„In einer Welt, die überflutet wird von belanglosen Informationen, ist Klarheit Macht.“ 

- Yuval Noah Harari

Neurokritikkritik

Ja, die Hirnforschung hat Probleme. Doch es sind weniger, als der Neuroskeptizismus verbreitet. Und es ist einfach, ein solch enormes Projekt wie das Verstehen des Gehirns nach 30%, vielleicht aber auch erst nach 5% der Strecke zu kritisieren.

Neuroskeptizismus liegt im Trend. Schon vor Jahren beklagten mahnende Stimmen den inflationären Gebrauch der Vorsilbe "Neuro". 2012 stand die gesamte Methode der funktionalen Bildgebung in der Kritik und mit ihr einige große Namen der sozialen Neurowissenschaft; sie waren über die Hirnaktivität toter Lachse gestolpert. 2013 nahm die Kritik dann richtig Fahrt auf, zeigte sich wuchtig in Begriffen wie "Neuro Bubble", "Neuro Nonsense" und "Mindless Neuroscience". Inzwischen gibt es Bestseller und Symposien. Und so mancher Hirnforscher zeigt sich betont bescheiden. Nach meinem Gefühl zu bescheiden.

Neuroskeptizismus ≠ Neuroskeptizismus

Nicht alle Neurokritik der letzten Jahre erscheint mir fair. So sind Hirnforscher weitestgehend unschuldig, wenn Webprogrammierer ihre Produkte als "Neurowebdesign" anpreisen. Von den Anbietern diverser Brain-basierter Kurzzeittherapien ganz zu schweigen. Wissenschaftler können auch nichts dafür, wenn wir Journalisten in unseren Überschriften auch dort von Hirn reden, wo im Artikel gar keines vorhanden ist. Jeder will Geld verdienen. Und "Neuro-" verkauft.

 

Tatsächlich berechtigt sind dagegen Kritiken am Betrieb der Neurowissenschaften, von der forscherischen Sucht nach Sensationen, bis zur Nicht-Replizierbarkeit vieler Versuche. Zwar ist ersteres ein Symptom der Wissenschaftskultur von publish or perish – was nicht zuletzt mit Finanzierung und Existenzdruck zu tun hat – und ist weit über die Neurowissenschaft hinaus verbreitet. Doch die Reproduzierbarkeit betrifft die Biowissenschaften mit ihrem komplexen Untersuchungsgegenstand besonders. Das Problem ist bekannt und wurde unter anderem auf der Neuroscience-Konferenz 2014 in Washington besprochen. Die Session wurde gar geleitet von Thomas Insel, dem Direktor des National Institute of Mental Health und einem der Gastgeber der Konferenz. Hier ist Bewegung, auch wenn die Umsetzung noch einige Zeit brauchen wird.

Lektionen in Demut

Zwischen diesen beiden Polen – einer unsäglich, einer schwerwiegend – liegt ein weites Feld der Kritik, das man differenzierter betrachten sollte. Einiges davon macht sich fest an dem legendären Manifest, das eine Gruppe von Neurowissenschaftlern 2004 in der Zeitschrift Gehirn & Geist veröffentlichte. Für Aufregung sorgten Sätze wie "Dies bedeutet, dass man widerspruchsfrei Geist, Bewusstsein, Gefühle, Willensakte und Handlungsfreiheit als natürliche Vorgänge ansehen wird, denn sie beruhen auf biologischen Prozessen."

 

Das Futur – "ansehen wird" – war keine Utopie, es bezog sich nicht auf das Jahr 2104, sondern schien in der Umsetzung zum greifen nah. Die Neurowissenschaft war berauscht von Methoden und Erfolgen, sie hatte Witterung aufgenommen und hoffte, die Aufklärung 2.0 läge nur eine Ecke weiter.

