Manchmal vergehen Jahre zwischen dem Zeitpunkt, an dem man ein Buch kauft, und dem, an dem man es liest. Und häufig kann ich mich dann nicht mehr daran erinnern, wo ich das Buch erworben habe und warum. Starkmuths Buch ist so ein Fall. Nach dem Lesen weiß ich, dass ich es sicher nicht aufgrund einer Empfehlung aus einem Wissenschaftsmagazin gekauft habe, vermutlich war es eine Spontanentscheidung, als ich irgendwann, irgendwo ein bisschen Zeit übrig hatte und in der nächstbesten Buchhandlung gelandet bin. Wahrscheinlich habe ich etwas im Buch geblättert und die ersten Seiten sprachen mich an.
„Hätte ich
keinen Namen für das, was ist, wäre ich umgeben von Wundern.“
Diese
Worte notierte ich im Sommer 2001, inspiriert von einer Wanderung auf dem Odilienberg im Elsass, einem der bedeutendsten Heiligtümer der alten keltischen Kultur in Mitteleuropa. Das Bewusstsein,
von den Relikten und Energien dieser uralten Vergangenheit umgeben zu sein, verstärkte noch den Eindruck des Magischen, der die Bilder von moosbewachsenen Felsen und üppigem Grün
begleitete.
Das ist doch eine interessante Beobachtung, zu der in der Einleitung weitere Facetten hinzugefügt werden, z.B.:
… macht
deutlich, dass die Welt der Dinge eine künstliche Trennung zwischen einzelnen Strukturen der realen Welt erfordert, um jede Erscheinung einem Begriff zuordnen zu können. Die reale Welt sieht
anders aus. Bei einem Apfel, der am Baum hängt, ist noch relativ klar, wo der Apfel aufhört und wo der Ast anfängt. Aber wie sieht es aus, wenn der Apfel seit zwei Wochen auf der Erde liegt und
bereits halb vermodert und zerfallen ist? Wo hört der Apfel auf und wo fängt die Erde an? Ist das überhaupt noch ein Apfel?
…
Interessanter wird es, wenn wir den Bereich der materiellen Gegenstände verlassen, auf deren Wahrnehmung und Beschreibung sich unsere Sinnesorgane und unsere Sprache vermutlich ursprünglich
beschränkten. Mit dem Fortschreiten der Zivilisation und dem zunehmenden Erfolg im Überlebenskampf fanden die Menschen mehr und mehr Zeit, auch über Sachverhalte nachzudenken, die das Überleben
nicht unmittelbar betrafen und nichtmaterieller Natur waren, beispielsweise Gefühle oder Fragen über Ursprung und Sinn der Welt. Natürlich wollte man sich auch über diese Dinge (man beachte die
erweiterte Bedeutung des Wortes) mit seinen Mitmenschen austauschen und griff dazu auf das bewährte Kommunikationsmittel Sprache zurück. Die Gewohnheit, alles mit Begriffen und Namen zu belegen,
wurde auch hier konsequent fortgesetzt, weil die Sprache ja genau darauf basierte und somit keine Alternativen bot. So kam es, dass auch Konzepte, die eigentlich keine klar definierten
»Gegenstände« im klassischen Sinne waren, in das Begriffskonzept gezwängt wurden, und es entstanden Begriffe wie »Liebe«, »Wahrheit«, »Zeit« und »Gott«.
Mindestens zwei bemerkenswerte Sachverhalte verstecken sich hinter diesem Wechselverhältnis zwischen der Welt und ihrer Beschreibung mit Worten: Es fällt wesentlich schwerer etwas wahrzunehmen, wenn es noch nicht benannt ist. Und wenn etwas benannt ist, dann zwingt die Sprache dem Betreffenden (implizite) Regeln auf, die uns in die Irre führen können.
