„In einer Welt, die überflutet wird von belanglosen Informationen, ist Klarheit Macht.“ 

- Yuval Noah Harari

Wozu ein Gehirn?

Manche Lebewesen existieren ganz ohne Gehirn. Und doch hat sich das Denkorgan als der evolutionäre Hit erwiesen. Warum ist das so? Ein Streifzug durch die Geschichte. 

Wer nur dumm zu Hause rumsitzt, der braucht eigentlich kein Gehirn. Das jedenfalls scheint das Beispiel der Seescheide zu beweisen. Als Larve ähnelt sie ein wenig einer Kaulquappe und schwimmt munter durch die Felsenlandschaften im heimatlichen Küstenwasser. Wird sie aber größer, sucht sie sich ein gemütliches Plätzchen – und startet eine erstaunliche Metamorphose: Sie verwandelt sich in eine primitiv anmutende Röhre, die Plankton aus dem Meerwasser filtert. Und weil diese Aufgabe nicht viel Grips verlangt, absorbiert sie während der Verwandlung kurzerhand das eigene Gehirn.

 

Hat man keine hohen Ansprüche ans Leben, braucht man also nicht unbedingt ein Gehirn. Dennoch hat sich die Entwicklung komplexer Nervenzellverbünde im Zuge der Evolution bei Lebewesen offenkundig durchgesetzt. Sonst würden wir sie nicht in allen ökologischen Nischen der Erde finden – wir würden im Übrigen überhaupt nichts finden, weil es uns nicht gäbe. Was also macht Gehirne so furchtbar nützlich?

DAS WICHTIGSTE IN KÜRZE

 

·       Die ersten Lebewesen nutzten chemische Signale zur Kommunikation zwischen Zellen. Diese Art der Kommunikation war für vielzellige Lebewesen aber zu langsam.

·       Die ersten Nervensysteme entstanden als evolutionäre Antwort auf dieses Problem. Sie entstanden vermutlich vor rund 700 Millionen Jahren.

·       Zentralisierte Nervensystem verarbeiten Sinnesreize auf sinnvolle Weise und erzeugen so angemessen Reaktion auf verschiedenste Situationen.

·       Chemische Synapsen ermöglichen, die Reizweiterleitung gezielt zu stärken oder zu schwächen – die Grundlage für Lernen und Gedächtnis.

·       Der Cortex der Säugetiere erlaubt wie kein anderes System, die Umwelt in verschiedene Objekte und Prozesse zu kategorisieren. 

·       Nur der Mensch macht sich ein Bild seiner selbst. Er ist der Träger des komplexesten Organs im bekannten Universum, das ihm erlaubt zu sprechen, zu denken und seine Umwelt zu erforschen.

Am Anfang gab es die Chemie

Einzeller haben per definitionem kein Nervensystem. Doch bereits in diesen primitivsten Lebensformen kann man bei näherem Hinsehen erkennen, welche Fähigkeiten die Überlebenschancen verbessern. Zum Beispiel erkennen schon Bakterien mit spezifischen Rezeptoren auf ihrer Oberfläche chemische Lockstoffe in ihrer Umgebung. Bindet der Lockstoff an den Rezeptor, tritt dies im Innern des Bakteriums eine Kaskade molekularer Signale los. Bei einigen Bakterien etwa bringt das innere Signal das Flagellum, eine Art Propeller am Hinterteil, so zum Rotieren, dass es die Zelle auf den Lockstoff zusteuert. Doch Einzeller warten nicht nur auf Signale von außen. Sie schicken sich auch gegenseitig chemische Botschaften.

 

Schon bei den ersten Bewohnern unseres Planeten zeichnen sich also die großen Herausforderungen des Überlebenskampfes ab: Wahrnehmen, Reagieren und Kommunizieren. Wer am schnellsten zur Nahrung schwimmt und Fressfeinde erkennt, der hat bessere Chancen zu überleben und die eigenen Gene an die nächste Generation weiterzugeben. Und wer kommunizieren kann, findet schneller einen Partner zum Zeugen von Nachkommen.

Die Geburt der Nervenzelle

Nun sind chemische Signale aber nicht besonders schnell. Ein Zuckermolekül zum Beispiel braucht in stillem Wasser bei Zimmertemperatur rund 27 Stunden, um einen einzigen Zentimeter voranzukommen. Elektrische Erregungsleitung über so etwas wie „Kabelbahnen“ hingegen geht in Millisekunden. Der Nachteil: Die Signalstärke nimmt mit zunehmender Entfernung ab. Eine solche passive elektrische Erregung würde also bei kleinen Tieren gut gelingen. Sind aber zwischen den Gliedmaßen große Distanzen zu überwinden, funktioniert auch sie nicht. Deshalb spezialisierten sich bereits vor rund 700 Millionen Jahren einige Zellen in den ersten Vielzellern zu aktiven Erregungsleitern, die Reize aus der Außenwelt mit Rezeptoren auffangen und über lange Leitungen, so genannte Axone, mit Hilfe eines elektrischen Impulses an andere Regionen ihrer Kolonie verschicken: Die Nervenzelle war geboren Auf der Spur der Zellkommunikation.