 

Doch zehn Jahre später sind wir diesen biologischen Prozessen nicht wirklich näher gekommen. Und nicht nur die Unterzeichner des Manifests haben das Projekt unterschätzt – das Gehirn ist deutlich komplizierter, als wir uns das je haben träumen lassen. Oder, das ist vermutlich passender, wir uns sogar aktuell vorstellen können. Es scheint, als läge jedes neu entdeckte Inselchen der Erkenntnis in einem eigenen Meer an Fragen, von deren Existenz wir vorher nichts wussten. Eine unbekannte Zahl an Inseln wartet noch auf Entdeckung und schafft dann womöglich wieder neue Disziplinen. Und es lauern jede Menge Drachen auf der Karte des Gehirns.

Eine Frage der Zeit

Den Philosophen und Psychologen war das natürlich schon lange klar: Wer sich näher mit dem eigenen Geist auseinandersetzt, weiß, wie kompliziert der ist. Die Hirnforscher waren optimistischer, naiver. Allerdings erklärte mir Eric Kandel in einem Interview 2009, wir wüssten: nichts. Und seien noch gute 100 Jahre von einer umfassenden Gehirntheorie entfernt.

 

Betrachtet man die Hirnforschung durch Kandels historische Brille, scheinen manche Punkte der Neurokritik nahezu naiv. Schon fMRT hatte mit Phrenologie wenig gemein und auch diese Methode wird stetig verbessert. Doch wer – außer einigen Forschern – hätte vor 10 Jahren von Optogenetics geträumt? Oder der Möglichkeit, Proteine aufzulösen und Gewebe durchsichtig zu machen? In mehreren Projekten praktizierter Crowd-Science wird das Konnektom erforscht. Die amerikanische BRAIN-Initiative wirft sich mit ganzer Kraft auf die Entwicklung neuer Methoden.

 

Während also manche gern die Stagnation beleuchten, entwickelt sich die Hirnforschung weiter explosiv: Genom, Konnektom, Proteom – die Hirnforscher werden noch eine ganze Zeit auf See sein.

Gehirnübertreibungssyndrom? Wirklich?

Wir sprechen hier von der Grundlagenforschung und dieser Grund liegt sehr tief unter dem menschlichen Alltagserleben. Das scheint mir das eigentliche Problem der Hirnforschung zu sein: Unser erlebtes Ich in Deckung zu bringen mit der Aktivität von Kanalproteinen – da drohen Reduktionismus und Biologismus. Beides Schimpfwörter. Denn Menschen sind geborene Dualisten: Sie erleben sich als Summe von Körper und Geist. Ein substratbasierter Monismus ist ihnen unheimlich. Sie hängen an ihrer Seele, Aufklärung hin oder her.

 

Diese Reduktionsmusvorwürfe erscheinen mir, ganz subjektiv, teilweise sehr konstruiert. Zum Beispiel sei das Bewusstsein nicht im Gehirn lokalisierbar sondern mindestens auch im Körper. Tatsächlich gibt die ‘embodied cognition’ jede Menge Hinweise darauf, dass sich Wahrnehmungen oder die Körperhaltung auf die Befindlichkeit auswirken (Körper denkt mit). Es ist sogar möglich, dass nach der Vermutung von Peter König (Das Verhältnis von Motorik und Sensorik) die Motorik das Primat vor der Sensorik hat, weil das Feedback von initiierter Bewegung und veränderten Wahrnehmungen durch diese Bewegung sehr zum Gefühl des Ichs beiträgt.

 

Tatsächlich orientiert sich die gesamte Verarbeitung der Wahrnehmung sehr an der Motorik. Sehen Sie selbst: Drehen Sie den Kopf ruckartig von ganz links nach ganz rechts. In der Zeit der Bewegung haben Sie vermutlich nichts gesehen. Das Gehirn – genauer: Teile des Gehirns, das Gehirn ist ein komplexes System! – hat sich die Verarbeitung dieses verwaschenen Seheindrucks einfach vorab gespart. Und Sie waren für kurze Zeit blind. Doch dass die visuelle Verarbeitung stattfindet, dass sie ausgesetzt wird, dass überhaupt eine Bewegung initiiert und gewollt wird – all das geht auf Prozesse des Gehirns zurück.

