Menschen ekeln sich vor Maden, Leichen, Exkrementen. Aber auch Ausbeutung und Diskriminierung empfinden sie als widerwärtig. Im Gehirn scheinen dabei sehr ähnliche Dinge abzulaufen.
Stellen Sie sich vor, Sie sind in einem fremden Land und jemand stellt Ihnen zum Essen eine trübe, übel riechende Brühe vor die Nase, in der schleimige Klumpen treiben, die wie Kot aussehen. Vermutlich haben sie jetzt ihre Augenzusammengekniffen, ihre Stirn gerunzelt und ihre Wangen und Oberlippe hochgezogen. Überall in der Welt verstehen Menschen diesen Gesichtsausdruck und wissen, was Sie jetzt gerade fühlen: Ekel.
Es ist kein Zufall, dass der Gesichtsausdruck für Ekel in sämtlichen Kulturen gleich ist. Denn die Grimasse drückt nicht nur ein Gefühl aus, sie ändert auch die Sinneswahrnehmung, das haben Forscher der Universität Toronto 2008 in einer Studie nachgewiesen: Die Nasenlöcher werden kleiner, die Augen schmaler. So werde möglichst wenig der ekelerregenden Substanz eingeatmet, die Augen seien geschützt, erklären die Wissenschaftler.
DAS WICHTIGSTE IN KÜRZE
· In allen Kulturen der Welt ekeln sich Menschen vor Dingen wie Kot und Leichen. Dabei ist die Emotion auch stets mit demselben Gesichtsausdruck verbunden.
· Forscher glauben, dass Ekel eine Art “Immunsystem des Verhaltens” ist, das den Menschen vor Krankheiten schützt.
· Auch unmoralisches Verhalten wird als ekelhaft empfunden. Dabei werden offenbar dieselben Strukturen im Gehirn genutzt.
Ein sinnvoller Mechanismus. Denn Ekel rufen in aller Regel Dinge hervor, die den Menschen krank machen könnten. Die Hygieneforscherin Valerie Curtis von der London School of Hygiene and Tropical Medicine glaubt, dass Ekel entstanden ist, um insbesondere mit Parasiten fertig zu werden. Diese kleinen Quälgeister gibt es überall auf der Welt. Sie schaden ihrem Wirt, indem sie Giftstoffe produzieren, das Verhalten beeinflussen, Ressourcen aufbrauchen und sich auf andere Individuen der Gruppe ausbreiten.
Egal ob es sich um Viren, Bakterien, Würmer oder anderes Getier handelt, der Mensch ist besser dran, wenn er sie vermeidet. Darum haben sich im Laufe der Evolution Barrieren wie die Haut und die Schleimhäute ausgebildet, die solche unerwünschten Gäste aus unserem Körper heraushalten sollen, und ein ausgeklügeltes Immunsystem, dass sie tötet, wenn sie es doch hinein schaffen. „Ekel ist die dritte Komponente, das Immunsystem des Verhaltens“, sagt Curtis. Die Emotion setze noch vor den beiden anderen Komponenten ein und solle verhindern, dass wir überhaupt mit Krankheitserregern in Berührung kommen.
Weil Viren, Bakterien und andere Parasiten aber nicht mit dem bloßen Augen sichtbar sind, muss dieses „Immunsystem des Verhaltens“ indirekt arbeiten. Die einfachsten Regeln, wollte man Parasiten vermeiden, wären: Vermeide allzu engen Kontakt mit anderen Individuen derselben Art. Meide Tiere, die Parasiten tragen können oder selbst wie Parasiten aussehen. Meide Umgebungen und Gegenstände, auf denen Parasiten leben könnten. Ekel führt dazu, dass wir genau diese Regeln einhalten. In einer Umfrage hat Curtis festgestellt, dass infizierte Wunden als ekliger empfunden werden als trockene, eine volle U-Bahn ekliger als eine leere und ein Mann, der Fiebersymptome zeigt, ekliger als derselbe Mann ohne diese Krankheitszeichen.
