Hans-Christian Pape, geboren 1956, ist Leiter des Instituts für Physiologie I an der Medizinischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Mitglied des Wissenschaftsrats. Er erforscht die neurophysiologischen Grundlagen des Verhaltens, besonders der Furcht und Angst sowie der Regulation von Schlaf- und Wachphasen. Pape erhielt bereits mehrere wissenschaftliche Auszeichnungen, darunter den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft (1999) und den Max-Planck-Forschungspreis (2007). Pape bezeichnet sich selbst nicht als ängstlichen Menschen, sieht die eigene Furcht allerdings als Schutzmechanismus vor gefährlichen Situationen.
Herr Pape, Sie sind Angstforscher. Wann haben Sie sich das letzte
Mal so richtig gefürchtet?
Das weiß ich noch genau. Meine Frau hat Anfang des Jahres vom Arzt eine nicht unproblematische Diagnose bekommen. Das fand ich beängstigend.
Hilft es in solchen Situationen, dass Sie das Phänomen Angst seit
Jahren erforschen?
Man kann sich seine eigenen Reaktionen zumindest besser erklären und dadurch ein wenig besser kontrollieren. Ich würde vor
allem sicher erkennen, wenn ich eine krankhafte Form der Angst entwickeln würde.
Heißt das, es gibt so etwas wie gute Angst und schlechte
Angst?
Wir müssen zunächst drei Begriffe unterscheiden: Schreck, Furcht und Angst. Der Schreck ist eine reflexartige Reaktion auf ein bestimmtes Ereignis, ein lautes
Geräusch etwa oder einen bellenden Hund. Da sind recht einfache Schaltkreise im Gehirn beteiligt. Furcht dagegen involviert häufig auch gespeicherte Informationen. Indem wir diese Informationen
abrufen, können wir eine Situation besser interpretieren: Wenn es sich nur um einen kleinen Chihuahua handelt, besteht kaum Gefahr, wenn es aber ein Rottweiler ist, der mit entsprechenden Zeichen
von Aggressivität auf uns zukommt, dann wissen wir, dass wir um unsere Gesundheit fürchten müssen.
Furcht ist also durchaus sinnvoll…
Ja, ein großes, bellendes, aggressives Tier könnte ja bedrohlich sein. Furcht ist deshalb wichtig. Sie bereitet uns darauf vor, diese potentielle Gefahr abzuwehren
oder ihr zu entgehen. Das ist eine sehr grundlegende Verhaltensstrategie, die in fast allen Wirbeltieren vorhanden ist und deren Überleben sichert.
Und Angst?
Angst ist eine überzeichnete Furchtreaktion. Sie kann auftreten, ohne dass es einen direkten Auslöser gibt, und für einen Außenstehenden ist die Reaktion häufig
nicht nachvollziehbar.
Woher kommt dann diese Angst?
Das können zum Beispiel Erinnerungen sein. Wenn ein Kind im Alter von drei oder vier Jahren von einem Hund angegriffen wurde, kann dieses traumatische Erlebnis
dazu führen, dass im Gehirn des Kindes eine Angstspur angelegt wird, die andere Erfahrungen nur unvollständig überdecken können. Diese Erinnerung kann dann auch in Situationen abgerufen werden,
in denen der Auslöser, also etwa der Hund, gar nicht real vorkommt. Ein Geräusch, das dem Bellen ähnelt, die Begegnung mit einem anderen Tier oder nur deren Vorstellung könnte bei dieser Person
panikartige Angst auslösen.
Die beliebtesten Angstmodelle für Forscher sind Ratten, denen
man einen Ton vorspielt und dann einen schwachen Stromstoß gibt. Nach einiger Zeit zeigen die Tiere eine Angstreaktion, wenn sie den Ton nur hören. Was ist passiert?
