Manche Hirnforscher haben sich übernommen: ihre Versprechungen sind nicht haltbar, ihre Vorstellungen nicht erreichbar. Der Mensch ist mehr als die Summe seiner Neurone, der Reduktionismus mehr Verkaufsstrategie als Realität. Sagt Stephan Schleim.
Die vor gut einem Jahr veröffentlichte Titelstory How Science Goes Wrong, wie die Wissenschaft schief läuft, haben die Redakteure des britischen Economist ausgerechnet mit einem Gehirnbild illustriert. Sind die Neurowissenschaften etwa besonders vom Fehlerteufel geplagt, kommen dort schlechte wissenschaftliche Praktiken öfter vor als in anderen Disziplinen? Ich denke nicht.
Die Entscheidung der EU, mehr als eine Milliarde an Forschungsgeldern für das Human Brain Project verfügbar zu machen, kurz darauf gefolgt von der ähnlich umfangreichen amerikanischen BRAIN Initiative, war jedoch noch in guter Erinnerung. Die Neurowissenschaften sind, wohl stimuliert durch die Dekade des Gehirns (1990-2000) der US-Regierung sowie der Europäischen Kommission, zur neuen Mega-Wissenschaft geworden.
Wohl deshalb, weil das ikonische Gehirn nach und nach zum Sinnbild der Wissenschaft wurde, ließen wir so vielen Neuro-Experten so lange Zeit so viele unwissenschaftliche Aussagen durchgehen: Ob PISA-Schock, ob Erziehung, ob Schwerverbrechen, ob Geschlechterunterschiede – jedes Mal traten Neuro-Sachverständige aller Couleur auf den Plan, um die Öffentlichkeit aufzuklären. Ihre Vorträge waren gut besucht, ihre Bücher verkauften sich prächtig und bisweilen bekamen sie sogar ihre eigene Fernsehsendung.
Ein nach wie vor frappierendes Beispiel ist das vor zehn Jahren erschienene Manifest führender Hirnforscher. Bei aller Neuro-Faszination, die mich selbst damals von der Philosophie in die affektive und kognitive Neurowissenschaft gelockt hat, sind den wenigsten Lesern die offenen Widersprüche aufgefallen: Geist und Bewusstsein würden sich restlos naturwissenschaftlich erklären lassen, das sei die vielleicht wichtigste Erkenntnis der modernen Neurowissenschaften; eine Erkenntnis, die diese Damen und Herren Neurowissenschaftler für sich verbuchten, noch lange bevor sich so eine Erklärung des Menschen überhaupt nur am Horizont abzeichnete.
An anderer Stelle im Manifest hieß es dann salomonisch, man wisse noch gar nicht, mit welchen Methoden man nach so einer Erklärung suchen solle. Aha. Eine durchschnittliche Philosophiestudentin mit Grundkenntnissen in Logik, Erkenntnis- und Argumentationstheorie hätte den Text also auseinandernehmen und als eine Art Werbeprospekt für ein Forschungsprogramm identifizieren können. Nichtsdestotrotz – oder vielleicht gerade deshalb – diskutieren wir nach zehn Jahren immer noch darüber, obwohl es diesem Programm von Anfang an an inhaltlicher Substanz gefehlt hat.
Viele trieb dabei die Angst vor dem Reduktionismus um: Wenn die Hirnforschung eines Tages alles erklärt, was bleibt denn dann für die Geistes-, Sozial-, Kultur- und Medienwissenschaften übrig? Ich provoziere meine Studierenden noch immer mit der Frage, warum sie, wenn sie doch den Menschen verstehen wollen, bei uns in der Psychologie sitzen und nicht in der Neurowissenschaft nebenan. Eine Antwort darauf ist, dass das Gehirn selbst eben (auch) ein Kulturprodukt ist.
Die natürliche Veranlagung etwa zur Sprache nützte uns wenig, würden wir nicht in einer Sprachgemeinschaft aufwachsen; und die Regeln einer solchen Sprachgemeinschaft lassen sich eben nicht (nur) mit den Methoden der Hirnforschung untersuchen. Reduktionismusangst passé. Wer es wissenschaftstheoretischer möchte, der führe sich vor Augen, dass die Erklärungen der Neurowissenschaften in der Regel mechanistische sind und keine reduktionistischen, siehe etwa die Arbeiten Carl Cravers und seiner Kollegen.
Bei der reduktionistischen Erklärung, für die es im Übrigen gar nicht so viele gute Beispiele gibt, wie landläufig gedacht wird, kann eine reduzierende Theorie die reduzierte im Prinzip ersetzen. Bei der mechanistischen greifen aber häufig über verschiedene Ebenen und disziplinäre Grenzen hinweg Erklärungsteile ineinander. Die verschiedenen Ebenen und Disziplinen bleiben dabei aber unabhängig voneinander bestehen.
Als Wolf Singer also 2004 formulierte, dass (neuronale) Verschaltungen uns festlegen, hätten wir reflexartig weiterfragen müssen, was diese Verschaltungen festlegt. Dann wären wir erst gar nicht auf den Neuroreduktionismus hereingefallen. Hinterher ist man freilich immer schlauer. Ich habe selbst bis 2010 gebraucht, als ich die Einführung meines Buchs über die Neurogesellschaft schrieb, um diesen wichtigen Schritt weiter zu denken. Ähnlich lässt sich ein anderes Mantra des Neuroreduktionismus entwaffnen: Ohne Gehirn ist alles nichts. Vielleicht ist das so, es richtet sich natürlich vor allem gegen einen Leib-Seele-Dualismus, aber umgekehrt ist eben auch ohne alles das Gehirn nichts.