Auch die so genannte „Kontaktregel“ spricht für die Theorie von Curtis: Hatte ein Gegenstand Kontakt mit etwas, das Ekel auslöst, dann ist er selbst ekelerregend. Kaum jemand würde gerne eine Pizza essen, über die vorher eine Kakerlake gelaufen ist. „Instinktive Mikrobiologie“ nennt der Psychologe Steven Pinker dieses Verhalten. Schließlich könnten durch den Kontakt tatsächlich Krankheitserreger übertragen werden. „Ekel ist eine sehr klebrige Emotion, und das mit gutem Grund“, sagt Curtis.
Diese evolutionsbiologische Sicht des Ekels ist recht neu. Viele Jahre herrschten in der Psychologie Theorien vor, die Ekel vor allem als kulturelles Phänomen erklärten. Besonders einflussreich war etwa die Sichtweise des Psychologen Paul Rozin, der Ekel auch als Mechanismus des Menschen sieht, seine Sterblichkeit und seine Verwandtschaft mit den Tieren zu verdrängen. Die Anthropologin Mary Douglas glaubte, dass Ekel dazu dient, Dinge abzulehnen, die nicht in das Weltbild einer Kultur passen, um so die soziale Ordnung nicht zu gefährden. Und Freud glaubte, Ekel sei eine erlernte Reaktion und mit gezielter Erziehung könnte jede beliebige Aktivität zum Auslöser von Ekel gemacht werden. Studien haben aber gezeigt, dass die stärksten Auslöser von Ekel über zahlreiche Kulturen hinweg dieselben sind, etwa Kot, Leichen und Eiter.
Im Allgemeinen lassen sich Emotionen wie Wut oder Trauer im Gehirn schwer lokalisieren. Je nach Situation und von Person zu Person scheinen etwas andere Bereiche eine Rolle zu spielen. Neurowissenschaftler, die in den vergangenen Jahren versucht haben, Ekel im Gehirn zu orten, sind dagegen immer wieder auf zwei Areale gestoßen: Die Insula, ein Stück der Hirnrinde, das in etwa auf der Höhe der Schläfen liegt, und das Putamen, Teil der Basalganglien. Patienten, die unter der Krankheit Chorea Huntington leiden, haben häufig Schädigungen in diesen Hirnarealen und Schwierigkeiten, Ekel im Gesicht anderer Menschen zu erkennen.
Der britische Hirnforscher Andrew Calder hat dieses
Phänomen gemeinsam mit Kollegen erforscht. Dazu untersuchten sie einen 25-Jahre alten Patienten mit dem Namenskürzel NK, dessen Insula und Putamen durch einen Schlaganfall
geschädigt waren. NK hatte keine grundsätzlichen Probleme, Emotionen zu erkennen. So konnte er etwa die glücklichen oder die traurigen Gesichter aus einer Reihe von Porträts heraussuchen.
Lediglich bei den angeekelten Gesichtern schnitt er deutlich schlechter ab als andere Testpersonen. Auch Geräusche wie Würgen oder ein Satz, der in angeekelter Tonlage vorgelesen wurde, konnte NK
nicht als Zeichen für Ekel erkennen.
Weitere Untersuchungen ergaben, dass NK offenbar auch weniger Ekel empfindet. In einem Fragebogen, der verschiedene ekelerregende Situationen beschreibt, zeigte er deutlich weniger Ekel als Vergleichspersonen. Das sei das eigentlich wichtige an der Studie, sagt der britische Psychologe David Perrett von der Universität St. Andrews in Schottland: „Sie zeigt die Verbindung zwischen der Unfähigkeit, Ekel zu empfinden, und der Unfähigkeit, ihn bei anderen zu erkennen.“
Aber es ist etwas anderes, das Forscher am Ekel besonders interessiert und Fragen aufwirft, die äußerst schwer zu beantworten sind: Neben dem, was Forscher „core disgust“ nennen, also dem Basisekel, der etwa durch Erbrochenes ausgelöst wird, gibt es eine weit komplexere Form von Ekel: den vor unmoralischem Verhalten.
