„In einer Welt, die überflutet wird von belanglosen Informationen, ist Klarheit Macht.“ 

- Yuval Noah Harari

Andreas Eschbach: Exponentialdrift

Ich habe schon eine ganze Reihe von Büchern von Andreas Eschbach gelesen, darunter Eine Billion DollarDer NobelpreisDas Buch der Zukunft, „Ausgebrannt“ und „Ein König für Deutschland“, alle in gedruckter Form. Letzteres hatte ich schon fast vergessen, erst, als ich vorige Woche erneut damit beginnen wollte, fiel es mir wieder ein. Im Urlaub sind eine Reihe weiterer Bücher dazugekommen, unter anderem „Das Jesus-Video“, „Perfect Copy – Die zweite Schöpfung“ und „Exponentialdrift“, dieses Mal alle in elektronischer Form, als eBooks.

Von den jetzt von mir gelesenen Büchern ist Das Jesus-Video am bekanntesten, vor allem sicherlich wegen seiner Verfilmung. Vermutlich ist das im Herbst 2014 erscheinende Buch Der Jesus-Deal eine Art Fortsetzung der Jesus-Video-Geschichte. Mindestens genauso interessant wie das Jesus-Video-Buch war aber für mich Exponentialdrift. Beim Lesen wusste ich das noch nicht, da war es eine so lala Science-Fiction-Erzählung mit relativ kurzen Kapiteln, manchmal stilistisch nicht so gelungen, und mit einem sehr abrupten Schluss.

Erst beim Lesen des Nachworts wurde mir alles klar, obwohl ich es schon im Vorwort hätte lesen können, dort schrieb Frank Schirrmacher:

Die Geschichte erschien als Fortsetzungsroman in der neu gegründeten Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und hielt Woche für Woche die Leser in Bann. Von Spannungsbogen zu Spannungsbogen rundete sich die Geschichte, von der der Autor wohl selber nicht wusste, wo hinein sie eines Tages münden würde. Aktuelle Ereignisse schwammen wie Treibgut im Fluß der Erzählung mit, landeten an oder verschwanden, manche blieben Orientierungspunkte bis zuletzt.

Ich hatte Andreas Eschbach gefragt – gefragt, weil ich von seinem »Jesus Video« beeindruckt war und weil ich ihn für fähig hielt, das große Experiment zu wagen: Schreiben Sie, bot ich ihm an, Woche für Woche einen wirklichen Fortsetzungsroman, so wie Charles Dickens, Mark Twain oder Stephen King es taten. Eschbach saß in meinem Büro, überlegte keine fünf Minuten und schlug ein. Das Ergebnis dieses sonderbaren Pakts finden Sie, lieber Leser, auf den folgenden Seiten.

Die recht kurzen Kapitel erklären sich also durch den jede Woche für dieses Kapitel zur Verfügung stehenden Platz in der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Im Nachwort gibt Andreas Eschbach dann sein Fazit ab, erläutert einige Einsichten, die er beim Schreiben gewonnen hat, und warum es heute wohl keine solchen Fortsetzungsromane mehr geben, er mit Sicherheit keinen zweiten schreiben wird. Eine seiner Beobachtungen habe ich beim Schreiben auch schon gemacht. Was er über das Eigenleben der vom Schriftsteller erdachten Personen herausgefunden hat, gilt nach meinen eigenen Erfahrungen für die gesamte Geschichte, die man zu Papier bzw. zu Speicher bringt – sie kommt niemals so dort an, wie man sie sich zuvor im Kopf überlegt hatte:

Die Eigenmächtigkeiten von Figuren ist ein Phänomen, das Schriftsteller sehr häufig erwähnen, und ich vermute mal, daß es kaum etwas geben dürfte, was bei normalen Menschen mehr Unverständnis und Kopfschütteln auslöst. »Hallo?!«, möchte man demjenigen zurufen, der behauptet, machtlos zu sein gegen die Figuren, die er selbst geschaffen hat, »aufwachen! Du schreibst diese Typen – schon vergessen? Du selber tippst jeden einzelnen Buchstaben von jedem einzelnen Wort, mit deinen eigenen Fingern auf deiner eigenen Tastatur. Wo ist das Problem? Tipp einfach andere Buchstaben, und du kriegst andere Wörter. Und hör auf zu heulen.«

Aber so einfach ist das eben nicht. Man wird beim Schreiben bestimmt von einem überwältigenden Drang nach innerer Konsistenz. Es ist Ziel des Schreibens, Figuren zu erschaffen, die »stimmen«, die zu leben scheinen – ein Eindruck, den man sofort zerstört, wenn man eine Figur anders handeln läßt, als es ihr nach dem, was man bis dahin von ihr erfahren hat, entspricht. Natürlich kann man »andere Worte schreiben« und damit eine Figur, die wir als ängstlich und vorsichtig kennengelernt haben, plötzlich mutig und kämpferisch in den von fleischfressenden Kobolden bevölkerten Keller hinabsteigen lassen. Aber durch diese Aktion wird sie zum Pappkameraden ohne eigenen Antrieb degradiert, der Leser spürt die Machenschaften des Autors und legt das Buch gelangweilt beiseite.

Oft sind es Kleinigkeiten, die ungeahnte Folgen haben. Angenommen, man erzählt, ohne sich etwas dabei zu denken, beim ersten Auftauchen der Figur im Roman, sie liebe Blumen. Einfach, weil man irgend etwas schreiben muß. In dem Moment hat das noch überhaupt keine weitere Bedeutung, man hätte genausogut behaupten können, sie liebe Himbeereis oder elektrische Eisenbahnen oder den Geruch von Kernseife. Doch zweihundert Seiten weiter steht, sagen wir, eine Verfolgungsjagd an, unsere Figur verfolgt einen Bösewicht in einen Blumenladen, den wir hundert Seiten vorher in einem völlig anderen Zusammenhang und ohne irgendeine Verbindung zu der Charakterisierung unserer Figur erwähnt haben – vielleicht haben wir an dem Tag zufällig Blumen gekauft oder welche bekommen und sind dadurch auf die Idee gekommen –, doch jetzt merken wir, daß die ursprünglich absichtslos erwähnte Liebhaberei plötzlich sehr wohl eine Bedeutung bekommt.

