„In einer Welt, die überflutet wird von belanglosen Informationen, ist Klarheit Macht.“ 

- Yuval Noah Harari

Die Neurobiologie des Mitfühlens

Schmerz, Ekel, Freude – was andere fühlen, bewegt auch das eigene Gehirn, und zwar in ähnlicher Weise, als wäre man selbst betroffen. Forscher fahnden im Denkorgan nach unserer Fähigkeit, mit anderen zu fühlen und uns in sie hineinzuversetzen.

Autsch, meldet das Gehirn. Autsch, das tut weh! Dabei könnte es eigentlich locker bleiben: Der leichte Stromschlag galt schließlich nicht der Probandin selbst, sondern ihrem Liebsten. Dennoch reagiert auch ihr Denkorgan auf den Schmerz des anderen. Dabei hat sie nicht einmal mitbekommen, wie ihr Mann das Gesicht verzog, als er einen Stromschlag bekam – sieht sie doch nur seine Hand, auf der eine Elektrode klebt.

 

Wie gelingt es, uns in andere hineinzuversetzen? Und was passiert dabei im Gehirn? Diese Fragen stellte sich die Psychologin Tania Singer, heute am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig, als sie sich 2004 entschied, im Dienste der Wissenschaft Paare mit leichten, aber durchaus unangenehmen elektrischen Entladungen zu traktieren. Im Experiment lagen die Frauen im Kernspintomografen, während ihre Männer daneben saßen – beide mit einer Elektrode am Finger. Dann gab es abwechselnd elektrische Schläge, wobei die Testperson in der Röhre nur die Hand ihres Partners im Spiegel sah.

 

Außerdem bekam sie per Lichtsignal die Information, wem von beiden der nächste Stromstoß gelten würde. Erwischte es den Liebsten, so waren die Gehirne der Probandinnen in ähnlicher Weise aktiv, als träfe es sie selbst– und zwar insbesondere im Bereich der Inselrinde sowie weiteren Hirnarealen, die an der Verarbeitung von Schmerzen beteiligt sind.

DAS WICHTIGSTE IN KÜRZE

 

·       Unter Empathie verstehen Wissenschaftler die Fähigkeit zu fühlen, was andere fühlen. Im Gegensatz zum Mitgefühl beinhaltet es keine Handlungsmotivation. Geht es darum, Gedankengänge der anderen nachzuvollziehen, sprechen Forscher von Theory of Mind.

·       Die Inselrinde spielt eine zentrale Rolle für die Empathiefähigkeit. Hier verarbeitet das Gehirn Empfindungen. Der vordere Bereich der Insel ist auch aktiv, wenn wir mit anderen mitfühlen.

·       Versetzen wir uns in die Gedankenwelt unserer Mitmenschen, springt das Theory-of-Mind-Netzwerk an. Besonders wichtig ist der rechte temporo-parietale Übergang: Fällt er aus, leidet das Urteilsvermögen.

Insel der Gefühle

Die Insel, so hatten französische Forscher um Bruno Wicker vom Centre Nationale de la Recherche scientifique in Marseille bereits 2003 festgestellt, reagiert auch, wenn wir sehen, wie sich eine andere Person ekelt. Selbst Bilder – etwa von schmerzhaften Unfällen wie einem eingeklemmten Fuß – lassen die Inselrinde nicht kalt. Und, das erwies sich in den letzten Jahren, sie antwortet auch, wenn unsere Mitmenschen Positives erleben: Freude, Genuss oder Liebe. Könnte hier also der Schlüssel zu unserem Einfühlungsvermögen liegen? Zahlreiche Forscher glauben genau das.

 

„Als Empathie definieren wir die Fähigkeit, Gefühle anderer nachzuempfinden“, erklärt Claus Lamm, Psychologe und Neurowissenschaftler an der Universität Wien. „Mit Mitgefühl hat das zunächst nichts zu tun – da steckt schon wieder eine Motivation dahinter, zum Beispiel der Wunsch, jemandem zu helfen.“ Es geht also darum zu fühlen, was andere fühlen.