Das ist nur ein schwacher elektrischer Reiz am Fuß, so als würde man einen Weidezaun berühren. Im Gehirn der Nagetiere hat sich eine einfache,
assoziative Gedächtnisspur gebildet, die den Ton mit diesem Schreck auslösenden Reiz verbindet – ähnlich dem Beispiel mit dem bellenden, aggressiven Hund. Der Ton wird mit der Erfahrung
des Stromstoßes assoziiert.
Der Angstforscher Joseph LeDoux hat solche Tiere untersucht
und gezeigt, dass einer Region im Gehirn, die Amygdala oder Mandelkern heißt, eine entscheidende Rolle bei der Entstehung von Ängsten zukommt. Ist der Mandelkern unsere
Angstzentrale?
Die Amygdala ist sehr wichtig, aber sie ist nicht allein für unsere Furcht und Angst verantwortlich. Wir wissen, dass Angst gegen bestimmte Objekte
ausgebildet werden kann, wie gegen Spinnen, Hunde oder eben einen bestimmten Ton. Aber man kann sich auch vor bestimmten Kontexten fürchten, vor Höhe zum Beispiel oder sozialen Begegnungen.
Hierbei sind andere Gehirnstrukturen von großer Bedeutung, wie der Hippocampus. Nehmen Sie die Ratte aus dem Beispiel vorhin aus dem Käfig heraus, in dem das Tier die schreckhafte Erfahrung
gemacht hat, und setzen Sie es in eine andere Umgebung. Wenn Sie einen Tag später die Ratte in den ersten Käfig zurücksetzen, dann zeigt sie Furchtverhalten, auch wenn gar kein Ton gespielt wird.
Die Ratte hat nicht nur den Ton, sondern auch die Umgebung als schreckhaft kennen gelernt – sie fürchtet sich vor dem gesamten Kontext, wozu der Hippocampus und seine Verbindungen zur Amygdala
einen entscheidenden Beitrag liefern.
Wenn ich also in der Dämmerung im Park ausgeraubt werde und ich begegne dem Räuber wieder...
...dann ist die Angst, die Sie spüren, vor allem das Werk der Amygdala. Aber die Angst, die Sie spüren, wenn sie abends alleine im Park unterwegs sind, das ist
dem Einfluss des Hippocampus zuzuschreiben.
Und wenn ich immer wieder abends durch diesen Park laufe und mir
passiert nichts?
Das ist dann so, wie wenn man einem Menschen mit einer Spinnenphobie immer wieder eine Spinne auf den Arm legt und er merkt: Die tut mir ja gar nichts. Da lernt
der Patient, dass eine Spinne keine Gefahr bedeuten muss. Genauso kann der Überfallene lernen, dass ein Park in der Dämmerung nicht notwendigerweise eine Gefahr bedeutet. Für diese neue
Bewertung ist wieder eine andere, entwicklungsgeschichtlich sehr viel jüngere Hirnregion wichtig: der präfrontale Cortex.
Angst wird im Gehirn also von einer Art Dreigestirn
repräsentiert?
Genau. Die Amygdala ist die Instanz für einfache Formen des assoziativen Furchtlernens, für kompliziertere Formen und den Kontext der Angst spielt der
Hippocampus eine wichtige Rolle, und der präfrontale Cortex ist die Instanz darüber. Das ist die Instanz, die das Furcht- und Angstgedächtnis
kontrollieren und auch die zunächst gemachte Angsterfahrung überlagern kann. Hierzu legt der präfrontale Cortex eine eigene Gedächtnisspur an, das so genannte Extinktionsgedächtnis, welches das
Furchtgedächtnis überschreiben kann.
Die erste Angsterfahrung wird
ausgelöscht?
