Im Internet muss man nicht viel diskutieren, um eine Vielzahl unterschiedlicher und unfairer Diskussionsmethoden kennenzulernen. Eine davon ist die Technik der Gruppenassoziation.
Ich gebe zwei überspitzte Beispiele zur Verdeutlichung (im realen Leben geschieht dies nicht so holzschnittartig), eines aus dem religiösen Kontext, ein anderes aus politischer Diskussion:
»Aha, Du bist Atheist. Hitler war auch Atheist! Die großen atheistischen Ideologien – Faschismus und Kommunismus – haben den meisten Schaden im 20. Jahrhundert angerichtet und mehr Menschen getötet als je eine andere Ideologie zuvor«.
Ob Hitler Atheist war oder nicht, ob die beiden genannten Weltanschauungen mehr Schaden angerichtet haben oder nicht, darüber könnte man mit Fakten streiten. Das ist nutzlos, der Vorwurf lautet: Weil Du zu einer Gruppe X gehörst, und weil Menschen aus der Gruppe X auf die Weise denken oder jene Motive haben, hast Du dieselbe Denkweise oder Antriebe.
Unterstellt wird eine Homogenität der Gruppe »Atheisten«. Dann wird aus bekannten Atheisten ein Stereotyp konstruiert und dem Individuum unterstellt.
Hier ist ein logischer Fehler am Werk, der auf einer kognitiven Verzerrung aufbaut: Gruppen werden von außen als homogener angenommen, als sie sind. Aus bestimmten Eigenschaften, die spezifische Mitglieder der Gruppe haben, wird auf die Eigenschaft eines Individuums, eines Mitglieds, geschlossen. Letzteres ist der logische Fehlschluss.
Zweites Beispiel: »Ich bin gegen die gendergerechte Sprache, weil sie der Rechtschreibung widerspricht, der Grammatik, die Ästhetik der Sprache zerstört, Texte schwerer lesbar macht und Genus mit Sexus verwechselt«.
Erwiderung: »Aha, du bist gegen eine Gleichbehandlung von Frauen und Männern und versteckst Deine antifeministische Haltung hinter wohlklingenden Worten. Du bist nichts weiter als ein verkappter Chauvinist und Sexist!«
Von den genannten Argumenten wird auf innere Antriebe und Motive geschlossen. Die Gründe werden ignoriert, es wird auf ein anderes Thema abgelenkt: Die innere Einstellung des Argumentierenden. Er wird in eine Schublade gesteckt (Sexist), die stereotypischen Eigenschaften der angeblich homogenen Gruppe der Sexisten samt ihrer inneren Einstellungen auf das Individuum übertragen. Der kann jetzt zusehen, wie er mit dem Schlamassel fertig wird. Jetzt geht es nicht mehr um rationale Gründe, sondern um innere, subjektive Einstellungen, die man nur schwer rational verteidigen kann, da sie niemandem außer dem Betroffenen zugänglich sind. Er kann beteuern, dass das nicht seine Gründe sind, nur kann er es argumentativ nicht beweisen – er ist »schuldig bei Verdacht«.
Statt über das Thema zu argumentieren wird der Urheber einer Ansicht dazu gebracht, seine persönlichen Beweggründe zu verteidigen. Geht er darüber hinweg, so bleiben die aufgeworfenen Beschuldigungen an ihm kleben. Verteidigt er sich, sind die Argumente vom Tisch, und er ist gezwungen, auf einem Gebiet zu argumentieren, bei dem er bestehende Zweifel unmöglich ausräumen kann.
Man wird in eine lose-lose Situation gebracht, die Diskussion wird eklig.
Gastbeitrag von: Volker Dittmar
WissensWert (Montag, 09 Januar 2017 21:57)
Die meisten Menschen denken in einfachen Gruppen. Das betrifft aber auch die, die andere dafür kritisieren, in einfachen Gruppen zu denken: Ob man sagt "die Muslime" (und wirklich alle meint), "die Juden", "die Zigeuner", "die Schwarzen", "die Grünen", "die Liberalen", "die Frauen", "die Männer", "die Westler", "die Nazis", "die Rechtspopulisten", "die Rechten", "die Linken", "die Deutschen" etc. pp. - das alles ist Symptom kognitiver Verzerrungen:
Gruppenattributionsfehler - die Neigung, anzunehmen, dass eine Eigenschaft eines Mitglieds einer Gruppe typisch ist für alle Mitglieder derselben Gruppe.
Halo-Effekt - Die Neigung, anzunehmen, dass eine Eigenschaft eines Menschen auch andere Bereiche seines Verhaltens beeinflussen.