 

Und dass die Inselrinde hierbei eine wichtige Rolle spielt, ist eigentlich nicht weiter überraschend, wie Lamm verrät. Dieses Hirnareal, versteckt in der Großhirnrinde und gerade mal so groß wie eine Zwei-Euro-Münze, steht im Zentrum der Reizverarbeitung. Seine Zuständigkeit erstreckt sich von Geruch, Geschmack oder Schmerz über Ekel bis hin zu Empfindungen der inneren Organe, also etwa Sättigungsgefühl, Körpertemperatur oder Übelkeit. Die Insel steht in Kontakt mit weiteren gefühlsverarbeitenden Regionen im Gehirn; verknüpft mit limbischem System und dem Thalamus nimmt sie Einfluss auf Emotionen.

 

Dabei scheint der vordere Bereich der Insel zu erkennen, um welche Art von Gefühl es sich handelt, also dass wir etwa Schmerz spüren. Der hintere Teil unterscheidet dagegen, wo genau es weh tut, wie stark, und ob es sich eher scharf oder dumpf anfühlt. Entsprechend sind auch die Aktivierungsmuster in der Inselregion verschieden, wenn man selbst etwas fühlt oder aber mit anderen mitfühlt. Verarbeitet das Denkorgan wie in Singers Versuch den Schmerz einer anderen Person, reagiert insbesondere die vordere Inselrinde. Die Insel der Probandin meldet demnach zwar den Schmerz, registriert aber nicht, dass beispielsweise der Zeigefinger der rechten Hand betroffen ist und dass es ein gemeiner kleiner Schlag war, der sich irgendwie metallisch anfühlt.

 

Wer sich allerdings selbst nicht richtig spürt, scheitert auch in Sachen Empathie. Menschen mit Alexithymie, zu Deutsch Gefühlsblindheit, haben Schwierigkeiten, ihre eigenen Empfindungen wahrzunehmen und in Worte zu fassen. Das spiegelt sich auch in der Insel wieder, erkannte eine Forschergruppe vom Birbeck College in London im Jahr 2008. Die Wissenschaftler, zu denen auch Tania Singer zählte, untersuchten Betroffene im Kernspintomografen, während diese Bilder betrachteten. Tatsächlich: Je weniger die Probanden in der Lage waren, sich darüber zu äußern, was sie beim Anblick der Bilder empfanden, desto schwächer war auch die Aktivität ihrer Inselrinde. Und, wie eine weitere Studie der Gruppe im Jahr 2010 ergab, umso geringer ist auch die Empathiefähigkeit. „Das legt nahe, dass die Insel wichtig ist, um mit anderen mitzufühlen“, betont Lamm.

Mitfühlen ist nicht genug

Im alltäglichen Miteinander müssen wir jedoch auch nachvollziehen können, was in den Köpfen unserer Mitmenschen vorgeht. Also nicht nur fühlen, was unser Gegenüber fühlt, sondern auch wissen, was er weiß – nur so können wir seine Handlungen beurteilen und angemessen reagieren.

 

Als „Theory of Mind“ bezeichnen Wissenschaftler die Fähigkeit, Gefühle, Bedürfnisse, Absichten Erwartungen oder Meinungen bei unserem Mitmenschen zu vermuten. Und diese Gabe greift auf andere Strukturen im Gehirn zurück als die reine Empathie. Wissenschaftler sprechen vom Theory-of-Mind-Netzwerk, in der deutschsprachigen Literatur auch Soziales Neuronales Netzwerk genannt. Wichtige Mitspieler sind unter anderem Areale im Stirnhirn und im Scheitellappen, auch Parietallappen genannt, sowie der temporo-parietale Übergang (temporo-parietal junction, TPJ), der Verbindungsbereich von Temporal- und Parietallappen. Auch die Amygdala, die eine wichtige Rolle bei der Verarbeitung von Emotionen spielt, tritt in Aktion, wenn es gilt, sich in andere hineinzuversetzen.

