Das erste Buch von Stephen Hawking, das ich gelesen habe, war Eine kurze Geschichte der Zeit. Seinerzeit hat er geschrieben, dass ihm sein Lektor nahegelegt hat, Formeln zu vermeiden, da jede Gleichung die Verkaufszahlen halbiert. Im Jahr 2010 ist ein neues Buch von ihm erschienen, Der große Entwurf, das ich mir jetzt vorgenommen habe. Koautor war Leonard Mlodinow, ebenfalls ein bekannter Physiker. In den vergangenen Jahren sind zu ihrem Buch bereits eine ganze Reihe von Rezensionen erschienen. Das Laienpublikum hat das Buch wieder sehr positiv aufgenommen. Es war auch mein Eindruck, dass es sprachlich sehr genau ist und komplexe Sachverhalte anschaulich darstellt. Formeln gibt es (fast?) gar keine, aber eine größere Anzahl von Abbildungen.
Doch Kritik gab es dieses Mal eine ganze Menge, natürlich vor allem von Philosophen und Theologen, denn Hawking und Mlodinow schreiben gleich in der Einleitung, dass die Philosophie tot ist und die Physik die Welt erklären kann – und natürlich sind sie auch der Meinung, dass Gott zur Erklärung der Entstehung des Universums überflüssig ist. Irgendwie fühlte ich mich an das folgende Bonmot erinnert:
„Gott ist
tot“, sprach Nietzsche.
„Nietsche ist tot“, sprach Gott.
Da es eine Vielzahl von Rezensionen bereits gibt (eine kurze Liste mit meinem Anmerkungen am Ende), möchte ich mich auf die Aspekte beschränken, die mir besonders wichtig sind. In den ersten Kapiteln beschäftigen sich die Autoren mit dem Begriff der Realität. Sie nennen ihren Ansatz „modellabhängige Realität“: Alle Phänomene, die wir beobachten, sehen wir durch die Brille unserer Theorien, einen unmittelbaren (naiven) Zugang zur Realität haben wir nicht. Als Beispiel werden im Buch die verschiedenen Modelle gebracht, wie wir uns die Planetenbahnen erklären. Man kann das mit den Epizyklen so wie Ptolemäus tun, wenn die Erde im Mittelpunkt stehen soll. Man kann die Sonne in den Mittelpunkt des (Sonnen)Systems stellen. Beide Ansätze erklären die Beobachtungen, die zur jeweiligen Zeit möglich waren, ausreichend genau.
Der „modellabhängige Realismus“ ist nichts wirklich Neues, die philosophischen Begriffe Kritischer Rationalismus, Hypothetischer Realismus und Duhem-Quine-These beschreiben Ähnliches. Auch die Frage, inwieweit es sinnvoll ist, zwischen das beschreibende Modell und die beschriebene Wirklichkeit noch ein Blatt zu schieben, ist nicht neu: Gibt es eine (unerkennbare) Wirklichkeit hinter dem Modell oder ist das Modell die Wirklichkeit?
Wie schnell man damit ins Straucheln geraten kann, zeigt ein kurzer Exkurs zum Thema des Bewusstseins und des freien Willens, den man im Buch findet. Hawking und Mlodinow geben zu, dass es aufgrund der Komplexität des Gehirns nicht möglich ist nachzurechnen, wie das Gehirn auf der Basis der Elementarteilchen, also der Physik, arbeitet. Deshalb halten sie die Hypothese vom freien Willen und die Psychologie als Wissenschaft für sinnvoll und bezeichnen sie „effektive Theorie“. Wenn man aber wissenschaftlich nicht nachweisen kann, wie die Elementarteilchen Bewusstsein hervorbringen, warum sollte man dann diesen Zusammenhang für real halten? Das im Buch gebrachte Beispiel mit Conways Spiel des Lebens greift hier nicht. Denn dieses ist ja dadurch gekennzeichnet, dass man rechnerisch zeigen kann, wie dort die Komplexität entsteht, etwas, dass einem beim Bewusstsein gerade nicht gelingt!
Die Schwierigkeiten mit dem Realitätsbegriff in der modernen Physik kann man am besten an dem auch im Buch ausführlich diskutierten Doppelspaltversuch und seiner wissenschaftlichen Beschreibung verdeutlichen. Schickt man einen Lichtstrahl durch einen Doppelspalt, dann erhält man auf der anderen Seite ein für Wellen typisches Interferenzmuster. Dieses Interferenzmuster verschwindet auch nicht, wenn man nacheinander nur mit einzelnen Photonen arbeitet. Das widerspricht unserer Alltagserfahrung mit großen Gegenständen, denn diese würden beim Vorhandensein von zwei Spalten entweder durch den einen oder durch den anderen Spalt gehen. Jedes einzelne Photon „weiß“ aber offensichtlich, dass zwei Spalte vorhanden sind und verhält sich entsprechend.
Die heute übliche Berechnungsmethode für derartige Phänomene stammt von Richard Feynman. Dieser hat selbst ein für ein Laienpublikum geeignetes Buch geschrieben, „Die seltsame Theorie des Lichts und der Materie“. In seinem Modell wird über alle Wege, durch die das der Unschärferelation unterliegende Photon gehen könnte, summiert. Das Ergebnis ist die Wahrscheinlichkeit, nach dem Doppelspalt ein Photon an einer ganz bestimmten Stelle zu detektieren. Die bildliche Vorstellung ist, dass das Photon mit sich selbst interferiert, so als ob es tatsächlich alle Wege gleichzeitig absolvieren würde. Wenn wir jetzt den modellabhängigen Realismus anwenden und keinen Unterschied zwischen der Realität und dem Modell machen, was meinen wir damit genau? Dass sich das Photon so verhält, wie es das tut und dass das die Realität ist, ist eine Binse. Aber gehört zur Realität auch das Feynmansche Rechenverfahren oder die bildliche Vorstellung des gleichzeitigen Durchlaufens aller Wege?
