„In einer Welt, die überflutet wird von belanglosen Informationen, ist Klarheit Macht.“ 

- Yuval Noah Harari

Peter Plöger: Warum wir es gerne einfach hätten und alles immer so kompliziert ist

… „und alles immer so kompliziert ist.“ – Das ist der Titel eines Buchs von Peter Plöger.

Auf den ersten Seiten hatte ich Mühe mit seinem Stil. Ich erinnere mich nicht mehr, was mich gestört hat, denn am Ende hat mir das Buch ausnehmend gut gefallen. Ein paar Mal erwähnt er in seinem Text Schnelles Denken, langsames Denken von Daniel Kahnemann. Ich kenne Kahnemanns Buch nicht, es steht bei mir noch ungelesen im Regal. Aber es könnte ebenfalls von den verschiedenen Methoden handeln, mit denen wir Urteile über die Welt bilden. Plöger jedenfalls zeigt Möglichkeiten fehlerhaften Denkens auf ganz verschiedenen Gebieten, von denen ich hier Beispiele aus drei Gebieten – Kultur, Wirtschaft und Demokratie – herausgesucht habe.

Die Welt muss für uns Sinn haben, und wir müssen in ihr handeln können. Deshalb wird unsere Wahrnehmung der Welt von Prozessen bestimmt, die ihnen eine Sinn- und Handlungsstruktur geben. Der Wahrnehmungsapparat (die Sinnesorgane und die Teile des zentralen Nervensystems, die an der Wahrnehmung beteiligt sind) schafft eine Erzählung, von der das Individuum annehmen muss, dass sie der Wirklichkeit entspricht. Es ist, als würde er eine fortlaufende Geschichte konstruieren mit der Wirklichkeit als Inhalt. Der Wahrnehmungsapparat erzählt, und wie ein guter Geschichtenerzähler lässt er Einzelheiten wegfallen, hebt andere dafür deutlicher hervor, dramatisiert, ordnet Dinge, fügt Ereignisse in Abfolgen hintereinander und trennt eins vom anderen. Er schafft damit Klarheit und Verständlichkeit. Und nicht zuletzt Sinn. Die Welt muss Sinn ergeben, damit wir uns in ihr zurechtfinden können.

»Abstraktionen entfernen die Besonderheiten, die zwei Objekte voneinander unterscheiden… Experimente entfernen zudem (oder versuchen das zumindest) die Verbindungen, die jeder Prozess zu seiner Umgebung hat – sie erzeugen eine künstliche und in gewissem Sinne verarmte Umgebung, um dann ihre Eigenschaften zu untersuchen. In beiden Fällen wird etwas weggenommen oder „blockiert“ gegenüber der Gesamtheit, die uns umgibt.

In den letzten Jahren war häufig vom Kampf der Kulturen die Rede. Plöger beschäftigt sich mit den Äußerungen von Thilo Sarrazin und worin dessen Hauptdenkfehler bestehen. Ersetzt man in Sarrazins Thesen den Begriff der Kultur durch den der Rasse, dann erkennt man das Denkmuster. Außer dem Fehler, individuelle Eigenheiten jedes Menschen zu ignorieren, wenn man ihn einer bestimmten Gruppe zuordnet, kann man beim Verwenden des Begriffs der Kultur aber noch weitere Fehler machen:

Sarrazin äußert in seinem Buch und in mehreren anderen Veröffentlichungen ein Kulturverständnis, das in geradezu idealtypischer Weise das Organbild wiedergibt. Kultur ist bei ihm ein unwandelbares Ding, in sich geschlossen, klar abgegrenzt und mit einem Ursprung in Volk und Nation, das jeder Mensch mit sich herumträgt und das sein Handeln unhintergehbar mitbestimmt. Er vertritt dieses Bild gern schon einmal beherzter als manch anderer, spricht dann von »altdeutschem Fleiß«, mit dem der gesellschaftliche Erfolg »wie am Schnürchen« liefe, von einer »türkischen Seele«, die man in einer Rede des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan erkennen könne, oder vom »Sosein der Völker«, dessen »Konstanten über viele Jahrtausende reichen«. Letztere fänden ihren Ausdruck zum Beispiel bereits in den Madonnendarstellungen der Renaissance: An ihnen sähe man »auf den ersten Blick, ob die Madonna italienisch ist oder deutsch«.