In einer Umfrage hat die Hygieneforscherin Curtis 77 Jugendliche in Großbritannien nach Verhalten gefragt, das sie moralisch anekelt. Dabei wurden etwa Vergewaltigung und Nekrophilie genannt – Verhaltensweisen, die wegen des Austausches von Körperflüssigkeiten und wegen des Umgangs mit Toten auch im Rahmen der Parasiten-Theorie des Ekels erklärbar sind. Aber unter den zehn meist genannten Verhalten fanden sich zum Beispiel auch Diskriminierung, Ausbeutung und Folter. Lösen solche Taten wirklich Ekel aus? Oder handelt es sich eher um eine Metapher, die wir nutzen, um unsere Ablehnung zu umschreiben?
Tatsächlich haben Untersuchungen im Magnetresonanztomographen gezeigt, dass durch unmoralisches Verhalten zu einem Großteil die gleichen Gehirnareale aktiviert werden wie durch Kernekel. So erregt etwa ein unfaires Angebot in einem Spiel dieselben Gesichtsmuskel wie der Anblick ekelhafter Bilder. Wissenschaftler haben sogar zeigen können, dass Schuldgefühle wegen unmoralischen Verhaltens schwächer werden, wenn Versuchspersonen sich die Hände reinigen. Es ist also tatsächlich möglich, seine Hände in Unschuld zu waschen. Valerie Curtis glaubt, dass das Gehirn auf Anzeichen reagiert, dass ein anderer Mensch sich wie ein Parasit, eben unfair, verhält. Solche Menschen zu isolieren, weil sie als ekelhaft empfunden werden, sei eine starke Strafe für asoziales Verhalten.
Tatsächlich ist Ekel aber auch als Motor für besonders unmoralisches Verhalten genutzt worden. Die deutschen Nationalsozialisten rechtfertigten ihre Verbrechen etwa immer wieder, indem sie Juden als Ratten oder Kakerlaken darstellten. Und auch im Vorfeld des Völkermordes in Ruanda verunglimpften Hutus die Tutsis als Kakerlaken. Menschen als ekelhaft abzustempeln, scheint eine mächtige Waffe zu sein.
Studien der Psychologinnen Lasana Harris und Susan Fiske von der Princeton University zumindest belegen, dass Menschen anderen gegenüber durchaus Ekel empfinden können. Die Forscherinnen zeigten zehn Probanden Bilder von Dingen und zehn Probanden Bilder von Geschäftsleuten, Studenten, Obdachlosen und Drogenabhängigen. Dabei zeigte sich, dass die beiden letztgenannten Gruppen die Hirnareale aktivieren, die typisch für Ekel sind. Gleichzeitig war der präfrontale Cortex weniger aktiv, ein Hirnareal, das besonders in sozialen Situationen eine wichtige Rolle spielt. „Diese neurologischen Anhaltspunkte unterstützten die These, dass extreme Außenseiter-Gruppen als weniger menschlich oder entmenschlicht wahrgenommen werden könnten“, folgern die Forscherinnen in ihrer Studie von 2006.
Doch die Meinung über Außenseiter scheint veränderlich: Als die Teilnehmer in einer weiteren Studie aus dem Jahr 2007 aufgefordert waren, sich zu überlegen, welches Essen die Porträtierten wohl mögen, stieg die Aktivität im präfrontalen Cortex wieder an – den Forscherinnen zufolge ein Hinweis darauf, dass Vorurteile leicht revidiert werden könnten und soziale Wahrnehmung immer von Kontext abhängt. Noch sind die Hinweise auf solche Zusammenhänge sehr bruchstückhaft, die Aktivierungsmuster in den Studien könnten sich auch anders erklären lassen. Eines zeigt die Studie jedoch deutlich: Das Interesse der Forschung an einer der unangenehmsten Emotionen des menschlichen Lebens ist geweckt.
· Harris, L. et al.: Social groups that elicit disgust are differentially processed in mPFC. Scan 2. 2007:45-51 (zum Text).
Gastbeitrag von: Kai Kupferschmidt