sie auch nicht zeigen, dass sie für bestimmte Phänomene, die naturwissenschaftlich nicht erklärt werden können, eine Erklärung anzubieten hat. Sie kann allenfalls auf
Erklärungsgrenzen hinweisen. An dieser Grenze beginnt aber nicht das Übernatürliche, sondern das Nichtwissen. Und wie in allen vergleichbaren Fällen der Existenzbehauptung geht die
Wissenschaft, wenn sie konsequent ist, den Weg der methodischen Elimination, wonach man sagt:
"Es gibt zwar die logische Möglichkeit, dass X existiert, aber nach all dem, was wir wissen, existiert X nicht." (KANITSCHEIDER 1999, 80)
Zum anderen beweist die Wissenschaftsgeschichte, dass die Naturwissenschaften der Renaissance zu florieren begannen und immer erfolgreicher wurden,
"… je konsequenter sie die geistesgeschichtlich bedingten supranaturalistischen Überreste aus ihrem Weltbild entfernt haben" (MAHNER 2005).
Man liegt also nicht falsch, wenn man folgert, dass dieser Erfolg indirekt den ontologischen Naturalismus stützt. Im Folgenden soll anhand verschiedener Beispiele
die Behauptung belegt werden, dass die Wissenschaft (gemäß "WITTGENSTEINs Leiter") Zug um Zug über die Mauer der Transzendenz hinausgestiegen ist.
Von der Antike bis ins
Spätmittelalter war die abendländische Kosmologie durch die Vorstellung des ARISTOTELES geprägt, wonach der Kosmos aus zwei verschiedenen Welten, den Himmelssphären und den sublunaren (irdischen)
Sphären, bestehe. Die Physik war damit ebenfalls in eine 2-Welten-Physik untergliedert: in die Physik des Himmels, der aus der 5. Substanz (Quinta Essentia) bestand und nur vollkommene
Kreisbewegungen zuließ, und in die terrestrische Physik der 4 Elemente. Obwohl solche Erklärungen bereits von GALILEI angezweifelt wurden (WEICHENHAN 2004, 271), änderte sich die Situation erst
grundlegend mit dem epochalen Werk Principia Mathematica, in dem Sir Isaak NEWTON die Grundzüge einer noch heute gültigen Physik entwirft, der klassischen
Mechanik.
NEWTONs Mechanik genießt gegenüber der Physik des ARISTOTELES den Vorzug der universellen Geltung: NEWTON konnte zeigen, dass die Mondbewegung um die
Erde eine Trägheitsbewegung war, genauso wie die Bewegung der Erde um die Sonne, und dass die Gravitation, die einen Apfel zu Boden fallen lässt, auch den Mond und die Planeten in ihrer
Umlaufbahn hält.
NEWTON war zwar noch kein Naturalist: Er überlegte sich, ob das Planetensystem langzeitstabil sei und meinte, dass sich Resonanzen aufschaukeln könnten und das
Sonnensystem einer transzendenten Regulierung bedürfe (BEUTTLER 2010, 223). Doch die Universalität seiner Physik legte den Grundstein für die anhaltende Naturalisierung der Naturwissenschaften.
So konnte Pierre-Simon LAPLACE (1749–1827) auf der Grundlage der NEWTON‘schen Physik zeigen, dass sich die Störungen der Bahnbewegungen der Planeten in erster Näherung wegdämpfen, der Kosmos sich
also im Wesentlichen deterministisch verhält. Bekannt geworden ist LAPLACEs Ausspruch an Napoleon: "Gott? Diese Hypothese, Sire, benötige ich nicht."
Somit nährte die prognostische Kraft der deterministischen Erklärungen den Verdacht, dass die Planetenbewegungen von Göttern unbeeinflusst sind. NEWTONs Physik
stützt so erstmals die Annahme, dass es im Universum mit rechten Dingen zugeht, dass Stern- und Planetenkonstellationen, Sonnenfinsternisse, das Auftauchen von Kometen und dergleichen weder einer
Regulierung bedürfen noch Ausdruck göttlicher Launen sind, keine Vorboten für kommende Ereignisse und kein Ausdruck zorniger oder wohlwollender Demiurgen, sondern naturgesetzlich erzwungen und
unbeeindruckt von menschlichen Schicksalen, Hoffnungen und Gebeten.
