Im Philosophie-Buch gibt es zwei Doppelseiten über Jacques Derrida, einen französischen Philosophen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Wenn wir ein Buch in die Hand nehmen, gehen wir normalerweise davon aus, dass es als in sich geschlossenes, einigermaßen selbstständiges Ganzes zu begreifen ist. Und von philosophischen Texten erwarten wir, dass sie besonders systematisch und logisch aufgebaut sind. Stellen wir uns vor, wir gehen in eine Buchhandlung und kaufen uns ein Exemplar von Derridas Grammatologie. Wir gehen davon aus, dass wir nach der Lektüre des Buches wissen, was »Grammatologie« ist und was der Autor zu diesem Gegenstand zu sagen hat. Derrida enttäuscht diese Erwartung und zeigt, dass Texte ganz anders funktionieren.
Dieser Absatz ist (ungewollt?) ein Musterbeispiel dessen, was eine von Derridas Thesen und die Aussage des letzten Satzes ist. Worauf bezieht sich dieser letzte Satz? Enttäuscht Derridas Buch die Erwartungen der Leser oder zeigt Derrida im Buch, dass die Erwartungen der Leser von (fast) allen Büchern enttäuscht werden müssen und erfüllt sie damit? Wahrscheinlich beides. Jedenfalls hat Derrida eine Methode entwickelt, Texte zu analysieren: Dekonstruktivismus (*).
(*) Der Wikipediaartikel über den Dekonstruktivismus ist ein typisches Beispiel für einen schlechten Text, der dem Anspruch der Wikipedia, ein allgemeinverständliches Lexikon zu sein, nicht gerecht wird. Einen Streit über die Unverständlichkeit philosophischer Texte habe ich schon des öfteren erlebt. Philosophen haben natürlich immer mit dem Problem zu kämpfen, dass ihre Fachsprache die natürliche Sprache ist, im Gegensatz zu den Gleichungen in der Mathematik oder der Physik. Da beschwert man sich nicht über die Unverständlichkeit, sondern überliest die Formeln oder verlässt den Text ganz. Aber gerade das sollte den Philosophen Ansporn sein, sich klar und verständlich auszudrücken. Wie sagte Wittgenstein: Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen.
Im Artikel über Derrida wird danach ein weiterer Begriff eingeführt, Differance. Das ist ein Kunstwort, das sich aus den beiden Wörtern „Difference“ (Unterschied) und „deferrer“ (verschieben) zusammensetzt. Derrida ist der Meinung, dass sich die Bedeutung von Wörtern beim Lesen eines Textes fortwährend verschieben kann. Dazu wird folgendes Beispiel gegeben:
Um zu verstehen, was damit gemeint ist, nehmen wir an, jemand sagt: »Die Katze …«, ein zweiter wirft ein:«… die gerade da lang lief…«, dann wieder der erste: »… die schwarz-weiße Katze im Garten …« und so weiter. Die genaue Bedeutung des Wortes »Katze« wird dauernd verschoben, aber so, dass immer neue Informationen hinzukommen. Je nachdem, wie das Gespräch nach dem ersten »die Katze …« verläuft, bekommt das Wort eine andere Bedeutung. Je mehr zu dem Wort gesagt wird, desto mehr wird die Bedeutung dessen revidiert, was schon gesagt wurde. Die Sprache erzeugt permanent Bedeutungsunterschiede durch Bedeutungsverschiebung (differance).
Ist das wirklich ein neuer Gedanke? Ein Buch ist ein Gegenstand, der weitgehend unverändert in der Zeit existiert. Aber das Lesen selbst ist ein zeitlicher Vorgang und unser Verständnis des Gelesenen verändert sich mit dem Fortschreiten im Text. Ein einfaches Beispiel ist ein Kriminalroman. Allmählich wird die Handlung ausgebreitet, man weiß noch nicht, wer der Mörder ist. Mit dem weiteren Lesen versteht man die Zusammenhänge besser, aber erst am Schluss kommt das Aha-Erlebnis – dann wird auch die Bedeutung von Details klar, die man zu Beginn entweder überlesen oder mit einer ganz anderen Sicht wahrgenommen hatte.
