„In einer Welt, die überflutet wird von belanglosen Informationen, ist Klarheit Macht.“ 

- Yuval Noah Harari

Unser Universum, ein Sandkorn am Strand?

In Spiegel Online habe ich eine Rezension zu Max Tegmarks neuem Buch „Our Mathematical Universe“ gefunden: Unser Universum, ein Sandkorn am Strand. Das Buch gibt es derzeit nur in Englisch, gelesen habe ich es noch nicht, sodass sich meine Anmerkungen lediglich auf den Spiegelartikel beziehen.

Paralleluniversen kamen früher nur in Science-Fiction-Werken wie „Star Trek“ vor. Jetzt aber erwägen auch seriöse Physiker, dass unser All nur eines von unendlich vielen sein könnte. Max Tegmark beschreibt in seinem neuen Buch, wie sich unser Universum eines Tages in Mathematik auflösen könnte.

Tegmark ist Kosmologe am Massachusetts Institute of Technology (MIT)…

Sein Buch, sagt Tegmark, sei für ihn eine Art Outing gewesen, und ein klein wenig habe er sich davor gefürchtet. Er hatte beschlossen, einem breiten Publikum die kühnsten seiner Thesen vorzustellen. Manch einem, so ahnte er, würden diese aberwitzig erscheinen. Früher habe er mit seinen absonderlichen Ideen auch in der Fachwelt Ärger auf sich gezogen, erzählt Tegmark: „Ein Professor hat mich eindringlich gewarnt, mit solchen Spinnereien könnte ich meine Karriere gefährden.“

Und etwas später:

„Es scheint, als sei das immer tiefere Verständnis unserer Welt damit verbunden, dass wir die Realität immer aufs Neue ausweiten müssen“, erklärt Tegmark. Die Erkundung hinter dem Horizont habe aus Landstrichen Kontinente und schließlich einen ganzen Himmelskörper gemacht; die Teleskope hätten dann die Erde vom Mittelpunkt der Welt zum bloßen Trabanten einer viel gewaltigeren Sonne schrumpfen lassen; diese wiederum hätte sich später als nur eine von Myriaden anderer Sonnen entpuppt, die in einem ewigen Reigen das Zentrum riesiger Galaxien umkreisen. Und nun also nötige die Inflation den Physikern eine weitere Ausweitung ihres Weltbildes ab: Selbst unser Universum erweise sich im Lichte kosmologischer Theorien nur als eines von unendlich vielen anderen Paralleluniversen, gleichsam ein Sandkorn am Strand.

Hier wird ein wichtiger Unterschied übersehen: In der Physik versucht man Beobachtungen und Experimente durch mathematische Theorien zu beschreiben. Ob diese Theorien geeignet sind, zeigt sich dann, wenn man sie erfolgreich zur Vorhersage neuer Beobachtungen und zur Planung weiterer Experimente verwenden kann. Die Beobachtung fremder Sterne und Galaxien ist deshalb bereits „gute“ Physik. Die Ausdehnung des Raumes und die zur Beschreibung einiger sonst nicht erklärbarer Phänomene notwendige Inflationshypothese ist eine Theorie, die Existenz von Paralleluniversen ist blanke Spekulation.

Weiter geht es in dem Spiegelartikel:

Die Existenz von Parallelwelten ersten Grades ist eine Folge der Tatsache, dass die Inflation den Raum auf unendliche Größe aufbläht. Hinter dem für irdische Beobachter sichtbaren Horizont tut sich damit eine Unendlichkeit auf, die genug Platz für beliebig viele andere Welten lässt. So unermesslich ist deren Zahl, dass, so beteuert Tegmark, jede nach unseren Naturgesetzen mögliche Welt irgendwo tatsächlich auch verwirklicht ist.

Parallelwelten zweiten Grades sind von Elementarteilchen bevölkert, die auf uns völlig unbekannte Weise miteinander wechselwirken. Viele Varianten der Inflationstheorie sagen nämlich voraus, dass sich der Raum nicht nur einmal, sondern unendlich oft zur Unendlichkeit aufbläht. Und in jeder dieser kosmischen Blasen kristallisiert die während der Inflation geborene Urenergie zu anderen Naturgesetzen.