Der, wie WALDMANN (2003, 195) sich ausdrückt, "entgötterte Weltraum" gleicht nach NEWTON einem Uhrwerk, das ohne transnaturale Einflüsse funktioniert. Sicher
nicht ohne Grund bemerkt Heinrich HEINE:
"… wohl begriff ich jetzt, dass die Sterne keine liebende, mitfühlende Wesen sind, sondern nur glänzende Täuschungen der Nacht, ewige Trugbilder in einem erträumten Himmel, dunkle Lügen im dunkelblauen Nichts."
Freilich hat sich NEWTONs klassische Mechanik nicht nur in der Astronomie bewährt; alle mechanischen Vorgänge in der Technik und in der Natur können mit ihrer Hilfe sehr präzise beschrieben und erklärt werden, sofern es sich um makroskopische Körper handelt, die sich weit unterhalb der Lichtgeschwindigkeit fortbewegen.
Mit der Entdeckung des
deterministischen Chaos durch Henri POINCARÉ (1854–1912) änderte sich an dieser Weltsicht zunächst nicht viel. Zwar zeigte sich, dass die Anfangsbedingungen eines Systems nicht beliebig genau
bestimmt werden können und dass kleinste Abweichungen mitunter große Auswirkungen zur Folge haben können ("Schmetterlings-Effekt"). Im Ergebnis führt die "Informationslücke" dazu, dass in der
Alltagswelt Vorhersagen nur begrenzt möglich sind – LAPLACEs vollkommener Determinismus gilt also nicht. Gleichwohl schien die Unmöglichkeit, Naturereignisse beliebig genau vorherzuberechnen, nur
ein erkenntnistheoretisches Problem zu sein. Das änderte sich erst mit der Entdeckung der quantenmechanischen Unbestimmtheit durch Werner HEISENBERG, wonach bestimmte Parameter
nicht nur aufgrund von Kenntnislücken und Messungenauigkeiten nicht beliebig genau vorhersagbar sind, sondern aufgrund der Beschaffenheit der Natur selbst.
Für einen Moment schien es so, als sei die prinzipielle Unvorhersagbarkeit der Welt mit einer übernatürlichen Einflussnahme vereinbar, denn wenn etwas nicht
streng vorherbestimmt ist, bleibt Raum für "versteckte Parameter" (etwa Gott). Es hat daher nicht an Versuchen gefehlt, den quantenmechanischen Zufall als Ausdruck göttlichen Wirkens in Betracht
zu ziehen. Da Gottes Handeln nicht vorhersagbar ist, würde sich dessen Eingreifen als stochastisches Schwanken physikalischer Parameter, als zufälliges Zusammentreffen kausal
getrennter Ereignisse (Koinzidenzen) bemerkbar machen. Dazu bemerkt Martin RHONHEIMER (2007, 73):
"… [D]ie quantenmechanische Undeterminiertheit der Materie auf der mikrophysikalischen Ebene … verunmöglicht natürlich heute einen rein mechanistisch-deterministischen ‚Deismus‘ und lässt Gott sozusagen Spielräume des Eingriffs in das Naturgeschehen offen, die in keiner Weise mit der Struktur der modernen Naturwissenschaften in Konflikt geraten würden."
Was dabei übersehen wird: Die unbestimmten Eigenschaften von Quantensystemen sind der Quantenmechanik zufolge objektiv unbestimmt und können daher auch von einem allwissenden Wesen nicht gewusst und von einem allmächtigen Wesen nicht beeinflusst werden, ohne zu Widersprüchen mit der Quantenmechanik zu führen (MITTELSTAEDT 2001). Die Quantenmechanik ist mit der Idee "versteckter Parameter" unverträglich.[5] Somit hat die Quantenmechanik das naturalistische Weltbild noch stärker zementiert, als es der Determinismus der NEWTON‘schen Physik vermochte.
Die Naturalisierung der Geologie ist untrennbar verknüpft mit dem Namen James HUTTON, auf den die Erkenntnis zurückgeht, dass sich die Entstehung mächtiger Sedimente und Gebirge nicht innerhalb von Jahrtausenden erklären lässt, wie noch der französische Naturforscher Georges CUVIER annahm. Vielmehr laufen die geologischen Vorgänge im Allgemeinen sehr langsam ab. Zwar gibt es auch "katastrophische" Ereignisse, aber diese sind in aller Regel lokal begrenzt und nur sehr selten von globaler Auswirkung. Alle geologischen Erscheinungen lassen sich durch heute beobachtbare Veränderungen erklären, die sich über sehr lange Zeiträume hinziehen, wohingegen keine Mechanismen bekannt sind, die diese Erscheinungen auch "kataklysmisch" erklären könnten. Auch die Annahme, dass ein Schöpfer vor höchstens 10.000 Jahren die Welt im Wesentlichen so erschuf, wie wir sie heute beobachten, erwies sich als falsch. Damit legte HUTTON den Grundstein für eine unabhängige Disziplin der Geologie und die natürliche Erklärung des Ursprungs der Welt.