Gruppenhomogenitätsfehler - Die Neigung, davon auszugehen, dass die Mitglieder der eigenen Gruppe inhomogener sind als die einer anderen Gruppe, der man nicht angehört.
Das sind nur drei Beispiele, ich könnte noch weitere Fehler anführen. Interessant ist, dass wirklich alle Menschen diesem Fehler unterliegen, und dass man andererseits dann Wissenschaftler, die tatsächliche, statistische Gruppenunterschiede untersuchen, dann genau die Fehler vorwirft, die man selbst in großem Umfang macht, ohne sie zu bemerken.
Beispiele: Die Annahme, dass zu uns kommende Flüchtlinge alle traumatisiert seien, ist ein Pauschal-Vorurteil. Dass "der Westen" wegen seiner Waffenlieferungen für "die Kriege" in der Welt verantwortlich sei, ist ein Pauschal-Vorurteil, dass um nichts besser ist, als wenn ich allen Marokkanern unterstelle, sie seien kriminell oder potenziell kriminell. Oder wenn man gegen alle Fakten behauptet, "der Westen" würde alle afrikanischen Länder ausbeuten und daher sei es "unsere Schuld", wenn es daraufhin Kriege gibt und unsere Verantwortung, durch Aufnahme von Flüchtlingen dafür zu sorgen, dass es wenigstens einigen davon besser geht. Tatsache ist: Je mehr Handel ein Land mit westlichen Industrienationen betreibt, umso größer ist sein Wohlstand. Gäbe es diese ominöse "Ausbeutung", dürfte das nicht der Fall sein.
Niemand käme auf die Idee, dass wenn ein Mann seine Frau mit einem Messer ersticht, dies die Schuld des Herstellers oder Verkäufers von Messern sei. Aber wenn ein Industriestaat Waffen an ein Land liefert, dass dann einen Krieg anfängt, dann soll das plötzlich pauschal die Schuld "des Westens" sein - obwohl die Mehrheit der Staaten, an die Waffen geliefert werden, keine Kriege führen.
Ich sehe diese Art der Pauschalverurteilung ebenso kritisch wie die absurde Behauptung, "die Schwarzen" seien weniger intelligent als "die Weißen". Wir tun uns keinen Gefallen damit, wenn man die eine Form des Gruppendenkens verurteilt, um dann sogleich neue Gruppen aufzumachen und denselben Fehler fröhlich zu legitimieren.
Wir müssen Gruppendenken, das meist auf Vorurteilen basiert, in jeder Form gleichermaßen kritisch sehen - und nicht verschiedene Maßstäbe anlegen, je nach Sympathie für die eine oder andere Gruppen.
Wir können doch nicht die Augen davor verschließen, dass in jeder hinreichend großen Gruppe sich Kriminelle befinden, ob man nun Deutsche, Franzosen, Italiener, Schwarze, Weiße, Asiaten, Muslime, Christen, Nazis, Rechtsanwälte, Makler. Hausfrauen oder was auch immer betrachtet. Wenn man sich andere Gruppen durch eine rosarote Brille betrachtet, begeht man denselben Fehler, als wenn man alle Nordafrikaner als Kriminelle sieht, nur umgekehrt - und man kann schlecht einen Fehler damit beheben, denselben Fehler umgekehrt zu machen.
Wir sind uns als Menschen viel ähnlicher, als wir glauben - und wenn man willkürlich Gruppen bildet, aufgrund von Hautfarbe, Beruf, Religion, Haarfarbe, politischer Einstellung etc. pp., dann muss man aufpassen, nicht Opfer einer Verzerrung zu werden. Wir sind uns aber auch ähnlich hinsichtlich unserer Variationsbreite, d. h., bei jeder hinreichend großen Gruppe sehen wir eine ähnliche Schwankungsbreite aller Eigenschaften, es sei denn, man bildet eine Gruppe aufgrund einer ausgewählten Eigenschaft und nicht willkürlich.
Aber ohne Bezug auf Fakten, nur aufgrund der eigenen, beschränkten, subjektiven Perspektive, kann man es nicht vermeiden, den kognitiven Verzerrungen zu erliegen. Dafür müsste man erst mal Bewusstsein schaffen, bevor man andere kritisiert.
Ja, und ich behaupte keineswegs, ich hätte keine Vorurteile und wäre kein Opfer der genannten Verzerrungen. Ich bilde mir nicht ein, besser zu sein, wie es die Mehrheit tut. Ich versuche nur, zu sehen: Ist der Fehler, den ich einem anderen vorwerfe - oder gar einer Gruppe - nicht derselbe, den ich gerade begehe?
WissensWert (Freitag, 02 Dezember 2016 14:06)
http://gbs-schweiz.org/blog/der-fehlschluss-der-atypikalitaet-das-schlechteste-argument-der-welt/