Parallelwelten dritten Grades schließlich sind nach Tegmarks Überzeugung Begleiterscheinungen der Quantenmechanik. Diese gilt zwar als einer der größten Triumphe der modernen Wissenschaft. Was sie aber genau bedeutet, darüber streiten die Physiker bis heute. Tegmark favorisiert eine Lesart, der zufolge alles quantenmechanisch Mögliche tatsächlich auch geschieht – und wenn die Gesetze mehrere Alternativen zulassen, ist jede von ihnen eben in einem anderen Universum verwirklicht. Auf diese Weise gelingt es ihm, den Zufall ganz aus der Natur zu verbannen: Wo immer uns etwas zufällig erscheint, liegt dies nur daran, dass uns eben nur eine der unermesslich vielen existierenden Welten zugänglich ist.

Erst nachdem der Leser den Gewaltritt durch diese drei Typen von Paralleluniversen überstanden hat, holt Tegmark zum letzten Geniestreich aus: der Einführung der Parallelwelten vierten Grades. Anders als die ersten drei Arten von Paralleluniversen, die von anderen Forschern ersonnen wurden, sind diese eine Kopfgeburt Tegmarks selbst…

Ausgangspunkt ist diesmal ein Rätsel, dass die Physiker schon seit Jahrhunderten umtreibt: Warum nur lassen sich praktisch alle Naturphänomene in die Sprache der Mathematik fassen? Wie tief auch immer die Forscher in die Geheimnisse der Natur eindringen, stets begegnen sie mathematischen Gesetzmäßigkeiten. Ja, mehr noch: Fast hat es den Anschein, als biete sich die Mathematik in umso reinerer Gestalt dar, je näher die Physiker dem Ursprung des Universums kommen.

Das ist für Tegmark der Schlüssel zur Lösung des Rätsels: Irgendwann, wenn die Physiker den letzten Geheimnissen auf den Grund gekommen sind, werde sich die Natur vollständig in Mathematik auflösen. Mit anderen Worten: Das Universum lässt sich nicht nur mit Mathematik beschreiben, es ist nichts anderes als pure Mathematik.

Wenn nun aber, so argumentiert Tegmark weiter, jene mathematischen Gesetze, die unsere Welt hervorbringen, ein Universum darstellen, warum sollte selbiges nicht auch für jedes andere mathematische Gebilde gelten? Kurzum: Tegmarks These zufolge ist jede in sich geschlossene mathematische Struktur als ein eigenes real existierendes Universum zu betrachten. Die Mathematik ist so gesehen nichts anderes als eine Weltenmutter, die unermüdlich Paralleluniversen gebiert.

Zusammengefasst: Parallelwelten erster Art entstehen, weil wir mit unseren Methoden nur endlich weit ins Weltall schauen können und es dahinter noch etwas geben kann. Parallelwelten zweiter Art sind solche, in denen uns unbekannte Elementarteilchen auf uns unbekannte Weise zusammenwirken. In der dritten Art werden von uns nicht beobachtbare Universen durch Wechselwirkungen in unserem Universum erzeugt. Und Tegmarks Welten vierter Ordnung sind gewissermaßen mathematische Universen, in denen alles möglich ist, was man sich mathematisch vorstellen kann uvam.

Vielleicht sollte man sich zunächst ein paar Zusammenhänge zwischen mathematischen Gesetzen und physikalischen Beobachtungen an einem Beispiel klar machen. Der beschleunigte Fall wird mathematisch durch die Gleichung

beschrieben. Kennt man die Höhe s, aus der ein Gegenstand fallengelassen wird, dann kann man mit ihrer Hilfe berechnen, nach welcher Zeit t er den Boden erreicht. Die Gleichung ist quadratisch und hat zwei Lösungen:

Aber obwohl die Gleichung zwei Lösungen hat, ist hier nur die positive sinnvoll. Man lernt im Unterricht, dass die negative „unphysikalisch“ ist. Solche Fälle gibt es sehr oft. Doch folgt man Tegmarks Idee, dann muss es Universen geben, in denen ein Gegenstand bereits am Boden ist, bevor man ihn loslässt. Natürlich kann man sich vorstellen, dass die Zeit rückwärts läuft. Nur ist das dann eine Vermutung für das Verhalten in unserem Universum, unter ganz bestimmten Bedingungen – auch wenn derlei noch nirgendwo beobachtet wurde.