Die Naturalisierung blieb nicht auf die Physik und Geologie beschränkt, sondern erfasste nach und nach die übrigen Naturwissenschaften: Joseph PRIESTLEY (1733–1804) und Antoine de LAVOISIER (1743–1794) begannen damit, die Alchimie von supranaturalistischen Vorstellungen zu reinigen. Als Folge der Entdeckung des Gesetzes der konstanten (multiplen) Proportionen und der Entwicklung der Atomhypothese durch John DALTON wandelte sich die Alchimie allmählich zur modernen Chemie. Die stetige Entwicklung komplexerer Atommodelle und reaktionskinetische Betrachtungen verliehen ihr schließlich einen mechanismischen Unterbau.
Darüber hinaus konnte Friedrich WÖHLER im Jahr 1828 zeigen, dass organische Verbindungen keineswegs durch eine von Gott verordnete "Lebenskraft", sondern nach
strengen Gesetzmäßigkeiten aus anorganischen Verbindungen darstellbar sind. Dies war die Geburtsstunde der präparativen organischen Chemie.
Trotz der sich bereits am Horizont abzeichnenden Probleme konnte man bis ins 19. Jahrhundert noch wortwörtlich an der biblischen Genesis festhalten und die Schöpfung als konkretes Werk Gottes verstehen. Dies änderte sich mit einem Paukenschlag, als Charles DARWIN in seiner Origin of Species anhand einer ungewöhnlichen Detailfülle darlegte, dass auch in der Biologie keine transzendenten Einflüsse gebraucht werden: Natürliche Faktoren wie die vielfältigen Mechanismen der Variation und Selektion reichen aus, um die Entstehung neuer Arten und Artmerkmale zu erklären. Angestoßen durch DARWINs Überlegungen ist bis heute eine gewaltige Zahl an Forschungsprogrammen ins Leben gerufen worden, die eine immer größere Fülle an Details zu erklären vermögen und evolutionäre Strategien als Problemlösungsverfahren einsetzen (einen Überblick gibt NEUKAMM 2014).
Nachdem sich immer klarer herausschälte, dass sich anhand der so genannten "nichtreduzierbar komplexen" Biosysteme kein schlüssiges Argument gegen eine Evolution
gewinnen lässt – streng genommen noch nicht einmal ein Argument gegen DARWINs "Gradualismus" (die derzeit wohl beste Analyse hierzu stammt von dem amerikanischen Philosophen Paul DRAPER 2002) –
fiel schließlich auch die Bastion der Evolutionsgegner.
Die "Theorie" vom "Intelligenten Design", die eine religionskompatible und zugleich rationale Erklärung zur Entstehung des Lebens anbieten möchte, steht vor dem gleichen Problem wie die Religion: Sie postuliert intelligente "Eingriffe" bei der Artentstehung, die sie weder konkretisieren noch theoretisch beschreiben kann. Sie kann derzeit auch nicht schlüssig behaupten, dass die Evolution bestimmter Systeme unplausibel sei, denn dazu müsste sie über Wissen verfügen, das wir momentan nicht haben. Auch hier bleibt wieder nur der Hinweis auf derzeitige Erklärungsgrenzen, aber diese Grenzen rechtfertigen nicht den Schluss auf ein wie auch immer geartetes Design.
Unter dem Strich kann sich Intelligent Design nur auf die empirische Analogie mit menschlichem oder menschenähnlichem Design berufen,
um den Schluss von nichtreduzierbarer Komplexität auf Design zu rechtfertigen. Allerdings trägt diese Analogie nicht weit: Der Hinweis darauf, dass "Intelligenz" etwas erschaffen könne, was
natürliche Prozesse nicht bewältigen, mag zwar, cum grano salis, richtig sein. Wir kennen jedoch keine "Intelligenz", die von sich ausetwas erschaffen kann –
nach allem, was wir wissen, braucht sie dazu immer eine ausgeklügelte Technologie!