 

„Die involvierten Hirnregionen sind unglaublich robust“, schreibt die Neurowissenschaftlerin Rebecca Saxe auf ihrer Homepage. Bei 90 Prozent aller Probanden seien exakt dieselben Areale aktiv, wenn sie sich in andere hineinversetzen. Die US-Amerikanerin untersucht mit ihrem Team im Massachusetts Institute of Technology in Cambridge, wie das Gehirn das Verhalten von anderen Menschen interpretiert. Dabei schreibt sie dem rechten TPJ eine ganz besondere Rolle zu. Wann immer wir ernsthaft darüber nachgrübeln, wie sich eine andere Person in einer bestimmten Situation fühlen mag, tritt dieser Bereich in Aktion. Fällt er aus, geht sogar unser moralisches Urteilsvermögen verloren.

Quelle des Urteilsvermögens

In einer Studie im Jahr 2010 ließ Saxe ihre Probanden „Kriminalfälle“ beurteilen. Zum Beispiel: Grace süßt den Kaffee ihrer Freundin und nimmt dafür ein weißes Pulver aus einer Dose, auf der „Zucker“ steht. Im Gefäß befindet sich jedoch Gift. Die Freundin stirbt. Ist Grace Schuld daran? Und wie ist das Verhalten der Frau zu werten, wenn sie denkt, dass Gift im Pott ist, die Freundin aber überlebt, weil sich der Inhalt als Zucker entpuppt? Die meisten von uns würden bei ihrem Urteil berücksichtigen, ob Grace wissen konnte, was sie tat. Hat sie das Gift versehentlich in die Tasse ihrer Freundin rieseln lassen, so ist sie unschuldig. Umgekehrt empfinden wir allein den Versuch, die andere Frau zu vergiften als verwerflich – auch wenn diese überlebt.

 

In dieser Art befand auch die Kontrollgruppe in Saxes Versuch. Als die Wissenschaftlerin nun aber bei ihren Probanden mit Hilfe der transkraniellen Magnetstimulation den rechten temporo-parietalen Übergang kurzzeitig außer Gefecht setzte, litt auch deren Urteilsvermögen. Die Befragten tendierten jetzt dazu, Grace im Falle eines Versehens mehr Schuld zuzusprechen. Dagegen erachteten sie die Frau eher als unschuldig, wenn der Vergiftungsversuch missglückte. Es war ja schließlich nichts passiert. Die Probanden hatten mit der Funktion ihres rechten TPJ offensichtlich auch die Fähigkeit verloren, sich in Grace und deren Handlungsmotivation hineinzuversetzen.

Keine strenge Aufgabentrennung

Ganz strikt ist die Trennung zwischen Empathie und der Fähigkeit, sich in die Gedankenwelt des Gegenübers hineinzuversetzen, übrigens nicht. Das folgerte Claus Lamm im Jahr 2007 aus einer Metaanalyse, in der er gemeinsam mit seinem Kollegen Jean Decety von der Universität Chicago Studien zur Hirnfunktion bei Empathie und Theory of Mind auswertete.

 

Offensichtlich bemüht das Gehirn auch beim Mitfühlen den rechten TPJ – insbesondere dann, wenn wir gefordert sind, unsere eigenen Empfindungen von denen unserer Mitmenschen abzugrenzen. “Gelingt diese Trennung nicht, sind wir unter Umständen so überwältigt und gestresst, dass es unmöglich wird, prosozial, also helfend zu agieren”, sagt Lamm. Dann sind wir nur noch damit beschäftigt, den eigenen negativen Zustand loszuwerden. Die Folge sind Rückzug oder sogar Aggression. Empathie allein helfe im sozialen Miteinander demnach wenig. Man müsse auch lernen, den Schmerz der anderen im eigenen Kopf angemessen einzuordnen.

zum Weiterlesen:

·       Lamm, C. et al.: The role of anterior insular cortex in social emotions. Brain Structure and Function. 2010; 214:579–591 (zum Text).

·       Young, L. et al.: Disruption of the right temporo-parietal junction with transcranial magnetic stimulation reduces the role of beliefs in moral judgment. Proceedings of the National Academy of Sciences. 2010; 107(15):6753–6758 (zum Text).

·       Video: How brains make moral judgments. Vortrag con R. Saxe auf www.ted.com; URL: http://www.ted.com/talks/rebecca_saxe_how_brains_make_moral_judgments.html [Stand: 09.2009]; zur Webseite.

Gastbeitrag von: Stefanie Reinberger

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