Es klingt paradox: Nach Amputationen entwickeln viele Betroffene chronische Schmerzen in den fehlenden Gliedmaßen. Neurowissenschaftler sind den Ursachen der Phantomempfindungen auf der Spur – und fahnden nach Methoden, den Patienten zu helfen.
Es ist ein Schmerz wie ein heftiger Stromschlag. Und er trifft genau jenen Arm oder jenes Bein, von dem eigentlich keine Schmerzen mehr ausgehen können – weil der Körperteil nicht mehr da ist. Studien zufolge empfinden 50 bis 85 Prozent der Menschen, die durch Unfall oder Krankheit eine Gliedmaße verloren haben, später immer wieder Schmerzen darin.
Phantomempfindungen und Phantomschmerzen beschäftigen Forscher schon seit Jahrhunderten. Erstmals medizinisch beschrieben wurden sie von dem französischen Chirurgen Ambroise Paré, der das mysteriöse Phänomen in den 1530er Jahren bei amputierten Soldaten beobachtete. Als wohl prominentester Patient ist Lord Nelson in die Geschichtsbücher eingegangen – der legendäre britische Admiral hatte in einer Schlacht 1797 seinen rechten Arm eingebüßt. Als Quelle von Schmerzen blieb ihm dieser aber erhalten.
DAS WICHTIGSTE IN KÜRZE
· Phantomschmerzen sind Missempfindungen in einer fehlenden Gliedmaße, unter denen viele Patienten nach Amputationen leiden.
· Bedingt werden sie durch das so genannte „cortical re-mapping“ – Veränderung der corticalen Karten, in denen die verschiedenen Körperregionen in der Hirnrinde repräsentiert sind.
· Neue Therapieansätze zielen darauf ab, den fehlenden sensorischen Input der amputierten Gliedmaße zu ersetzen und so die den Phantomschmerzen zugrunde liegenden Umbauprozesse in der Hirnrinde zu verhindern.
Wie es zu solchen Phantomschmerzen kommt, war für Ärzte und Wissenschaftler damals ein Rätsel. Und so hielt sich lange die Ansicht, das Leiden sei nichts weiter als ein Hirngespinst, eine Halluzination. Später vermuteten Mediziner, Entzündungen der durchtrennten Nervenbahnen am Stumpf würden die Schmerzen auslösen. Noch im 20. Jahrhundert versuchte man daher, diese chirurgisch, also etwa durch eine weitere Verkürzung der Nerven, zu beheben. Das linderte die Schmerzen in manchen Fällen für einige Zeit, hatte aber langfristig keinen Erfolg. Die Erkenntnis: Zwar kann es solche lokalen, entzündlich bedingten Schmerzen nach Amputationen geben – die Ursache von Phantomschmerzen sind sie aber nicht.
Der entscheidende Durchbruch zum Verständnis des paradox anmutenden Phänomens gelang dem Neurologen Vilayanur S. Ramachandran in einer Serie von Experimenten. Dabei untersuchte der Forscher von der University of California in San Diego 1998 unter anderen einen Patienten, dem der linke Arm amputiert worden war. “Als ich die linke Seite seines Gesichtes berührte, sagte er: ‘Oh mein Gott, Sie berühren meinen linken Daumen, meinen fehlenden linken Daumen’”, erinnert sich Ramachandran. “Dann berührte ich ihn an der Oberlippe und er sagte: ‘Oh mein Gott, Sie berühren meinen Zeigefinger’, und beim unteren Kiefer meinte er, ich würde seinen fehlenden kleinen Finger anfassen.”
Die gesamte Struktur der Phantomhand – ihre sensorische Repräsentation – schien sich im Gesicht wiederzufinden. Andere Patienten konnten in ihren Phantomgliedmaßen auch zwischen heiß und kalt oder der Art von Berührungsimpulsen unterscheiden. Aus diesen Beobachtungen entwickelte Ramachandran seine Theorie des „cortical re-mapping“ als Ursache von Phantomschmerzen.
Um zu verstehen, was der Forscher meint, muss man die Anatomie unseres Nervensystems betrachten: In der Großhirnrinde, also dem Cortex, gibt es spezialisierte Areale, die jeden einzelnen Körperteil repräsentieren und kontrollieren. Das heißt, die verschiedenen Teile des Körpers sind im Cortex abgebildet wie auf einer Landkarte. Im Fachjargon spricht man deshalb von corticalen Karten. In ihrer Gesamtheit ergeben die Karten ein Abbild des ganzen Körpers, das nach Penfield “Homunculus” genannt wird. Diese ausdifferenzierten Repräsentationen nehmen die Empfindungen aus dem jeweiligen Körperteil auf, leiten sie weiter und verarbeiten sie zu Wahrnehmungen.
Wird nun ein Arm amputiert, erhält das für ihn zuständige sensorische Hirnareal keine Signale mehr. Das Gehirn reagiert und stellt sich um – eine Fähigkeit, die als corticale Plastizität bezeichnet wird. Bei einigen Patienten läuft dieser Prozess jedoch unvollständig oder falsch ab. Das verwaiste Hirnareal wird vom benachbarten Zentrum besetzt, das so praktisch seine Landesgrenzen erweitert. Mit der Folge, dass Empfindungen aus diesem Areal auf die fehlenden Gliedmaßen projiziert werden. Ein Vorgang, den Ramachandran Remapping – Umkartierung – nennt.
