Mitte der Woche habe ich den interessanten Blogbeitrag Von Evolution zum Konstruktivismus gelesen. In seinem Text stellt Joachim Schulz eine Analogie zwischen dem Ablauf der Evolution und dem methodischen Vorgehen in der Wissenschaft auf. Die Idee dazu hat er aus einem Buch von Ernst von Glasersfeld entnommen:
Ernst von
Glasersfeld, einer der Begründer des radikalen Konstruktivismus, hat in einem Vortrag Mitte der 80er Jahre den Vergleich mit der Evolution benutzt um seinen erkenntnistheoretischen Standpunkt zu
erläutern.
…
Wenn wir
mit offenen Augen durch die Welt gehen und die Zusammenhänge zu verstehen versuchen, haben wir oft einen naiven Realismus im Kopf. Wir nehmen an, dass uns unsere Sinne ein direktes Abbild der
Realität geben und dass wir die Welt umso genauer erkennen, je exakter wir unsere Messmethoden ausfeilen. Tatsächlich haben wir aber gar keinen von der Wahrnehmung unabhängigen Zugriff auf
irgendeine Realität. Wir müssen zugeben, dass die Annahme, es gäbe da draußen eine Realität Metaphysik ist. Physikalisch experimentell beweisen können wir die Realität nicht.
Was wir
haben sind Wahrnehmungen, die wir durch Instrumente verfeinern und erweitern können, und Theorien. Die Theorien der Physik machen immer Aussagen über die Wahrnehmungen. Oft machen sie aber
darüber hinausgehende Aussagen. Zum Beispiel behauptet die Quantenmechanik in ihrer Standardinterpretation, dass es echten Zufall gibt. Die Viele-Welten-Interpretation behauptet dagegen, dass das
Universum sich ständig in unzählige Unterbereiche aufspaltet. Nicht zuletzt behauptet die Quantenmechanik in jeder beliebigen Interpretation, dass es Wellenfunktionen gibt, obwohl diese nicht
direkt wahrnehmbar sind.
…
Radikale Konstruktivisten betrachten Theorien nicht als Abbildungen der Realität, sondern als Konstruktionen, die versuchen Wahrnehmungen miteinander sinnvoll zu verknüpfen. Diese Konstruktionen
können sich bei weiteren Experimenten bewähren oder sie können scheitern. Zu keiner Zeit sind sie aber etwas anderes als menschengemachte Konstruktionen. Wir finden Naturgesetze nicht, wir
konstruieren sie.
Ich habe
lange darüber nachgedacht, wo der entscheidende Unterschied des Konstruktivismus zu Poppers kritischen Rationalismus ist. Mit meinem Mitblogger Dierk Haasis von den Chronologs bin ich
einig geworden, dass es in der wissenschaftlichen Praxis keinen Unterschied gibt.
Ich habe mich dann schnell, ohne die anderen Kommentare durchgelesen zu haben, zu einer Antwort hinreißen lassen:
Poppers Begriff des „kritischen Rationalismus“ (*)ist unglücklich gewählt, weil der Begriff des Rationalismus ja bereits als Gegensatz zum Empirismus verwendet wurde. Besser wäre es, hier den Begriff „kritischer Realismus“ zu verwenden.
Eine
ähnlichen Bezug zwischen Evolutionstheorie und Erkenntnistheorie stellt auch die Evolutionäre Erkenntnistheorie her. Hier passt die Begriffsbildung recht gut zum Inhalt. Ein noch lebender
Vertreter ist Gerhard Vollmers, und auch Karl Popper taucht in der Vorgeschichte dieses Ansatzes auf. In Bezug auf das Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Erkenntnis verwenden die EEler den
Begriff „hypothetischer Realismus“, der mir sehr treffend erscheint und weitgehend dassselbe bedeutet wie „kritischer Realismus“.
(*) Im
Text wird auf den kritischen Realismus verwiesen, der einen Bestandteil des kritischen Rationalismus von Popper darstellt.