Daraus folgt: Der Hinweis, dass die Schaffenskraft von Intelligenz das Potenzial natürlicher Mechanismen übersteige, reicht allein nicht aus, um ein mögliches
Design-Szenario zu begründen. Dies ist lediglich eine notwendige, aber bei weitem keine hinreichende Bedingung für den Schluss von nichtreduzierbarer Komplexität auf Design.
Damit die empirische Analogie trägt, müssen sowohl die irdischen (ggf. extraterrestrischen) als auch die historischen Randbedingungen zu einem möglichen Design-Szenario passen. Solange
weit und breit keine Indizien für die Existenz einer hochkomplexen Technologie existieren, die vor rund 4 Milliarden Jahren Leben auf der Erde hätte hervorbringen können, lässt sich "intelligent
Design" weder rational noch empirisch begründen. Die Analogie steht hier dem Schluss von nichtreduzierbarer Komplexität auf Design sogar im Weg! Wer den Schluss dennoch zieht und die
technologische Frage ausklammert (sich vielleicht sogar auf eine transzendente Erschaffung zurückzieht), kann sich nicht auf die Erfahrung berufen, sondern muss A-priori-"Wissen" (Glaubenssätze)
einbeziehen – und entfernt sich damit immer weiter von der Ratio.
Nach DARWIN traten
Wissenschaften, wie die Neurobiologie und Psychologie auf den Plan, die methodisch zeigten, dass psychische Erkrankungen weder auf Dämonen oder Teufelsbesessenheit noch auf "den bösen Blick"
zurückzuführen sind, sondern durch gestörte neurobiologischer Prozesse hervorgerufen werden. Die Neurobiologie liefert gute Gründe dafür, dass Bewusstseinszustände die Folge neuronaler Prozesse
sind und somit keiner geheimnisvollen immateriellen oder supranaturalistischen Pseudo-Erklärung mehr bedürfen (wir kommen auf WIDENMEYERs diesbezügliche Einwände in einem anderen Teil der
Besprechungsreihe zu sprechen).
An den Erfolg der Kognitionswissenschaften anknüpfend, profitiert auch die Philosophie zunehmend von dem Naturalisierungsprogramm. Lesen wir dazu
KANITSCHEIDER (2003):
"Eine wichtige Funktion bei der Naturalisierung des Geistes haben die jüngst etablierten Brückendisziplinen ausgeübt, die die Verankerung der mentalen Funktionen in der Physis verstärkten. Soziobiologie, Psychobiologie, Neurobiologie, Biolinguistik, haben den von Scheler so betonten Hiatus von Geist und Materie stark verringert. Auch Kognitionsforschung und Computer-Wissenschaft greifen in das früher rein von der Philosophie beherrschte Gebiet von Anthropologie, Epistemologie und Ethik ein. … Der vorstehende Prozess lässt sich durchaus als Naturalisierung der Philosophie beschreiben. Diese Entwicklung ist kaum rückgängig zu machen. Eine glaubwürdige Philosophie muss sich heute im Verein mit den Einzelwissenschaften bemühen, den Menschen, die Welt und deren kognitive Wechselwirkung zu begreifen. Nicht nur die Philosophie, die Geisteswissenschaften schlechthin können sich ohne Substanzverlust nicht von den Neuro-, den Informations- und den Kognitionswissenschaften isolieren. Die Geisteswissenschaften sind nicht mehr allein die genuinen Verwalter von Vernunft, Subjektivität und Emotion."
Zwar wird die Naturalisierung des Geistes bis heute von vielen als besondere Kränkung empfunden – als etwas, das uns den letzten Rest von
Mittelpunktsbestimmung im Universum nimmt. Ein systematischer Einwand gegen den Erfolg des Naturalismus ist dies aber nicht.
Auch die Kosmologie, die mit der Entdeckung des Urknalls den Theologen lange Zeit ein Argument dafür zu liefern schien, dass die Entstehung der
Welt eines göttlichen Anfangs bedurft habe, hat sich mehr und mehr von supranaturalistischen Dogmen emanzipiert. So geht die moderne Kosmologie davon aus, dass das Universum durch Fluktuationen
im Vakuum entstanden ist. Die Quantenmechanik und Teilchenphysik liefern einen Mechanismus, der den Urknall und die inflationäre Expansion natürlich erklären und zugleich die Frage beantworten
kann, woher Energie und Materie kommen (GAßNER & LESCH 2014, 65). Zudem ist die Gesamtenergie des Universums Null, das heißt, der positive Energieanteil der Materie und deren
Bewegungsenergie sowie die negative gravitative Energie heben sich gegenseitig auf.