»“Kultur“ ist kein statisches Phänomen«, schreibt Paul Mecheril, »denn da Kulturen von Menschen getragen werden, sind Kulturen wandelbar und ändern sich. „Kultur“ ist auch kein einheitliches Phänomen, weil es aus unterschiedlichen Lebensweisen besteht, die zum Teil widersprüchlich sein können. Kultur ist zugleich aber auch eine Konstruktion: Denn einerseits erzeugen Aussagen über die Lebensweisen einer Menschengruppe erst diese Menschengruppe als Gruppe, andererseits sind diese Aussagen immer abhängig von den Wahrnehmungs-, Bedürfnis- und Interessenperspektiven der beobachtenden Person, sei sie nun Mitglied der Menschengruppe oder nicht.«

Einen großen Teil des Buchs nehmen Analysen unserer derzeitigen Wirtschaftsweise und der Theorien ein, mit denen sie beschrieben wird. Marktwirtschaftler beziehen sich seit Adam Smith auf das Wirken der unsichtbaren Hand, was verkürzt etwa Folgendes bedeutet: Wenn jeder in der Wirtschaft danach strebt, seinen eigenen Nutzen zu maximieren, dann arbeitet jeder dort, wo er am besten etwas bewirken kann. Wenn jeder optimal wirkt, dann ist das Gesamtergebnis ebenfalls optimal. Ein neudeutsches Wort für diesen Ansatz ist der Homo oeconomicus. Dass dieses Prinzip einer freien Marktwirtschaft aus vielerlei Gründen nicht funktionieren kann und nicht erstrebenswert ist, lässt sich recht einfach zeigen.

Am offensichtlichsten ist, dass der Markt allen denen gegenüber blind ist, die über keine Kaufkraft verfügen. Oder mit Plögers Worten „Wer kein Geld hat, der existiert für den Markt gar nicht.“ Das steht im Widerspruch zur Grundannahme der Markwirtschaft, eine optimale Versorgung aller mit den benötigten Gütern sicherstellen zu können. Der Markt befriedigt nicht die dringendsten Bedürfnisse aller, sondern die Güterverteilung erfolgt proportional der Kaufkraft. Weitere Probleme:

·     Mit der jemandem zur Verfügung stehenden Gütermenge ist Macht verbunden. Diese kann zum Erwerb von Bildung und sozialen Positionen verwendet werden, was wiederum zu mehr Geld und zur Möglichkeit des Erwerbs weiterer Güter führt. Damit verfestigen sich bereits vorhandene Unterschiede im sozialen Status.

·   Zukünftige Generationen haben keinen Einfluss auf das, was und wie heute produziert wird, obschon es für sie von großer Bedeutung sein wird. Der heutige Wirtschaftsprozess verändert die Lebenswelt, in der die Nachgeborenen aufwachsen werden. Dennoch haben sie keine Stimme, die heute ökonomisch relevant wäre.

Peter Plöger stellt die Frage, inwieweit die Messgrößen, mit denen in der Marktwirtschaft der Erfolg gemessen wird, überhaupt sinnvolle Ziele des Wirtschaftens darstellen. Er macht das am Beispiel des Bruttoinlandsprodukts (BIP)deutlich:

·  Das BIP wird auch durch Dinge vergrößert, die die allgemeine Wohlfahrt verringern. Zum Beispiel vermindern Abgaskatalysatoren die Leistung eines Autos. Ihr einziger Nutzen ist es, einen Schaden zu beseitigen, der erst durch ein anderes, das BIP noch weit massiver in die Höhe treibendes Produkt entsteht.

·    Die Beseitigung von Schäden vergrößert also das BIP. Insofern steigern zum Beispiel Autounfälle oder Brände das BIP, wenn danach der vor dem Schaden vorhandene Zustand wiederhergestellt wird – obwohl von dem betreffenden Produkt sowohl davor als auch danach nur ein Stück vorhanden war.

·   Umweltschäden tauchen nicht negativ im BIP auf, höchstens positiv, wenn später Aufwand zu ihrer Beseitigung notwendig ist.