Inzwischen habe ich zu den verwendeten Begriffen nochmals nachgelesen und gemerkt, dass ich da wohl
einigen Unsinn geschrieben habe. Deshalb hier (vor allem für mich selbst) einige Begriffsklärungen.
Wie Joachim Schulz in seinem Beitrag richtig angemerkt hat (und auch viele andere vor ihm), sind wahrscheinlich alle Menschen im Alltag naive Realisten. Beim naiven Realismus denkt man,
dass die Realität so ist, wie man sie mit seinen Sinnen wahrnimmt. Wenn man sich mit einem Hammer auf den Daumen haut, dann zweifelt man in diesem Moment nicht an der tatsächlichen Existenz des
Hammers und an der Existenz des Schmerzes. Aber bereits wenn man an die Farbwahrnehmung denkt oder an viele optische Täuschungen, kommen einem die ersten Zweifel. Und abstrakte Begriffe wie zum
Beispiel „Freiheit“ kann man sicher nicht auf eine unmittelbare Sinneswahrnehmung zurückführen, trotzdem wird „Freiheit“ (oder ihr Fehlen) als „real“ wahrgenommen.
Im verlinkten Blogbeitrag wird dann der kritische Realismus erwähnt. Beim kritischen Realismus wird die Existenz einer Realität unabhängig von der menschlichen Wahrnehmung nicht in Frage gestellt. Allerdings ist unsere Wahrnehmung fehlerhaft, weshalb das Denken und das Aufdecken und Beseitigen von Widersprüchen wesentliche Bestandteile unserer Vergrößerung des Wissens über die Realität darstellen.
Dieser kritische Realismus ist von seiner Methodik her ein Bestandteil des kritischen Rationalismus:
Der Kritische Rationalismus ist eine von Karl Popper begründete philosophische Denkrichtung. Popper beschreibt ihn als Lebenseinstellung, „die zugibt, dass ich mich irren kann, dass du recht haben kannst und dass wir zusammen vielleicht der Wahrheit auf die Spur kommen werden“.
Man sollte sich hier außer der Verbindung zum kritischen Realismus, der vor allem das iterative Voranschreiten in der Wissenschaft betrifft und das damit verbundenen Falsifikationsprinzips, auch die Anwendbarkeit in der Ethik und der Politik merken. Da es nirgendwo Letztbegründungen geben kann, gilt:
Als Konsequenz der Idee des Kritizismus setzt sich der Kritische Rationalismus für eine offene Gesellschaft ein. Nur in einer Gesellschaft, die nicht an Dogmen und starre Lebensweisen gebunden ist, besteht die Möglichkeit zu ständigen Reformen, also zu Verbesserungen durch Fehlerbeseitigung und Erwägung von Alternativen. Die Ergebnisse von Poppers Wissenschaftstheorie werden auf diese Weise politisch wirksam.
Aber jetzt zurück zum Thema.
Spätestens die physikalischen Theorien zu Anfang des 20. Jahrhunderts haben die Frage aufgeworfen, inwieweit wir überhaupt Aussagen über eine unabhängig von unserer Wahrnehmung vorhandene Realität treffen können. Eine Antwort innerhalb realistischer Positionen versucht der hypothetische Realismus zu geben. Seine Grundidee ist vielleicht mit folgendem Satz wiederzugeben: „Wir können zwar nicht beweisen, dass es eine beobachterunabhängige Realität gibt, aber das ist eine sinnvolle Hypothese.“ An den drei Voraussetzungen des hypothetischen Realismus (laut Wikipedia)
1. Es gibt mindestens eine vom Menschen unabhängige Realität.
2. Diese Realität hat eine Struktur, wonach kausale Relationen (Ursache-Wirkungs-Beziehungen) objektiv existieren.
3. Diese realen Strukturen sind zumindest teilweise erkennbar.
scheint mir die erste merkwürdig. Wenn man nämlich die Existenz mehrerer Realitäten nicht ausschließt, dann wird die zweite Voraussetzung fraglich. Wichtiger als diese drei Punkte scheint mir aber zu sein, dass der hypothetische Realismus der Meinung ist, dass man Erkenntnisse über die Realität gewinnen kann, ohne etwas über ihren ontischen Status zu wissen. (D.h. ob und wie eine beobachterunabhängige Realität existiert.)