 

Das neue Prinzip der Erregungsweiterleitung bot den Vielzellern gegenüber der rein chemischen Zellkommunikation einen enormen Geschwindigkeitsvorteil - und damit einen evolutionären Vorsprung gegenüber Lebewesen ohne Nervenzellen. Zwar haben sich seither auch die chemischen Signaloptionen weiterentwickelt, zum Beispiel zu effizienten Hormonsystemen in Wirbellosen und Säugetieren. Doch ohne die millisekundenschnellen Signale der Nervenzellen wäre es Tieren nicht möglich, rechtzeitig auf Fressfeinde, Artgenossen oder Beute und andere Nahrungsquellen zu reagieren. 

 

Die frühesten Nervenzellen entstanden wahrscheinlich in Nesseltieren, zu denen heute unter anderem Seeanemonen, Medusen, Hydras und die gemeine Ostsee-Urlaubs-Qualle gehören. Die meisten Nesseltiere besitzen noch heute lediglich simple Netze aus Nervenzellen, mit denen sie sich, ohne etwas davon zu wissen, an Rentnerehepaaren und planschenden Kindern vorbeischieben. Ein solches dezentrales Nervensystem kann aber nur recht simple Reflexe erzeugen, für eine klügere Interpretation verschiedener Sinnesdaten dagegen reicht ein Nervennetz nicht.

 

Einige Vorfahren der heutigen Quallen waren zudem die Protagonisten einer weiteren evolutionären Premiere: Vor mindestens 580 Millionen Jahren, das wissen wir von Fossilienfunden, schlossen sich Nervenzellen auf der Körperoberfläche der Nesseltiere erstmals zu Augen, Riech- und Gleichgewichtsorganen zusammen. Nun aber trat zum Problem schneller Informationsübertragung ein neues hinzu — die sinnvolle Informationsverarbeitung: Was bedeuten all die verschiedenen Reize, die gleichzeitig die Sinnesorgane erreichen?

Der Weg zum zentralen Nervensystem

Nur 10 Millionen Jahre später - auch das zeigen Fossilienfunde – betraten dann erstmals Wesen die Bühne der Urmeere, die sich anschickten, klüger zu sein als die Ahnen der Qualle. Anders als ihre Nesseltier-Verwandten waren diese Tiere spiegelsymmetrisch aufgebaut. Diese so genannten „Zweiseiter” oder „Bilateria“ sind die Vorfahren aller spiegelsymmetrischen Tiere, inklusive der Wirbeltiere, also auch uns Menschen. Als erste Lebewesen hatten sie ein Kopfende mit Augen und einem kleinen Gehirn, Ganglion genannt, und einen verlängerten Körper, durch den Nervenstränge bis zum Hinterteil liefen.

 

Mit einem zentralen Nervensystem konnten die Zweiseiter erstmals Sinnesdaten auf vielfältige Weise verrechnen und so sinnvolle Reaktionen auf Reize entwickeln. Über die Nervenstränge, die den Körper durchzogen, steuerte zudem erstmals ein zentraler Taktgeber Muskelgruppen zielgenau an – es entwickelten sich komplexe Motorprogramme, die den Körper je nach Situation angemessen steuern konnten wie ein Dirigent sein Orchester. Gut koordinierte Schwimm- oder Kriechbewegungen, schnelles Ausweichen oder etwa Zusammenrollen kann nur ein zentrales Nervensystem lenken.

Vom Reagieren zum Lernen

Zum echten Game-Changer aber wurden zentrale Nervensysteme aus einem anderen Grund: Die besonders effiziente Weiterleitung der Erregungen. Nervenzellen sind nicht direkt aneinander gekoppelt. Am Ende ihrer langen Leitung übertragen sie ihre Impulse auf die nachgeschalteten Neurone über einen winzigen Spalt. In diesem Spalt, der so genannten „Synapse”, springt meist kein elektrischer Funke über (siehe Infokasten). Stattdessen schüttet die erste Nervenzelle chemische Botenstoffe in die Synapse, so genannte Neurotransmitter. Diese verbreiten sich von der ersten Zelle über die zweite Neurotransmitter – Botenmoleküle im Gehirn. Der Clou dieser „synaptischen Transmission” ist, dass damit die Informationsverarbeitung relativ simpel geregelt werden kann: Je mehr Botenstoffe in die Synapse ausgeschüttet werden, desto stärker wird die empfangende Zelle aktiviert. Das große Lernen hatte begonnen Wie Erlebnisse zu Erfahrungen werden – das Gedächtnis.