·       Und, ganz wesentlich:

Das BIP misst außerdem denjenigen Anteil der Wohlfahrtssteigerung nicht, der keine Preise hat: Hausarbeit, Pflege, Kindererziehung, Regenerationszeit und so weiter spielen für die Messung der ökonomischen Leistung gar keine Rolle, sind für das Funktionieren der Ökonomie jedoch eminent wichtig. Der sogenannte informelle oder »dritte« Sektor macht in Deutschland einen beträchtlichen Teil der jährlichen Gesamtwertschöpfung aus. In Arbeitsstunden gemessen bilden Hausarbeit, private Selbstversorgung und Selbsthilfe gegenüber der bezahlten Erwerbsarbeit sogar ein Übergewicht: Sie maßen (Stand: Mitte der 1990er-Jahre) insgesamt 98 Milliarden Stunden gegenüber 60 Milliarden Stunden Erwerbsarbeit.

Wenn das theoretische Modell systematisch wichtige Dinge ausklammert, dann ist es nicht verwunderlich, warum ökonomische Voraussagen so regelmäßig versagt haben (und versagen werden). Das Modell vom Menschen, das sie voraussetzen, der Homo oeconomicus, ist einfach fehlerhaft.

Das Wirtschaftsgeschehen hat oft genug gezeigt, dass es mit einfachen Ursache-Wirkungs-Ketten nicht erklärt werden kann. Auf die erste Ölkrise 1973 folgten die zweite Ölkrise, die Russlandkrise, die Südostasienkrise, die Dotcom-Blase, schließlich die Subprime-Krise mit allem, was ihr nachfolgte. Nichts davon war präzise vorherzusagen, man hätte allerdings sehen können, dass Krisen allem Augenschein nach systematisch zum Kapitalismus gehören. Ein Mangel ökonomischer Prognosen ist, dass sie relativ langfristige Vorhersagen aus einem beschränkten Material ableiten wollen, mit dem Geschehnisse, die außerhalb des Ereignisrahmens des Normalen ablaufen, per se nicht zu erfassen sind. Die Zukunft wird aus den Daten der Gegenwart und der nicht zu weit zurückliegenden Vergangenheit extrapoliert, was bedeutet, dass sie im Großen und Ganzen so aussieht wie das, was wir schon kennen.

Im letzten Teil des Buchs wird mit einigen Missverständnissen aufgeräumt, die mit Meinungsfreiheit, Demokratie und Politik verbunden sind. Von ziemlicher Aktualität ist dabei eine Passage, in der Plöger einen Text von Cory Doctorow zitiert:

Der kanadische Science-Fiction-Autor Cory Doctorow trifft den Punkt in seinem Roman Little Brother durch Zuspitzung:

»Es ist ein bisschen wie Nacktheit oder ein Gang aufs Klo. Jeder Mensch ist einmal nackt dann und wann. Jeder Mensch muss mal auf die Toilette. Deswegen muss sich niemand schämen, es ist nicht verrückt oder neben der Spur. Aber was wäre, wenn verordnet würde, dass von nun an jedes ‚große Geschäft‘ in einem Glaskubus mitten auf dem Times Square zu erledigen wäre und dass jeder dabei nackt zu sein habe? Selbst wenn mit deinem Körper alles in perfekter Ordnung wäre – und wie viele von uns können das behaupten? – müsstest du schon ein sehr merkwürdiger Mensch sein, um dieser Idee etwas abgewinnen zu können. …Es geht nicht darum, dass man etwas Unanständiges täte. Man tut etwas Privates. Es geht darum, dass dein Leben dir gehört.«

Nicht durch Zufall ist der Entzug von Privatsphäre eine häufig genutzte Foltermethode. …

Das Fazit des Buchs kann man vielleicht so formulieren: Es gibt viele Situationen, in denen einfaches Denken völlig ausreichend ist. Da das aber nicht immer so ist, sollte man seine Intuition darauf trainieren, Situationen zu erkennen, in denen man sehr, sehr gründlich nachdenken sollte. An einer Stelle mit Peter Plögers Worten:

Sie laufen einer Zukunft hinterher, statt sie zu machen: »Das Web ist eben, wie es ist, also müssen wir jetzt alle damit klarkommen.« Das ist mir zu wenig, weil ich den Gedanken dahinter absurd finde: Der Mensch soll sich seiner eigenen, eben erschaffenen Technik anpassen, weil es eben nicht anders ginge. Wir sollen einen Teil unserer Gestaltungsfähigkeit abgeben, weil die Artefakte, die wir bis dato noch selbst gestaltet haben, uns plötzlich als Sachzwang begegnen. Das ist entweder Ideologie oder vorschneller Fatalismus.

Gastbeitrag von: Dr. Ralf Poschmann

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