Wäre ein Gott der externe Urheber des Universums, wäre dies zumindest eine sehr ungewöhnliche Anomalie, da Verursachung (Kausalität) durch Energieübertrag
gekennzeichnet ist (VOLLMER 1985, 104), die Gesamtenergie im verursachten System also größer Null sein müsste. Geht man jedoch davon aus, dass das Universum aus sich
selbst heraus entstand, ist dieser Befund plausibel. So liefert die moderne Kosmologie und Teilchenphysik die Bedingungen der Möglichkeit, dass das Universum allein aus sich selbst
entstand: So wie ein radioaktiver Atomkern spontan (ohne Ursache) zerfällt, sodass die Energiebilanz von radioaktiver Strahlung und atomaren Spaltprodukten Null ist, so ist auch ein Energieinhalt
von Null die einzige Voraussetzung für eine Spontanentstehung des Universums.
Der ontologische Naturalismus der Realwissenschaften ist keineswegs eine flüchtige oder gar willkürliche Modeerscheinung, sondern ein Ergebnis der Aufklärung – das Resultat eines langwierigen Entwicklungsprozesses von Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, der mit der heuristischen Sterilität und dem Scheitern supranaturalistischer Deutungen des Mittelalters Hand in Hand ging. Die Naturwissenschaften leben und florieren gerade wegen des fortschreitenden Naturalisierungsprozesses.
Die Kirche setzte den durch sie ausgelösten Revolutionen und Kränkungen von Anfang an erbitterten Widerstand entgegen. FREISTETTER (2014) diskutiert, wie stark
der biblische Glaube die Entfaltung der Naturwissenschaften behindert hat. Beispielsweise findet sich der Grundgedanke des Kopernikanischen Weltbildes, die Versetzung der Sonne in den Mittelpunkt
des Planetensystems, schon bei ARISTARCH VON SAMOS, dessen Ansicht auch KOPERNIKUS sehr wahrscheinlich gekannt hat. LUTHER hingegen wies die Kopernikanische Wende unter Bezugnahme auf die Bibel
polemisch zurück. Letztlich hatte die Kirche den Naturwissenschaften aber nicht viel entgegenzusetzen. Zu fruchtbar, zu erklärungsmächtig waren ihre Theorien, die sich wie Puzzleteile zu einem
konsistenten Weltbild zusammensetzen. Dass dies mehr als nur in Ansätzen gelungen ist, kann man als Indikator dafür werten, dass es in dieser Welt überall mit rechten Dingen
zugeht.
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[1] Kann man ernsthaft glauben, dass die zeitgenössische Wissenschaftsgemeinde unreflektiert an einer
naturalistischen Wissenschaft festhalten würde, wenn es überzeugendere Alternativen gäbe als den Naturalismus? Unter Einsatz von Repressalien und Propagandamitteln konnte schon die Kirche im
Mittelalter eine wissenschaftliche Revolution nicht aufhalten, um wieviel weniger könnten es Macht- und Propagandamittel heute, würde dazu die Veranlassung
bestehen?
[2] www.ag-evolutionsbiologie.net/html/2015/widenmeyer-welt-ohne-gott-kritik-naturalismus-teil-3.html
[3] www.ag-evolutionsbiologie.net/html/2015/widenmeyer-welt-ohne-gott-kritik-naturalismus-teil-4.html
[4] "Science is concerned with the general conditions which are observed to regulate physical
phenomena; whereas religion is wholly wrapped up in the contemplation of moral and aesthetic values. On the one side there is the law of gravitation, and on the other the contemplation of the
beauty of holiness. What one side sees, the other misses; and vice versa.”
[5] Die Quantenmechanik kann natürlich keinen "negativen Gottesbeweis" liefern. Ein Kennzeichen der
Transzendenz ist ja gerade ihre grundsätzliche
Nichtwiderlegbarkeit: Man kann immer behaupten, Übernatürliches greife in den Gang der Welt ein und setze willkürlich die Gesetze der Quantenmechanik außer Kraft. Es sollte aber deutlich
werden, dass solche Annahmen mit grundlegenden Prinzipien der modernen Physik (überhaupt mit Wissenschaft) unverträglich sind, weil dadurch grundlos (bzw. aufgrund religiöser Voreingenommenheit)
die Unvollständigkeit oder Falschheit der Quantenmechanik unterstellt wird.
Gastbeitrag von: Martin Neukamm (Buch)