Dass es in seinen Experimenten Berührungen des Gesichts waren, die Empfindungen in der fehlenden Hand auslösten, liegt daran, dass sich die Repräsentation des Gesichts im Cortex direkt neben der Repräsentation der Hand befindet. Sinnesreize von der Gesichtshaut werden nun, bedingt durch das Remapping, in zwei Cortex-Regionen gesendet: in die Gesichts- und in die Handregion. Diese Fehlverarbeitung von Signalen, glaubt Ramachandran, wird vom Patienten als Schmerz wahrgenommen.
Ein ähnlicher Erklärungsansatz, basierend auf einer Schmerztheorie des kanadischen Psychologen Ronald Melzack, geht davon aus, dass die ursprünglich für den Arm zuständige Hirnregion nach wie vor nach Signalen sucht – aber zunächst keine findet. Weil zusätzlich aber bereits Nervensignale der benachbarten Region in das Areal vordringen, wird die Intensität dieser Signale überbewertet und als Schmerz wahrgenommen. Melzack hat auch festgestellt, dass jeder Amputierte ein Phantom seines verlorenen Gliedes entwickelt, bei Schmerzpatienten aber ein verzerrtes, monströses Trugbild entsteht. Schrumpft das Phantom zum kleinen Anhängsel des Amputationsstumpfes, so verschwindet der Schmerz.
Diese Erkenntnisse und Theorien halfen bei der Entwicklung neuer Therapieansätze für Phantomschmerz-Patienten, die lange Zeit nur auf wenige wirksame Schmerzmittel zurückgreifen konnten. Heute verabreicht man oft Medikamente, die übermäßige Erregbarkeit dämpfen sollen.
Effektiv ist bei einigen Patienten auch eine spezielle Verhaltenstherapie, die Vilayanur Ramachandran 1996 entwickelt hat: Der Patient setzt sich dabei so vor einen Spiegel, dass er nur den gesunden Arm, nicht aber den Arm mit dem Stumpf der fehlenden Hand sehen kann. Nun bewegt er die gesunde Hand. Durch den Spiegel sieht er diese auf die amputierte Hand projiziert, so dass er das Gefühl bekommt, noch beide Hände zu besitzen und die amputierte Hand mitbewegen zu können. Dadurch wird das verwaiste Hirnareal aktiviert und das Gehirn muss nun nicht mehr mit Schmerz den fehlenden Input an Informationen ersetzen.
Dieser Wirkmechanismus wurde mittlerweile weiterentwickelt. Zum einen nutzen Forscher etwa der Universität Manchester die Möglichkeiten von Computersimulationen, um noch realistischere Illusionen bei den Betroffenen zu erzeugen. Zum anderen wird versucht, jene corticalen Umbauvorgänge nach einer Amputation, die für Phantomschmerzen verantwortlich sind, gar nicht erst entstehen zu lassen, etwa durch präoperatives Schmerzmanagement oder durch das möglichst frühe Tragen einer Prothese. Noch können die Maßnahmen jedoch nicht allen Patienten mit Phantomschmerzen helfen – zu vielschichtig sind die Ursachen der Schmerzen, zu vage das Wissen über sie.
Bemerkenswert jedoch ist: Das therapeutische Spiel mit der Imagination setzt an der individuellen Wahrnehmung des Körperbilds an. Dieses scheint genetisch genau vorgeformt zu
sein – was erklärt, warum auch Menschen an Phantomschmerzen leiden, denen schon bei der Geburt ein Körperteil fehlt. Gleichzeitig gestaltet aber auch die Einbildungskraft unser Körperbild mit.
Das deutet ein weiteres Experiment von Ramachandran an: Die “Gummihand-Illusion”, die sich auch zu Hause mit einem mit Wasser gefüllten Spülhandschuh nachstellen lässt.
Die Versuchsperson sitzt an einem Tisch und versteckt ihre linke Hand darunter. Auf den Tisch wird eine Gummihand gelegt. Der Versuchsleiter streichelt sowohl die künstliche Hand als auch die unter dem Tisch versteckte echte Hand wiederholt und synchron. Nach ein bis zwei Minuten verschmilzt für den Probanden die gefühlte Berührung mit der gesehenen, er erlebt die Gummihand als eigene Hand und fühlt die Berührung in ihr. Die entsprechende Aktivierung lässt sich im Gehirn nachweisen. Was wir als Teil unseres Selbst erleben, ist also beeinflussbar. Oder, wie es Ramachandran formuliert: “Das so genannte Körperbild ist lediglich eine Schale für eine bestimmte Zeit, geschaffen zu dem alleinigen Zweck, mit Erfolg die eigenen Gene an die nächste Generation weiterzugeben.” Beim Phänomen Phantomschmerz zeigt dieses evolutionäre Erfolgsmodell leider seine Kehrseite.
Gastbeitrag aus: Anna Corves