Dieses einleitende Kapitel hat mir wirklich gut gefallen. Auch die folgenden drei Kapitel fand ich sehr gut gelungen. Hier werden nacheinander die Relativitätstheorie, die Quantenphysik und kosmologische Modelle vorgestellt. Interessant war hier zum Beispiel das Weiterspinnen des berühmten Experiments der Schrödingerschen Katze. Ich denke, ich kann mir hier die ausführliche Wiederholung der Beschreibung ersparen und gleich das Zitat mit Starkmuths Ergänzungen anfügen:
Noch vertrackter wird es, wenn man den Gedanken weiterspinnt: Wenn jemand die Kiste öffnet und den Zustand der Katze feststellt (bzw. durch die Beobachtung erst festlegt), kann ja auch wiederum der Zustand dieses Beobachters (beispielsweise glücklich oder traurig) vom Zustand der Katze abhängen. Wenn er nun vor diesem Vorgang die Tür schließt, würde sein im Vorzimmer zurückgebliebener Freund ihn nicht beobachten können, und damit würde auch der Katzenbeobachter in einen Undefinierten Zustand geraten (glücklich und traurig zugleich48), bis sein Freund die Tür öffnet. Man kann natürlich auch noch einen dritten Beobachter einführen, der den Beobachter des Beobachters beobachtet…
Das sind in der Tat sehr aktuelle (physikalische) Fragestellungen: Wie groß können quantenphysikalische Objekte sein, wie weit kann man die seltsamen Auswirkungen der Quanten- in der Makrowelt spüren? Der aktuelle Stand ist meines Wissens nach, dass es keine scharfen Grenzen gibt. Wo sollten die auch liegen?
Mit dem fünften Kapitel ändert sich meine Einschätzung des Buchs fundamental. Erst jetzt, beim erneuten Durchblättern, sind mir einige Anzeichen bereits schon vor diesem Kapitel aufgefallen, die mich hätten stutzig machen sollen, zum Beispiel dieser Abschnitt:
Beide
Interpretationen (*)sind, wie zuvor beschrieben, problematisch in ihren jeweiligen Konsequenzen. Meines Erachtens lässt sich das Problem nur dadurch elegant lösen, dass man das Bewusstsein des
Beobachters als unabhängig von dessen materieller Existenz als Mensch betrachtet. Dann wird plötzlich alles viel einfacher: Der materielle Beobachter (Mensch),
der ja aus Elementarteilchen besteht, »existiert« (im Sinne einer möglichenRealität) tatsächlich in allen möglichen Varianten (bzw. als Kontinuum möglicher Quantenzustände) im
Multiversum.
Sein Bewusstsein hingegen
existiert nur einmal, und dieses Bewusstsein wählt eine der möglichen materiellen Varianten der Welt (einschließlich seines physischen Körpers!) zur Beobachtung aus, die dadurch zu
seiner erlebten Wirklichkeit wird. Die quantenphysikalische Wahrscheinlichkeit einer Realitätsvariante wäre dann ein Maß dafür, wie leicht oder schwer es dem Bewusstsein fällt, diese Variante
»anzusteuern«.
(*) Hier
sind die Kopenhagener Deutung und die Viele-Welten-Deutung gemeint.
Spätestens seit Descartes ist die philosophische Strömung des Dualismus bekannt, die sich mit dem Problem herumschlägt, wie denn Materie und Geist miteinander wechselwirken können, wenn sie denn getrennt voneinander betrachtet werden sollen. Dieses Problem verschwindet am einfachsten dadurch, dass man es als ein rein sprachliches erkennt: Erst dadurch, dass wir zwei verschiedene Aspekte der Realität mit den zwei verschiedenen Wörten „Materie“ und „Bewusstsein“ bezeichnen und diese mit unterschiedlichen Eigenschaften charakterisieren, erzeugen wir das Problem, wie diese beiden miteinander wechselwirken.
Nach der Einleitung des Buches hätte ich eigentlich erwartet, dass Starkmuth genau das erkennt. Aber seine Theorie ist eine andere: Aus dem „Raum der Möglichkeiten“ wählt das Bewusstsein eine Variante aus, die damit zu „seiner Realität“ wird. Oder anders gesprochen: Wir erschaffen die Realität selbst.
Die Beispiele schöpft Starkmuth aus Ergebnissen, die im Rahmen der PEAR-Studien (Princeton Engineering Anomalies Research) an der Princeton University gewonnen wurden (inzwischen ist das Institut geschlossen) und aus Büchern von Bärbel Mohr. Über diese schreibt er:
Wussten
Sie, dass das Universum einen Versandhandel betreibt? Wenn ja, zählen Sie vermutlich zu den Lesern des Buches „Bestellungen beim Universum“ von Bärbel Mohr oder haben zumindest davon gehört.
Dieses und weitere Bücher derselben Autorin stehen seit Jahren auf den deutschen Bestseller-Listen für »esoterische« Literatur – dabei ist Bärbel Mohr keineswegs eine eingefleischte Esoterikerin,
sondern eigentlich eine ziemlich handfeste Frau. Bevor Sie auf »ihr« großes Thema stieß, war sie sogar eine klassische Skeptikerin.