 

Stritten sich bisher nur genetisch vererbte Reflexe im evolutionären Rennen, so begann mit dem Zeitalter der zentralen Nervensysteme der Kampf um das schnellste und sinnvollste Lernprogramm. Schon der simple durchsichtige Fadenwurm C. Elegans, dessen Nervensystem nur 302 Neuronen hat, kann sich erstaunlich viele Dinge merken. Deswegen ist er auch ein beliebtes Versuchstier der Hirnforscher. Zum Beispiel „erschrickt“ der Wurm mit der Zeit immer weniger, wenn neugierige Forscher andauernd gegen seine Petrischale klopfen – zumindest zuckt er weniger zurück. Diese Gewöhnung geht ins Langzeitgedächtnis im Mini-Gehirn der Würmer über. Sie merken sich sogar die Farbe des Umgebungslichtes, bei der ihnen Forscher ein paar Algen zu futtern gegeben haben: ein Beispiel für assoziatives Lernen. Diese Art des Lernens ist die Grundlage aller höheren kognitiven Fähigkeiten, wie wir sie von Wirbel- und vor allem den Säugetieren kennen Der gelehrige Wurm.

Vom Lernen zum Ich

Je komplexer das Nervensystem, desto feiner sind die Unterscheidungen von Sinnesreizen, die ein Lebewesen leisten –und desto ausgefeilter die Reaktionen, die es lernen kann. Und desto vielseitiger werden auch die motorischen Fertigkeiten. Das komplexeste Nervensystem, in der Tat das komplexeste Objekt im bekannten Universum, tragen Säugetiere wie Sie und ich in unserem Schädel herum. Hat der Fadenwurm C. Elegans nur 302 Nervenzellen, so sind es im Säugetierhirn viele Milliarden, und beim Menschen rund 90 Milliarden. Jede einzelne Nervenzelle sendet seine Signale an bis zu Zehntausend Empfänger. Manche Neurone aktivieren nachgeschaltete Zellen, andere hemmen sie; je nachdem, welcher der über einhundert möglichen Neurotransmitter die Synapse nutzt.

 

Bei einer derartigen Komplexität verwundert es nicht, dass zahlreiche Säugetiere auch komplexe Vorstellungen über ihre Lebenswelt haben. In der hohen Anzahl der verfügbaren Nervenzellen und der besonderen Architektur des Cortex liegt ihr evolutionäres Erfolgsrezept. Es erlaubt Säugetieren, aber auch Vögeln und zum Beispiel Tintenfischen, Objekte zu erkennen und zu kategorisieren – Nahrung oder Gift, Freund oder Feind –, mit Artgenossen zu kommunizieren und ziemlich schwierige Rätsel zu lösen. Und ein Bewusstsein zu entwickeln Was ist Bewusstsein?

 

Zu solchen Erkenntnissen über die eigene Lebenswelt kommt beim Menschen – und zumindest in rudimentärer Form auch bei einigen Tieren wie etwa Elefanten und Menschenaffen – noch eine Vorstellung hinzu: die vom Selbst oder Ich Was ist dieses Ich?. Wir haben ein Bild von uns, unseren Stärken und Schwächen, unseren Vorlieben und Abneigungen. Menschen mit Hirnverletzungen lassen vermuten, dass die Persönlichkeit, also die Art, wie wir mit Handlungen, Ideen und Emotionenauf unsere Umwelt reagieren, im Frontallappen des menschlichen Cortex angesiedelt ist. Und wie alle anderen Vorstellungen nicht in Hirn „gemeißelt“ sein muss.

 

Nicht nur Verletzungen des Frontallappens zeigen, dass unser Selbst ein wandelbares Konstrukt ist. Drogen, Lebensereignisse, hormonelle Veränderungen — etliche Einflüsse auf die Informationsverarbeitung in unserem Gehirn verändern, wie wir die Welt und uns selbst wahrnehmen. Auch Sie sind nicht mehr dieselbe Person, die sie in der ersten Grundschulklasse waren. Und wenn Sie diesen Artikel aufmerksam genug gelesen haben, ist ihr Gehirn schon jetzt nicht mehr dasselbe wie vor wenigen Minuten.

 

Ob unsere Vorstellungen von der Welt und unseres Selbst die Wirklichkeit angemessen widerspiegeln, kann man allerdings bezweifeln. Wir haben keine Intuition für die vierdimensionale Raumzeit, die Einstein als Wesenszug dem Universum nachwies. Wir können mit der mysteriösen Uneindeutgkeit der Quantenphänomene nichts anfangen. Selbst in allzu banalen Alltagssituationen zeigt sich, dass unser so komplexes Gehirn regelmäßig überfordert ist und auf archaischere Reaktionsmuster zurückgreift: Bei Stau auf dem Weg von der Arbeit nach Hause verhalten sich manche von uns wie Paviane während der Paarungszeit. Und trotz besseren Wissens locken unnachgiebig unsere Laster. Vielleicht hilft es da, gelegentlich, dem Beispiel der Seescheide zu folgen: Man hocke sich an eine gemütliche Stelle und verweile dort ein wenig, gedankenlos und still.

§  Gerhard Roth und Ursula Dicke: Evolution of Nervous Systems and Brains. In:

   Neurosciences - From Molecule to Behavior: A University Textbook, Springer

   (2013).

§  Evolution of Nervous Systems, hg. von Jon H. Kaas, Academic Press (2007).

Gastbeitrag von: Dr. Christian Honey

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