„In einer Welt, die überflutet wird von belanglosen Informationen, ist Klarheit Macht.“ 

- Yuval Noah Harari

Das Karussell in der Relativitätstheorie

Irgendwann wurde in einem Diskussionsforum die folgende Frage gestellt:

Ich meinte, ob vielleicht unser Raum-Zeit-Kontinuum so verzerrt ist, dass in der realen, aber idealisierten, Raumgeometrie unser Pi ungleich dem mathematischen Pi sein kann. Also unsere Kreise keinen Umfang von Durchmesser mal mathematisches Pi, sondern Durchmesser mal reales Pi haben. Und sich aus der Abweichung – neben den unter 1 genannten Quantenunschärfe, die btw. eine maximale Genauigkeit durch größtmöglichen Kreis und Plancklänge ergibt – eine maximal mögliche Genauigkeit ergibt.

Für meinen Geschmack zwar ein bisschen wirr formuliert, grammatisch und orthografisch falsch, aber mir fiel sofort ein einfaches Beispiel aus dem Buch „Das elegante Universum“ von Brian Greene ein. In diesem Buch geht es um eine populärwissenschaftliche Einführung und Begründung der Ideen der Stringtheorie(n). In den ersten Kapiteln wird man durch die Grundlagen der Speziellen und der Allgemeinen Relativitätstheorie geführt. Dort kann man als Beschreibung dieses Bildes

die folgende Erklärung lesen:

Nachdem wir mit Hilfe der beschleunigten Bewegung eines rotierenden Karussells die Gravitation nachgeahmt haben, können wir nun mit Einstein betrachten, wie Raum und Zeit einem Beobachter erscheinen, der sich auf einer solchen Karussellfahrt befindet. Als ruhende Beobachter können wir Umfang und Radius des rotierenden Karussells problemlos messen. Um beispielsweise den Umfang zu ermitteln, können wir mit einem Lineal sorgfältig die rotierende Außenseite des Karussells vermessen, wobei wir immer wieder den Anfang unseres Meßstabs an den letzten Endpunkt legen. Auf die gleiche Weise vermessen wir die Strecke von der Mittelachse des Karussells bis zu seinem äußeren Rand.

Wie wir aus der einfachen Schulgeometrie wissen, kommen wir auf ein Verhältnis der beiden Zahlen, das dem Doppelten der Zahl Pi – rund 6,28 – entspricht, was auch für jeden Kreis gilt, der auf ein Blatt Papier gezeichnet wird. Doch wie sehen die Dinge aus der Perspektive eines Fahrgastes in dem Karussell aus?

Um das festzustellen, bitten wir Hans und Franz, die sich gerade in einem solchen Karussell amüsieren, ein paar Messungen für uns durchzuführen. Eines unserer Lineale werfen wir Hans zu, der sich abschickt, den Umfang des Karussells zu messen, und ein anderes Franz, der sich daranmacht, den Radius zu ermitteln. Um einen möglichst guten Überblick zu haben, betrachten wir das Ganze aus der Vogelperspektive. Diese Momentaufnahme des Karussells haben wir mit einem Pfeil versehen, um in jedem Punkt die augenblickliche Bewegungsrichtung anzugeben. Als Hans sich anschickt, den Umfang zu messen, sehen wir aus unserer Vogelperspektive sofort, daß er einen anderen Wert erhalten wird als wir.

Während er mit seinem Lineal den Umfang vermißt, fällt uns an dem Lineal auf, daß seine Länge verkürzt ist. Das ist nichts anderes als die in Kapitel zwei erörterte Lorentz-Kontraktion, bei der einem Bedachter in Ruhe die Länge eines Objekts in Richtung seiner Anregung verkürzt erscheint. Ein kürzeres Lineal bedeutet, daß Hans es öfter anlegen muß – Anfangs- an Endpunkt -, um den geänderten Umfang zu erfassen. Allerdings meint Hans noch immer, das Lineal sei dreißig Zentimeter lang (da es keine Relativbewegung zwischen Hans und seinem Lineal gibt, besitzt es für ihn nach wie vor die ursprüngliche Länge), daher mißt er einen längeren Umfang als wir.

Wie steht es mit dem Radius ? Nun, Franz mißt auf die gleiche Methode wie sein Freund die Länge einer radialen Verstrebung, und aus unserer Vogelperspektive ist ersichtlich, daß er zum gleichen Ergebnis kommen wird wie wir. Diesmal zeigt das Lineal nämlich nicht in Richtung der Momentanbewegung des Karussells (wie es der Fall ist, wenn Hans den Umfang mißt). Vielmehr wird es von Franz in einem Winkel von 90 Grad zur Bewegung angelegt und erfährt daher keine Längenkontraktion. Folglich wird Hans die gleiche Radiuslänge ermitteln wie wir.

Wenn Hans und Franz nun das Verhältnis aus Kreisumfang und Radius des Karussells errechnen, kommen sie auf eine Zahl, die größer ist als unser Ergebnis von zwei mal Pi, denn der Umfang ist länger, während der Radius gleich bleibt. Das ist seltsam. Wie in aller Welt kann etwas von der Form eines Kreises gegen jene Gesetzmäßigkeit verstoßen, die schon die alten Griechen erkannt haben, daß nämlich für jeden Kreis dieses Verhältnis genau zwei mal Pi ist?