Nein. Das mulmige Gefühl bleibt, wenn Sie durch den Park gehen. Denn die Erinnerung wird im Regelfall nicht ausgelöscht. Es wird eine Art Balance zwischen
Amygdala und Hippocampus auf der einen Seite und dem Cortex auf der anderen Seite hergestellt. Diese Balance bestimmt die Angstreaktion. Das ist enorm wichtig. Wird ein Patient, zum Beispiel nach
einer traumatischen Erfahrung, wegen einer Angststörung behandelt, und die Therapie ist erfolgreich, dann lebt er oft Monate lang ohne Beschwerden. Aber dann kann plötzlich, in einem so genannten
Flashback, die Angst wiederkommen. Eine Erklärung dafür ist, dass die Balance zwischen dem Extinktionsgedächtnis und dem initial angelegten Angstgedächtnis wieder zurückverschoben
wurde.
Solche Patienten sind ja nicht gerade selten. Fast die Hälfte
aller Menschen, die zum Psychiater gehen, geben als Grund ein gestörtes Angstverhalten an: Phobien, Traumata, Angststörungen.
Das stimmt. In unserem Kulturkreis wird statistisch gesehen jeder fünfte Mensch im Laufe des Lebens eine behandlungsbedürftige Angststörung erleiden. Dabei
erkennen die Betroffenen eine Angststörung erst dann, wenn die Angst die Lebensqualität beeinträchtigt. Das kann so weit gehen, dass die Patienten jeden sozialen Kontakt, jeden Kontakt mit der
Umwelt vermeiden. Neben neurobiologischen Prozessen und Umgebungseinflüssen spielen dabei aber auch die Gene eine Rolle. Es sind eine ganze Reihe von Genen identifiziert
worden, die sozusagen das Grundgerüst einer Angstveranlagung darstellen, auf das die individuellen Erfahrungen aufbauen.
Forschern ist es schon 2007 gelungen, bei einer Maus, die
gelernt hatte, auf zwei verschiedene Töne ängstlich zu reagieren, gezielt eine dieser Angsterinnerungen zu löschen. Wie weit sind wir davon entfernt, gezielt Ängste bei Patienten zu
löschen?
Im Tiermodell funktioniert das schon sehr gut. Wir wissen, dass im Gedächtnis bestimmte Prozesse immer wieder ablaufen müssen, um eine Erinnerung
langfristig zu verankern. Dazu müssen komplizierte Signalwege in den Nervenzellen in Amygdala, Hippocampus und präfrontalem Cortex immer wieder durchlaufen werden. Wenn man da
eingreift, zum Beispiel pharmakologisch oder auch einfach durch eine erneute Präsentation des Furcht auslösenden Reizes, kann man die Gedächtnisspur tatsächlich löschen. Jüngste Hinweise zeigen,
dass das auch im Menschen möglich ist, sofern es innerhalb von Stunden nach der Angsterfahrung passiert. Das sind allerdings noch wissenschaftlich-experimentelle Studien. Der Weg zu einer
therapeutischen Anwendung ist noch sehr weit. Man sollte nicht suggerieren, dass wir zum Beispiel in fünf Jahren Patienten so behandeln können.
Manche Menschen empfinden die Idee, dass wir in Zukunft
in der Lage sein werden, gezielt Erinnerungen zu löschen, als sehr bedrohlich.
Das kann ich gut verstehen. Ich denke aber auch, dass man sich die positiven Seiten dieses Ziels vor Augen halten sollte: Es gibt eine sehr große Zahl
von Patienten, deren Lebensqualität durch exzessive Angst, Panikattacken oder schlimme posttraumatische Belastungsstörungen massiv eingeschränkt ist. Und die Zahl
dieser Patienten steigt. Das ist ein großes gesundheitspolitisches und volkswirtschaftliches Problem.
Natürlich bieten die Ergebnisse der bio-medizinischen Forschung Potential zum Missbrauch – in
unserem Bereich wird dann gerne über Hirnwäsche besonders auch im Militärbereich spekuliert. Aber wir haben hier wirklich die Chance, durch gezielte neue Therapien der häufigsten psychiatrischen
Erkrankung zu begegnen. Denken Sie nur daran, dass 90 Prozent der aus Afghanistan heimkehrenden Soldaten Angststörungen entwickeln und quasi dauerhaft behandelt werden müssen.