Als eine
Freundin, die gerade ein Buch über positives Denken gelesen hatte, ihr vorschlug, sie solle sich doch ihren Traummann »einfach beim Universum bestellen«, geriet sie mit Bärbel, die nichts von
solchem Humbug hielt, in ein Streitgespräch. Es endete damit, dass Bärbel eine »Testbestellung« beim Universum aufgab – wohlgemerkt um ihrer Freundin zu beweisen, dass es nicht funktionieren
würde. Statistisch gesehen war die Erfüllung ihres Wunsches auch so gut wie unmöglich: Sie bestellte sich (unter Anwendung eines kleinen Rituals bei Vollmond auf dem Balkon) einen Mann mit neun
ganz bestimmten Eigenschaften (Vegetarier, Nichtraucher, Antialkoholiker usw.), und das auch noch mit einem auf die Woche genau festgelegten »Liefertermin« (um die Wahrscheinlichkeit einer
»zufälligen« Erfüllung zu minimieren).
In den folgenden Abschnitten berichtet Starkmuth davon, dass Mohr ihren Traummann pünktlich erhielt, dieser sich aber in der darauffolgenden Zeit als doch nicht so traumhaft erwies und Mohr sich deshalb weitere Männer mit präzisierten Eigenschaften bestellte und geliefert bekam.
Tja, im Volksglauben ist die Idee weit verbreitet, dass man sich etwas nur genügend stark wünschen muss, damit es in Erfüllung geht. Wie kann man das widerlegen? Aus der Wissenschaftstheorie ist bekannt, dass man eine Theorie nicht beweisen kann, aber ein einziges Beispiel, dass nicht mit einer Theorie übereinstimmt, widerlegt sie. Als Starkmuth sein Buch geschrieben hat (vor 2009), war Bärbel Mohr noch am Leben. Im Jahr 2010 ist sie im Alter von 46 Jahren an Krebs gestorben. Hat sie sich ihren eigenen Tod gewünscht? Hat jemand anderes ihr den Tod gewünscht? Oder kann man beim Universum nichts bestellen, nicht mit der Kraft der eigenen Gedanken den Zufall beeinflussen?
Auf weiteren Seiten kann man dann lesen, wie die Immunisierungsstrategien der Esoteriker gegenüber Skeptikern funktionieren, zum Beispiel:
Unser Glaubenssystem sorgt dafür, dass die Realität, die wir durch unsere Wahrnehmung erzeugen, stabil bleibt. Indem wir glauben, dass die Welt, die wir erleben, die »einzig wahre« ist, richten wir unsere Wahrnehmung immer wieder auf diese Realitätsvariante und erzeugen sie dadurch – mit nur geringen Variationen – immer wieder neu. Ohne dieses Stabilisierungsprinzip könnten wir in jedem Moment jede beliebige Realität erzeugen.
Und kurze Zeit später:
Ein weiterer Grund ist, dass echte Wunder – also Ereignisse, die eindeutig dem herrschenden Weltbild widersprechen – für die meisten Menschen nicht zu ihrem (bewussten) Erfahrungsschatz gehören: »Wenn man die Realität beliebig formen kann, müsste es doch eigentlich jede Menge Wunder geben – warum erlebe ich dann keine?« Die Antwort hierauf habe ich schon gegeben: Wunder werden aufgrund des Realostat-Prinzips genau von denjenigen Menschen erlebt, deren Weltbild dafür Raum bietet – alle anderen manövrieren sich unbewusst um solche Ereignisse herum (oder interpretieren sie als »Zufall«). Somit ist die Abwesenheit von Wundern im Leben skeptischer Menschen kein Argument gegen unsere These, sondern bestätigt sie sogar.
Wissenschaftler können also die Existenz von Wundern nicht bestätigen, weil sie nicht an Wunder glauben. Das ist die perfekte Immunisierungsstrategie, die wissenschaftliche Standardmethode, gezielt nach Widerlegungen zu suchen und nichts zu glauben, wird einfach als ungeeignet verworfen. Man muss zuerst an Wunder glauben, um welche erleben zu können. Ich habe dann etwa bei dem folgenden Abschnitt aufgehört, weiter zu lesen:
Je nach Art der empfangenen Informationen wird das Phänomen in der Parapsychologie mit unterschiedlichen Namen belegt:
· Das Empfangen von Informationen über räumlich entfernte Ereignisse bezeichnet man als Fermvahrnehmung, umgangssprachlich auch »Hellsehen« genannt.
· Die Wahrnehmung von Informationen über zukünftige Ereignisse nennt man Präkognition, im Volksmund auch »Wahrsagen«.