Wohin uns der Ansatz führt, keinen Unterschied zwischen der Realität und unseren aktuellen Modellen zu machen und jegliche Metaphysik abzulehnen, zeigt am besten die Diskussion um das anthropische Prinzip, die ebenfalls einen großen Raum im Buch einnimmt. Dieses Prinzip besagt, in einem Satz zusammengefasst, dass wir uns nicht darüber wundern sollten, dass das Universum so merkwürdig feinabgestimmt ist, dass es uns geben kann, denn wir können uns ja nur darüber wundern, weil es uns gibt.
Nun ist es aber so, dass die (von uns aufgestellten oder gefundenen) physikalischen Gesetze eine große Bandbreite möglicher Werte der Naturkonstanten zulassen. Damit das nicht so wie ein merkwürdiger Zufall aussieht (und um jede Möglichkeit eines „Gott war’s!“ auszuschließen), argumentieren Hawking und Mlodinow, dass es eine Vielzahl von Paralleluniversen geben muss. Dann wäre es kein seltsamer Zufall mehr, dass unser Universum so lebensfreundlich ist. Hier verwenden sie dieselbe Argumentation, die die Vertreter der Viele-Welten-Interpretatation der Quantenmechanik auch nutzen: Bei der Beobachtung eines quantenmechanischen Vorgangs kollabiert nicht die Wellenfunktion, sondern das Universum spaltet sich in zig Versionen seiner selbst auf, wobei in jedem einer der möglichen Werte realisiert wird.
Dieses Erklärungsmuster wird noch ein drittes Mal verwendet, als es um die Theorie für alles geht, um den großen Entwurf. Hawking und Mlodinow sind der Meinung, dass die M-Theorie der „Weltformel“ am nächsten kommt. Unter dieser Theorie wird die Vereinigung der verschiedenen Varianten der Stringtheorie unter einem Dach verstanden. Keine der Stringtheorien deckt alles ab, aber Edward Witten hat gezeigt, dass sie irgendwie zusammenhängen und sich ihre Anwendungsgebiete überlappen. Nur leider offenbart auch die M-Theorie unzählige (vielleicht 2^500) mögliche Lösungen, von denen man nicht weiß, welche unser Universum beschreibt – weil es keine Experimente gibt, mit denen man Vorhersagen prüfen könnte. Also postuliert man auch hier die Existenz von – unbeobachtbaren – Paralleluniversen und hält das Problem damit für gelöst. Meiner Meinung nach wäre es ehrlicher zu sagen: Wir wissen noch nicht, warum die Naturkonstanten genau die Werte haben, die wir messen, aber wir arbeiten daran.
Bei den Stringtheorien ist es noch kritischer als bei anderen Theorien, denn die besondere Kleinheit der Strings impliziert zugleich die besondere Größe der Energie, die für Experimente aufgebracht werden müsste. Diese liegt weit außerhalb dessen, was uns derzeit und in naher Zukunft möglich ist. Und bis heute ist auch eine weitere Voraussetzung aller vergleichbaren Theorien nicht erfüllt – sie setzen Supersymmetrie voraus. Von den supersymmetrischen Teilchen wurde aber bisher kein einziges experimentell nachgewiesen. Man kann das polemisch zuspitzen: Während die einen Gott bemühen, um die unerklärlich gute Abstimmung des Universums für Leben zu erklären, postulieren die anderen unbeobachtbare Paralleluniversen. Ist das nun besser?
Da halte ich mich doch lieber an die viel gescholtenen Philosophen, die in solchen Fällen gemerkt haben, dass jede Argumentationskette abbrechen muss, wenn sich nicht in einen Zirkelschluss geraten will. Man kann nicht unendlich oft fragen und wieder eine neue Antwort erhalten: „Und was ist jetzt wieder die Ursache von dem?“ Man muss irgendwo abbrechen und an dieser Stelle klar sagen: „Hier komme ich nicht weiter und muss eine Voraussetzung annehmen, die ich für richtig halte, ohne sie beweisen zu können.“ Auf die Physik bezogen bedeutet das, dass am Ende aller Theorien Annahmen stehen, die nicht mit Experimenten belegt werden können – zum Beispiel die Annahme von unbeobachtbaren Paralleluniversen. Das ist dann aber Metaphysik, auch wenn Hawking das nicht zugibt.
Andere Rezensionen
· Florian Freistetter hat in Astrodicticum simplex eine Rezension geschrieben, die eine ausführliche Inhaltsangabe des Buchs enthält.
· Josef Honerkamp, den ich als Blogautor sehr schätze, hat in seinem Blog Die Natur der Naturwissenschaften ebenfalls eine wohlwollende Rezension verfasst.
· Wie bereits erwähnt, ist es wenig verwunderlich, dass besonders von Seiten der Philosophen und Theologen kritische Rezensionen geschrieben wurden. Hier ein charakteristisches Beispiel. Der Autor dieses Vortrags, Hans-Dieter Mutschler, ist sowohl Theologe als auch (Natur)Philosoph. Im zweiten Teil des Textes holt er, mit seinen eigenen Worten, „die Leichen des Naturalismus aus dem Keller nach oben“.
· Weitere interessante Besprechungen in FAZ, Süddeutscher und Tagesspiegel.
Gastbeitrag von: Dr. Ralf Poschmann