Evolutions-Spuren am Menschen: der Umweg des Kehlkopfnerven
Normalerweise verlaufen Nerven auf direktem Weg vom Zentralnervensystem zu ihrem Zielorgan. Am menschlichen Kehlkopf findet sich eine anatomische Ausnahme. Der Kehlkopfnerv nimmt keinen direkten Weg vom Gehirn zum Kehlkopf, sondern macht erst einen Umweg von der Schädelbasis in den Brustkorb, zieht dort eine Schlinge um ein Blutgefäß, um dann wieder zurück zum Hals und zum Kehlkopf aufzusteigen. Warum dieser nutzlose Umweg?
Wie bei fast jeder biologischen Frage: aufgrund unserer Stammesgeschichte.
In Fischen verläuft der Nerv auf direktem Weg von Gehirn zum "Kehlkopf" (genauer: zum 6. Kiemenbogen, aus dem sich in der weiteren Evolution in Amphibien, Kriechtieren und Säugetieren der Kehlkopf bildet). Fische haben keinen Hals. Ihr Herz liegt direkt unterhalb vom Kopf. Verlängert sich im Lauf der Evolution der obere Teil der Wirbelsäule zu einem Hals, dann wandert das Herz allmählich in den Brustkorb hinab und zieht die großen Blutgefäße hinterher. Unter einem dieser Gefäße verläuft der Kehlkopfnerv. Wandert das Gefäß nach unten, dann wird der ursprünglich gerade verlaufende Nerv wie die Schlinge einer Steinschleuder aufgespannt und mitgezogen. Er verlängert sich auf etwa das dreifache seiner eigentlich notwendigen Länge. Bei Giraffen macht der Recurrens einen Umweg von mehr als fünf Metern, um eine funktionelle Distanz von nur wenigen Zentimetern zu überbrücken.
In der Embryonalzeit zeichnen wir alle unsere Evolutionsgeschichte noch einmal im Schnelldurchlauf nach. Das Herz des Menschen entsteht embryonal direkt am Kopf. Wandert es in den Brustkorb, dann wird unser Kiemenbogen-Nerv durch eine große Arterie wie eine Schlinge mitgezogen. Würde man das menschliche Herz zurück an seinen Ursprungsort am Kopf verlegen (wie bei Fischen), dann würde der Nerv wieder einen geraden, direkten Verlauf nehmen.
Der Verlauf des Kehlkopfnerven (N. laryngeus recurrens) ist ein Beweis für unsere Abstammung von Fischen.
Die "Gegenprobe": Bei manchen Menschen fehlt die rechte Arteria subclavia, die embryonal den rechten Kehlkopfnerven in Richtung Brustkorb dehnt und verlängert. Damit behält der Nerv seinen ursprünglichen, direkten, kurzen Verlauf. (Der rechte Arm wird stattdessen über eine Arterie von der linken Seite versorgt (A. lusoria).
Gastbeitrag von: Jori Wehner
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