Ich denke, Tegmark u.a. lassen einen prinzipiellen Unterschied zwischen Mathematik und den Naturwissenschaften außer Acht. Prüfkriterium in der Mathematik ist die innere Widerspruchsfreiheit aller Aussagen (und das bringt bereits genügend Probleme mit sich, wie Gödel gezeigt hat). Prüfkriterium in den Naturwissenschaften sind Beobachtungen und Experimente. Dabei ist es durchaus sinnvoll, wenn man eine mathematische Beschreibung eines Vorgangs gefunden hat, zu schauen, ob sich damit weitere Beobachtungen und Experimente ableiten lassen – aber es bedeutet nicht, dass automatisch jede mathematisch richtige Lösung ein physikalisches Pendant haben muss. Wenn man die Gültigkeit in Parallelwelten verschiebt, ins Unbeobachtbare, betreibt man keine Physik mehr, sondern Metaphysik.

Das Verhältnis zwischen der Mathematik und den Naturwissenschaften ist in der Tat sehr interessant, es gibt mindestens zwei Standpunkte:

1.    Entweder betrachtet man die Mathematik als ein Resultat unseres Denkens, welches wiederum auf unserer Existenz in diesem Universum beruht. Dann ist es nicht mysteriös, diese gute Übereinstimmung zwischen mathematischen Gleichungen und physikalischem Verhalten zu erklären. Offen bleibt in diesem Fall allerdings der Beginn unseres Universums, dieses ließe sich dann ja nicht mit mathematischen Methoden beschreiben, weil die Mathematik erst ab diesem Punkt zur Existenz gelangt.

2.    Oder man betrachtet Mathematik als etwas, das sich zur Beschreibung ganz anderer Welten als unserer eignet und deren Gesetzmäßigkeiten auch zur Entstehung unseres Universums beigetragen haben. Mathematik wäre dann auch „vor“ oder „außerhalb“ unseres Universums gültig, was auch immer die beiden apostrophierten Wörter aussagen.

Prinzipiell bin ich dem letzten Gedanken nicht abgeneigt. Was mich aber in dem Artikel stört, sind zwei Dinge:

1.    Die Tendenz, alle Artefakte mathematischer Theorien physikalischer Beobachtungen in „Paralleluniversen“ abzuschieben, die prinzipiell unbeobachtbar sind. Das trifft auf alle vier Weltentypen vor, die eingangs beschrieben wurden.

2.    Und mich stört ihre Einbeziehung in die Physik. Physik ist eine Naturwissenschaft, die ihre Erkenntnisse durch Beobachtungen und Experimente macht und überprüft.

Man sollte als Physiker klar sagen, dass man mit solchen Überlegungen den Geltungsrahmen der Physik verlässt und metaphysische Spekulationen anstellt. Es spricht nichts dagegen, neue Mythen über die Welt zu schaffen, nachdem die der alten Religionen etwas langweilig und unglaubwürdig geworden sind. Gott hat die Welt sicher nicht in 7 Tagen erschaffen und niemand kann über’s Wasser laufen. Die eingangs erwähnten Warnungen seiner Kollegen betrafen sicherlich nicht die Ideen Tegmarks als solche, privat darf ein Physiker alles Mögliche denken und schreiben, aber es ist dann eben keine Physik mehr. Wenn

…uns unbekannte Elementarteilchen auf uns unbekannte Weise zusammenwirken…,

dann setzt sich aus ihnen sicher auch Russels Teekanne zusammen, die sich auf einer uns unbekannten Umlaufbahn um die Sonne bewegt:

Wenn ich behaupten würde, dass es zwischen Erde und Mars eine Teekanne aus Porzellan gebe, welche auf einer elliptischen Bahn um die Sonne kreise, so würde niemand meine Behauptung widerlegen können, vorausgesetzt, ich würde vorsichtshalber hinzufügen, dass diese Kanne zu klein sei, um selbst von unseren leistungsfähigsten Teleskopen entdeckt werden zu können.

Gastbeitrag von: Dr. Ralf Poschmann

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