Dieses Phänomen ist nicht nur in geschriebener Sprache zu finden, Filme funktionieren genauso. Auch im Alltag verschiebt sich die Bedeutung und Interpretation von Ereignissen fortwährend. Und ein und derselbe Vorgang kann von verschiedenen Personen oder zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich bewertet werden. Jede Deutung findet zu einem bestimmten Zeitpunkt statt, während sich die Welt und deren Beobachter unablässig weiterentwickeln.
Derrida geht noch einen Schritt weiter:
Die Bedeutung des Wortes »Katze« beruht nach Derrida nicht auf einem Verhältnis zu einem Objekt, das »Katze« genannt wird, sondern auf der Stellung des Wortes in einem ganzen Sprachsystem. Wenn ich also »Katze« sage, dann bedeutet das Wort nicht deshalb etwas, weil eine geheimnisvolle Verbindung zwischen dem Wort und einer Katze besteht, sondern weil es sich beispielsweise von den Wörtern »Hund«, »Löwe« oder »Zebra« unterscheidet. Der Gedanke des Unterschieds und der Verschiebung wirft ein merkwürdiges Licht auf die Sprache. Auf der einen Seite verschiebt sich die Bedeutung von Worten und Sätzen ständig, weil immer neue, zusätzliche Erklärungen folgen, und andererseits ist Bedeutung relativ zu dem, was wir nicht meinen. Bedeutung, sagt Derrida, ist daher etwas prinzipiell Offenes und Unselbstständiges.
Der ersten These Derridas in diesem Zitat kann ich überhaupt nicht zustimmen. Das Wort „Katze“ verdankt seine Existenz der Beobachtung von verschiedenen Lebewesen, die eine Gruppe mit gemeinsamen Eigenschaften bilden und die anhand dieser Eigenschaften von anderen Lebwesen unterschieden werden können. Natürlich fällt die Begriffsdefinition bei jedem bewussten Beobachter und in verschiedenen Situationen unterschiedlich aus. Das ist bei jedem Begriff so, der induktiv, d.h. aus einigen Beispielen, und unter Abstraktion, d.h. unter Vernachlässigung vieler anderer Eigenschaften, gebildet wird.
Aber wenn man das Wort „Katze“ liest, hat man sofort ein Bild einer Katze vor Augen, vielleicht noch typischen Katzengeruch in der Nase oder die Erinnerung an eigene Erlebnisse mit diesen Tieren. Das Wort „Katze“ bedeutet nicht etwas, weil es sich von dem Wort „Hund“, „Löwe“ oder „Zebra“ unterscheidet, sondern weil diese Wörter genau wie Katze ebenfalls Begriffsdefinitionen anderer Lebewesen mit anderen Eigenschaften als Katzen sind.
Die Lebewesen unterscheiden sich, die Begriffe spiegeln diese Unterschiede wieder. Ein gewisses Eigenleben führen die Begriffe nur, weil sie selbst materiell existieren – in Form der Druckerschwärze in Büchern, Strömen und Spannungen in Computerspeichern und Strukturen, chemischen Stoffen und elektrischen Signalen im Gehirn.
Vielleicht habe ich aber Derrida auch völlig falsch verstanden und er wollte nur deutlich machen, dass sich die Schriftsprache sowohl beim Schreiben als auch beim Lesen in nichts von allem anderen unterscheidet: Sie findet in der Zeit statt. Sowohl die Welt als auch die Beobachter, die selbst Teil der Welt sind, verändern sich unablässig. Wer also glaubt, die Bedeutung von Texten, weil diese sich selbst nicht ändern, würde feststehen, irrt.
Gastbeitrag von: Dr. Ralf Poschmann