· Umgekehrt spricht man von Retrokognition, wenn jemand Informationen über vergangene Ereignisse empfängt, über die er zuvor nichts wusste.
· Stammt die Information augenscheinlich von einer anderen (lebenden) Person, spricht man von Telepathie oder Gedankenübertragung.
· Wenn jemand offensichtlich Informationen von einer anderen Bewusstseinsin-stanz empfängt, die jedoch keiner lebenden Person zuzuordnen ist (beispielsweise von einer verstorbenen Person oder einem »höheren Wesen«), so wird dies als Channeling bezeichnet. Hierbei verschwindet das normale Ich-Bewusst-sein des Empfängers in einigen Fällen fast komplett – ihr Körper dient sozusagen einem anderen Wesen vorübergehend als »Sprachrohr« und wird dann auch Medium oder Kanal (engl. channel) genannt.
· Schließlich gibt es noch die Wahrnehmung komplett anderer Realitätsebenen. Hier spricht man meist von einer Vision (oder – bei anderer Interpretation – von Halluzinationen oder Wahnvorstellungen). Eine andere Variante sind die außerkörperlichen Erfahrungen oder Astralreisen, bei denen das Bewusstsein den physischen Körper vorübergehend verlässt und entweder die »normale« oder eine andere Realitätsebene bereist.
Ich habe dann nur noch ein wenig im Buch geblättert, vor allem um ein Kapitel über „Schuld“ zu finden, denn genauso wie das ein klassisches Problem der „normalen“ Religionen ist, die Theodizee (Warum lässt Gott das Leid in der Welt zu?), ist das natürlich auch ein Problem der Weltanschauungen, nach denen der Einzelne und alle zusammen die Realität erschaffen. Dazu vielleicht dieser Abschnitt:
Auch bei
Massenkatastrophen, denen viele Individuen zum Opfer fallen, halte ich es für denkbar, dass hier »höhere« Bewusstseinsebenen involviert sind, die möglicherweise mit solchen Ereignissen bestimmte
Absichten verfolgen (Katastrophen können durchaus positive Auswirkungen auf die Entwicklung des kollektiven Bewusstseins einer Gesellschaft haben), wobei die betroffenen Individuen natürlich
Aspekte dieser höheren Strukturen sind, aber auf individueller Ebene davon zumeist nichts wissen oder spüren. Allerdings kann ich mir ebenso gut vorstellen, dass solche Ereignisse schlicht das
Ergebnis von Rückkopplungsschleifen unseres chaotischen Kollektivbewusstseins sind, die auf keiner Bewusstseinsebene gezielt geplant wurden. Auch hier mögen je nach konkretem Fall beide Varianten
zutreffen. Ich wage es hier nicht, allzu weit zu spekulieren.
All diese
Beispiele zeigen, dass der Begriff »Schuld« – im Sinne einer individuellen Verantwortung für eine unerfreuliche Situation – in dem hier vorgestellten Weltbild kaum sinnvoll angewendet werden
kann, schon weil sich das Individuum gar nicht genau abgrenzen lässt. Auch die üblicherweise vorgenommene klare Unterscheidung zwischen »Täter« und »Opfer« ist in diesem Weltbild nicht haltbar.
Jede Situation wird von allen daran beteiligten Individuen gemeinsam erschaffen – man könnte auch sagen, sie ist die Schöpfung eines Gruppenwesens, das alle Beteiligten umfasst. Freilich nehmen
diese dabei sehr unterschiedliche Rollen ein, aber es ist meines Erachtens nicht sinnvoll, die Verantwortung für das Ergebnis nur einem der Beteiligten zuzuschieben. Beide sind eingebunden in das
zuvor beschriebene individuumsüberschreitende Netz von Einflüssen.
Ganz abgesehen von den begrifflichen Schwierigkeiten wirkt sich der Schuldgedanke äußerst destruktiv auf das menschliche Miteinander aus. Das Problem liegt fast immer darin, dass unterschiedliche
Wahrheitssysteme aufeinanderprallen.
Für jemanden wie den Autor, „der nicht allzu weit spekulieren möchte“, ist es schon bemerkenswert, dass er zuerst über die möglichen positiven Auswirkungen von Katastrophen sinniert und danach über die destruktive Wirkung des Schuldgedankens.
Bei Amazon wird das Buch von den meisten Lesern euphorisch rezensiert und die meisterhafte Synthese von akademischem und spirituellem Wissen bejubelt. Oje.
Gastbeitrag von: Dr. Ralf Poschmann