So weit, so gut. Eine der grundlegenden Aussagen der Speziellen Relativitätstheorie ist, dass Gegenstände, die bewegt werden, gegenüber einem ruhenden Beobachter verkürzt erscheinen. Aus diesem Grund erscheint ein tangential angelegtes Lineal verkürzt, ein radial angelegtes unverändert. Misst man mit demselben Lineal sowohl den Radius als auch den Umfang, gilt nicht mehr

sondern

Zugleich ergibt sich auch noch, dass die Zeit für einen sich mitdrehenden Beobachter langsamer als für einen nicht bewegten Beobachter verlaufen muss. Die Lichtgeschwindigkeit für beide ist gleich groß, aber dieselbe Strecke, die der Lichtstrahl durchmessen muss, ist in den beiden Bezugssystemen unterschiedlich lang.

Das Beispiel erhält seine Bedeutung dadurch, dass es eine Verbindung zwischen der Speziellen und der Allgemeinen Relativitätstheorie herstellt. In dem Text oben wurde nämlich so argumentiert, als ob es sich bei dem Vergleich zwischen dem bewegten und dem ruhenden Beobachter um zwei verschiedene Inertialsysteme handeln würde, also beide Beobachter kräftefrei sind. Auf den bewegten, sich mitdrehenden Beobachter wirkt aber die Zentrifugalkraft, die Drehbewegung ist eine beschleunigte Bewegung, weil das Karussell ihn auf eine Kreisbahn zwingt.

Der Grundansatz von Einstein bei der Entwicklung der Allgemeinen Relativitätstheorie war es, dass es in den physikalischen Gesetzen zwischen einem Beobachter, der der Gravitation ausgesetzt ist, und einem Beobachter, der beschleunigt wird, keinen Unterschied geben darf – weil in beiden Fällen Kräfte auf ihn einwirken. Man spricht hier von der Äquivalenz zwischen der schweren Masse, auf die die Gravitation wirkt, und der trägen Masse, die sich der Beschleunigung widersetzt. Das klassische Gedankenexperiment arbeitet dabei mit einer geschlossenen Kabine:

Gravitation: schwere Masse
Gravitation: schwere Masse
Beschleunigung: Träge Masse
Beschleunigung: Träge Masse

Die beiden Bilder stammen von der Seite Äquivalenzprinzip. Wenn man sich in der geschlossenen Kabine befindet, kann man zwischen den beiden Fällen, die Kabine steht auf der Erde, und, die Kabine wird beschleunigt, nicht unterscheiden. Etwas ähnliches gilt auch für das Karussell. Was man dort mit Hilfe der Speziellen Relativitätstheorie für die Längen und für die Zeit ermitteln konnte, muss auch für ein gleich starkes Gravitationsfeld gelten. Ich habe ein bisschen im Netz gesucht und die folgende Seite gefunden: Zeitdilatation im Karussell. Erhellend ist in dem Thread die folgenden Aussage:

Wenn ohne externes Gravitationsfeld eine beschleunigte Bewegung vorliegt, kann durchaus die SRT verwendet werden (natürlich kann man das auch gemäß der ART rechnen – und kommt auf’s selbe Ergebnis – aber es ist nicht notwendig)

Eine weitere Seite, die auf das Karussellbeispiel eingeht, ist Kniffliges und endet mit einer Frage ohne Antwort:

Damit ist eine grundlegende Eingenschaft der euklidischen Geometrie verletzt, nämlich dass jeder Kreisumfang durch u = 2πr gegeben ist. Das ist ein sicheres Anzeichen dafür, dass der Raum gekrümmt ist! Allerdings heißt es doch immer, dass Krümmungen nicht in der Speziellen, sondern erst in der Allgemeinen Relativitätstheorie auftreten, wenn die Gravitation hinzukommt („Materie krümmt den Raum“). Andererseits haben wir keine Schwerkraftphänomene in unser Karussell eingebaut, und daher ist es in der Speziellen Relativitätstheorie gut aufgehoben. Wie lässt sich dieser Widerspruch aufklären?

Auch wenn man häufig und lange über derartige Dinge nachdenkt, bleiben einige Dinge doch seltsam – bzw., wenn man sie erklären kann, kommen neue Seltsamkeiten zu Tage. Im Zusammenhang mit dem Karusselexperiment sind solche offenen Fragen:

1.   Wenn das Karussell steht, sind Kreis und Karussell gleich groß. Wenn sich das Karussell jetzt mit seinem Beobachter dreht, dann befindet sich das Karussell im Vergleich zum Beobachter in Ruhe, ändert zu diesem seine Größe also nicht. Aber er misst einen größeren Umfang des Kreises. Also ist das Karussell im Vergleich zum Kreis geschrumpft?

2.   Die beschleunigende Kraft im Karussell wirkt nach außen, im Unendlichen wird sie unendlich groß. Im Fall der Gravitation wirkt die Kraft nach innen. Bei einem Abstand (Radius) von null wird sie unendlich groß. Welchen Einfluss hat diese defacto Umkehrung aller Koordinaten?

3.   Die Gravitation scheint zu einer Vergrößerung des Umfangs zu führen, der Umfang eines Kreises ist größer als 2πr. Häufig wird im Zusammenhang mit Raummetriken für das Universum das Beispiel einer Kugeloberfläche gebracht. Die 2D-Oberfläche der Kugel dient hierbei als Modell für unser 3D-Universum. Die Kugeloberfläche ist endlich groß, hat aber keine Grenzen – so wie man es für das Volumen unseres Universums auch vermutet – es ist endlich groß, trotzdem kann man nicht an eine Grenze gelangen – weil es kein außerhalb gibt. Für einen Kreis auf der Kugeloberfläche gilt aber, dass u<2πr ist, nicht u>2πr, wie soeben anhand des Karussells berechnet. Wie passt das alles zusammen?

Gastbeitrag von: Dr. Ralf Poschmann

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