 

Natürlich ist der Körper wichtig, ist bis weit in die Kindheit hinein vermutlich unabdingbar, denn ohne Körperprozesse kein Feedback, kein Lernprozess, keine Abstimmung des Gehirns auf die Gepflogenheiten der Welt.

 

Dass Querschnittslähmungoder gar Locked-in etwas mit dem Bewusstsein machen, steht zu vermuten. Doch auch Leute im Locked-in schreiben Bücher. Und Steven Hawking ist zwar ein extremes Beispiel von geistiger Leistung bei massiver körperlicher Einschränkung, aber eben auch ein sehr beeindruckendes.

Ein Gehirn ist nicht genug

Ein anderes, gern verwendetes Argument betrifft die Notwendigkeit anderer Menschen für das eigene Bewusstsein. Es stimmt – Sartre lag mit seiner Aussage " L'enfer, c'est les autres - Die Hölle, das sind die anderen" genauso richtig, wie daneben. Denn auch indem wir uns über sie ärgern, die anderen, sie geben uns doch genau damit die Möglichkeit, uns als Entität, als eigenständiges Wesen wahrzunehmen. Das wissen wir spätestens seit Kaspar Hauser.

 

Doch auch hier ist die Entwicklung der entscheidende Faktor. Später im Leben reichen uns vermutlich einige Kannibalen (Robinson Crusoe) oder ein Volleyball (Cast Away), um eine Weile durchzuhalten. Dass dieser Ball im Verlauf des Filmes wie ein Gefährte behandelt wird, dass wir unser Auto anmeckern und unser Motorrad innig lieben, zeigt, wie tief das Soziale in uns verdrahtet ist. Doch im Erleben des Sozialen ist – jedenfalls im Westen – das eigene Ich die Mitte. Und zumindest für das entwickelte Bewusstsein kann man eine gewisse Zeit lang die Umwelt streichen, ohne dass große Schäden zu befürchten sind. Streicht man das Gehirn aus der Gleichung, verschwindet das Bewusstsein.

Das Wunder der Schöpfung

Ungleich mehr Neuroskeptiker als Hirnforscher interessieren sich für solch noetische Themen. Und wo sie darüber diskutieren, neigen beide Gruppen zur Übertreibung. Doch manchmal sind sich beide Seiten darüber im Klaren, dass sie von einem komplexen System sprechen – ein Synonym für etwas, das wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht begreifen können, weil schlicht zu viele Figuren auf dem Brett stehen, wo sie nach unbekannten Regeln interagieren.

 

Trotzdem kommen wir um die anrüchigen Begriffe Reduktionismus und Biologismus auf lange Sicht nicht herum. Nach meiner Meinung. Und nach eben dieser nimmt das dem Menschen nichts an Wunderbarem. Das subjektive Seelenleben ist durch die Fortschritte der Hirnforschung in keiner Weise gefährdet, spirituelle Techniken wie Meditation und Yoga werden in ihrer Wirksamkeit sogar bestätigt. Und soziale Fähigkeiten wie Empathie und Fairness sind im gesunden Menschen bei normaler Entwicklung unvermeidbar. So gesehen ist der Mensch schon in der Grundausstattung ein guter. Diese Frage wurde jahrhundertelang kontrovers diskutiert.

 

Doch wir sprachen vom Wunder: Sie sehen es beim Blick in die Augen Ihres Lieblingsmenschen. Beim Lächeln Ihres Babys. Beim Gespräch mit guten Freunden. Beim Lösen eines Problems. Sie spüren es nach einem Zehntausendmeterlauf und in der Kurve auf der Zweizylinder. Es ist überall, unbeeindruckt von jedem Erklärungsversuch. Aber manifestiert in keineswegs banaler Physiologie.

Gastbeitrag von: Arvid Leyh

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