Man kann jetzt keine wilde Schießerei in dem Blumenladen stattfinden lassen. Man hat stattdessen drei andere Möglichkeiten: 1. Man ändert die Handlung im Blumenladen, dort findet keine Schießerei mehr statt. 2. Man verlegt die Schießerei in einen anderen Laden. 3. Man ändert in den vorangegangenen Kapiteln die Blumenliebe in etwas anderes. In einem Fortsetzungsroman bleibt einem die dritte Möglichkeit versperrt, denn die vorherigen Kapitel sind ja bereits veröffentlicht. Und das ist nur ein Detail, von denen es im Verlauf der Geschichte immer mehr gibt, und in denen man sich dann irgendwann verheddert. Ich kenne dieses Phänomen sehr gut.

Auf den eigentlichen Inhalt des Romans will ich hier gar nicht eingehen, sondern nur auf ein Problem, über das jeder schon einmal nachgedacht hat, der sich mit der Möglichkeit außerirdischen Lebens und des Kontakts mit fremden Spezies beschäftigt hat. Andreas Eschbach verpackt das Problem in „Nemezirs Berechnung“:

Die auf dem Planeten Erde entstandenen Spezies sind gekennzeichnet durch die im bekannten Universum einzigartige Eigenschaft, sich unaufhaltsam exponentiell zu vermehren. Die Spezies der Menschen zeichnet sich darüber hinaus durch das geistige Potential aus, alle naturgegebenen Beschränkungen früher oder später zu überwinden. Im Augenblick ist diese Spezies noch auf ihren Heimatplaneten beschränkt, doch ist nicht unvorstellbar, daß sie eines Tages imstande sein wird, auch diese Begrenzung zu überwinden und andere Planeten zu besiedeln. Entsprechende Pläne existieren, ungeachtet ihrer derzeitigen Undurchführbarkeit, seit langem.

Eine einfache Rechnung zeigt, daß daraus eine ungeheure Gefahr resultiert. Die Vermehrungsrate der Menschen beträgt im Augenblick etwa 1,6% pro Erdjahr, was einer Verdoppelung ihrer Zahl alle 45 Erdjahre entspricht. Mit anderen Worten, fielen alle noch bestehenden Schranken weg, wäre ein zweiter Planet nach 45 Erdjahren genauso dicht besiedelt wie die Erde heute. Nach 90 Jahren wären es bereits vier Planeten, und immer so weiter. Das meinen wir, wenn wir von Exponentialdrift sprechen.

Nun ist die Zahl der Sterne zwar groß, dennoch aber endlich. In dieser Galaxis, von den Menschen »Milchstraße« genannt, ist von etwa 100.000 für Besiedelung geeigneten Planeten auszugehen. Wie untenstehende Hochrechnung zeigt, wäre bei einem angenommenen Beginn derartiger Aktivitäten im Jahre 2010 irdischer Zeitrechnung bereits im Jahr 3225 die gesamte Galaxis besiedelt. Dem Vermehrungspotential von dann fast einer Trilliarde Individuen würde auch das übrige Universum nicht lange standhalten: Wir können von einer Gesamtzahl von etwa 100 Milliarden Galaxien ausgehen, und selbst wenn wir der Einfachheit halber annehmen, daß alle davon einen ähnlich geeigneten Lebensraum darstellen wie diese – was sicher nicht der Fall ist – wäre dennoch bereits im Jahr 4395 irdischer Zeitrechnung das gesamte bekannte Universum von Menschen besiedelt.

Man mag an den von Eschbach gewählten Zahlen herumkritteln, aber wenn man die folgenden Annahmen als Fakten akzeptiert,

1.    Im Verlauf der Evolution setzen sich erfolgreiche (intelligente) Spezies gegenüber anderen durch.

2.    Erfolgreiche Spezies vergrößern ihre Individuenzahl.

3.    Der Raum zwischen den Planeten, den Sonnen, den Galaxien ist nicht unüberwindbar.

dann ergibt sich das zentrale Problem: Wo sind die außerirdischen Intelligenzen?

Man kann empirische Nichtexistenz im Gegensatz zu logischer nicht beweisen, nur durch den Nachweis von Existenz widerlegen. Wenn man also bisher noch niemanden „da draußen“ gefunden hat, dann gibt es nur die folgenden und alle auf ihre Weise sehr merkwürdigen Vermutungen:

1.    Wir sind die einzige intelligente Spezies in der Nähe / in der Galaxis / im Universum.

2.    Wir sind die am höchsten entwickelte intelligente Spezies in der Nähe / in der Galaxis / im Universum.

3.    Die anderen sind bereits wieder ausgestorben.

4.    Die anderen verstecken sich vor uns.

5.    Die anderen kommunizieren oder sind völlig anders als wir.

Gastbeitrag von: Dr. Ralf Poschmann

zum vorherigen Blogeintrag                                                                         zum nächsten Blogeintrag 

 

Liste aller bisherigen Blogeinträge

Kommentare: 0

Impressum | Datenschutz | Cookie-Richtlinie | Sitemap
Diese Website darf gerne zitiert werden, für die Weiterverwendung ganzer Texte bitte ich jedoch um kurze Rücksprache.