Der hypothetische Realismus wird meist im Zusammenhang mit der evolutionären
Erkenntnistheorie erwähnt. Die löst mit den Erkenntnissen der Evolutionstheorie den Widerspruch zwischen Rationalismus und
Empirismus: Wie kann man etwas lernen, wenn man nicht gelernt hat zu lernen? Die Antwort der EE: Jedes
Lebewesen kommt mit ererbten Fähigkeiten auf die Welt, d.h. es gibt Fähigkeiten eines Lebewesens, die es nicht erlernen muss, weil sie seine Spezies im Zuge der Evolution bereits erworben hat.
Und die Fehlleistungen bzw. die Beschränkungen der Sinne und des Denkens jedes Individuums sind ebenfalls evolutionäre Produkte.
Einen anderen Standpunkt als die Vertreter der verschiedenen Strömungen des Realismus nehmen die Konstruktivisten ein. Im radikalen Konstruktivismus
heißt es:
Der Radikale Konstruktivismus ist eine Position der Erkenntnistheorie, die sich deutlich von anderen Konstruktivismen unterscheidet. Die Kernaussage des radikalen Konstruktivismus ist, dass eine Wahrnehmung kein Abbild einer bewusstseinsunabhängigen Realität liefert, sondern dass Realität für jedes Individuum immer eine Konstruktion aus Sinnesreizen und Gedächtnisleistung darstellt. Deshalb ist Objektivität im Sinne einer Übereinstimmung von wahrgenommenem (konstruiertem) Bild und Realität unmöglich; jede Wahrnehmung ist vollständig subjektiv. Darin besteht die Radikalität (Kompromisslosigkeit) des radikalen Konstruktivismus.
Meiner Meinung nach schießt der radikale Konstruktivismus deutlich über das Ziel hinaus, denn auf seiner Grundlage kann man nicht gut erklären, wieso verschiedene Menschen zu weitgehend denselben Schlussfolgerungen kommen, sei es im Alltag oder in den Wissenschaften. Worin besteht denn das Verbindende zwischen ihnen? Aus diesem Grund gibt es auch abgeschwächte Formen des Konstruktivismus, wie z.B. den Erlanger Konstruktivismus.
Man kann den Konstruktivismus auch noch stärker extremalisieren und gelangt damit zum Solipsismus. So wie es hier gedacht ist, bedeutet der Solipsismus:
Nur das eigene Ich existiert. Nichts außerhalb des eigenen Bewusstseins existiert, auch kein anderes Bewusstsein.
Formal logisch lässt sich eine solche Haltung nicht widerlegen, aber einige Plausibilitätsargumente dagegen lassen sich finden, z.B.: „Warum sollte ich mir selbst Schmerzen zufügen, wenn nur ich (mein Bewusstsein) existiert?“
Werden die Naturgesetze von uns nun ge- oder erfunden? – Der Unterschied zwischen realistischen und konstruktivistischen Positionen lässt sich offenbar in dieser einen Frage zusammenfassen. Der Dissens kommt dadurch zustande, dass die verschiedenen Parteien das Schwergewicht auf jeweils verschiedene Teilaspekte legen. Aber Joachim Schulz war in seinem eingangs verlinkten Blogartikel ja auch bereits zu dem Schluss gekommen, dass sich die Methodik in den Naturwissenschaften für Realisten und Konstruktivisten nicht voneinander unterscheidet. Meiner Meinung nach werden die Gesetzmäßigkeiten selbst (die Zusammenhänge) gefunden, die mathematische Formulierung aber erfunden. Ich hatte das hier schon einmal ähnlich formuliert. Die beobachtete Natur existiert unabhängig von uns, aber die sie untersuchende Wissenschaft ist bereits eine Kulturleistung.
Gastbeitrag von: Dr. Ralf Poschmann