Dass der Reduktionismus eher eine publicityträchtige Verkaufsstrategie als eine wissenschaftlich untermauerte Position ist, macht ihn aber nicht weniger gefährlich; im Gegenteil. In Form der Wir-erklären-den-Menschen-Haltung, die uns so häufig bei einigen berühmt gewordenen Hirnforschern begegnet ist, schadet er der Wissenschaft und der Gesellschaft erheblich. In einer Welt, in der schier grenzenloses Selbstbewusstsein und weitreichende Versprechen in Form einflussreicher Publikationen und von Forschungsgeldern belohnt werden, setzen sich nämlich die skrupellosesten Übertreiber durch.
Heute kommt es schon häufiger bei Master-Studierenden und Doktoranden vor, dass sie Forschungsanträge – zum Beispiel für ihre eigenen zukünftigen Stellen – schreiben und sich so im Wettbewerb um begrenzte Forschungsmittel durchsetzen müssen. Leider wird wie bei Wahlversprechen nur selten am Ende einer Periode kontrolliert, was davon eingehalten wurde. Die vielversprechendsten Kandidatinnen und Kandidaten werden einmal selektiert und haben dann in der Regel einen Freifahrschein für die kommenden Jahre, bis zur nächsten Runde des Wettbewerbsspiels.
Für Kritiker und Zweifler ist dabei keinen Platz. Wer schon nicht voll und ganz selbst von seiner Position überzeugt ist, wie soll der dann andere davon überzeugen? Dabei ist der konsequente Zweifel an allen Ergebnissen, vor allem denjenigen, an denen einem am meisten liegt, doch ein Grundpfeiler der Wissenschaft, wie es etwa in der DFG-Denkschrift zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis so schön heißt.
Die Erfahrung, dass einem die herrschende Meinung beim Veröffentlichen der Forschungsarbeit so viele Beschränkungen auferlegt, hat mich in meiner eigenen wissenschaftlichen Ausbildung zutiefst verstört und mich schließlich wieder auf die theoretische Ebene getrieben. Wieso sollte der Verkaufswert einer Interpretation oder der Mainstream so viel mehr zählen als meine eigene, begründete Meinung darüber, welche Interpretation meiner Ergebnisse die Beste ist?
Natürlich sollte man Anfänger vor Fehlern schützen und die Qualität aufrechterhalten; mit diesen edlen Motiven lässt sich aber politische Einflussnahme hervorragend kaschieren. Eine Interpretation ist dann nicht falsch, weil sie wissenschaftlich nicht stimmt, sondern weil sie nicht ins vorhandene Bild passt und damit nicht publizierbar ist; und wer nicht gut genug publiziert, der fliegt aus dem Wissenschaftsbetrieb heraus – so einfach ist das.
Ich habe einmal einen der führenden Forscher in meinem damaligen Gebiet an einem der weltbesten Institute näher kennengelernt. Da konnte ich ihn direkt fragen, warum er und seine Kollegen die Daten im neuen Nature-Paper so und nicht anders interpretiert haben. Die Antwort tötete den jungen Wissenschaftler in mir: Die Peer Reviewer, die für die Qualitätskontrolle sorgen sollten, wollten es so. Das war wirklich die ganze Antwort! Die Peer Reviewer wollten es so. Heute weiß ich, dass auch dieser Professor für seine Karriere und den Status seines Instituts publizieren musste. Je höher man aufsteigen will, desto größer werden wahrscheinlich die Systemzwänge.
Diese Systemzwänge zur Aufrechterhaltung der Wahnidee, dass alles kontrollierbar, messbar, vergleichbar ist und als exzellent oder nicht-exzellent klassifiziert werden kann, sind meines Erachtens für die im eingangs zitierten Economist-Artikel beschriebenen Probleme verantwortlich. Wie sollte man sonst begreifen, dass so viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Grundsätze, beispielsweise zur Verwendung statistischer Methoden, brechen, die man ihnen schon im Grundstudium eingebläut hat?
Jenseits des Mainstreams sind kleine Gruppen wie die von Suparna Choudhury und Jan Slaby lancierte Critical Neuroscience entstanden, die explizit Platz für das Hinterfragen der sozialen und politischen Voraussetzungen von Wissenschaft einräumen. In einem Memorandum für eine Reflexive Neurowissenschaft haben Boris Kotchoubey und Felix Tretter, auch unter meiner Beteiligung, dem reduktionistischen Denken eine systemwissenschaftliche Perspektive entgegengestellt.
Es wird sich zeigen, ob sich solche alternative Ideen langfristig durchsetzen können. Ich bin aber fest davon überzeugt, dass es eine Idee gibt, die, einmal geboren und in den Köpfen der Menschen angekommen, nicht mehr aussterben wird; und wenn wir uns dieser Idee wieder vollständig bewusst werden, dann werden wir die (Neuro-) Wissenschaft wieder beim Wort nehmen können.
Gastbeitrag von: Prof. Stephan Schleim