Das Ich ist kein Ding. Es ist ein vielschichtiger Prozess, der uns überleben hilft, sagt der Mainzer Philosoph Thomas Metzinger. Ein Gespräch über Wirklichkeit, Begriffspolizisten, Meditation und die Suche nach der ultimativen Belohnung.
DAS WICHTIGSTE IN KÜRZE
· Das Gehirn erschafft ein Modell des Körpers. Das so genannte „Ich“ ist der Inhalt dieses Modells. Alles, was dazu gehört, erlebe ich als meins: meine Körperglieder, meine Gefühle, meine Gedanken, mein bewusstes Erleben.
· „Ich“ ist also kein Ding sondern ein Vorgang, der sehr viele Aspekte und inhaltliche Schichten hat.
· Trotzdem ist es sinnvoll, sich um Selbsterkenntnis zu bemühen, denn ebenso wie Meditation erhöht diese die geistige Freiheit.
· Auch wenn immer mehr Phänomene rund um das Selbstbewusstsein empirisch erforscht werden können, bleibt den Philosophen noch viel Arbeit bei der Klärung der verwendeten Begriffe.
Herr Professor Metzinger, klassische philosophische Themen wie das Ich oder das Selbstbewusstsein werden immer stärker zu Gegenständen der empirischen Wissenschaften. Hat die Philosophie überhaupt noch etwas dazu beizutragen?
Auf jeden Fall. Naturalistische Philosophen zum Beispiel versuchen, klassische Fragen so zu formulieren, dass sie empirisch erforscht werden können, anti-naturalistische versuchen zu zeigen, dass es einen essentiellen Wesenskern der Subjektivität in uns gibt, den man nicht naturwissenschaftlich erklären kann. Aber die Erfahrung zeigt, dass dabei noch viel Begriffsklärung nötig ist. Und die ist Sache der Philosophen.
Welche Begriffe müssen denn erklärt werden?
Die Hirnforscher – aber auch die Journalisten – reden immer von “dem Ich” oder “dem Selbst”. Eines meiner Lieblingsbeispiele ist das self processing: Das klingt, als würden da Informationen durch den temporoparietalen Winkel gedreht wie eine Wurst durch die Wurstmaschine und heraus kommt das fertig “verarbeitete” Selbst. Da gibt es einfach viel begrifflichen Unsinn. “Das Ich” oder “das Selbst” gibt es gar nicht. Selbstbewusstsein ist kein Ding, sondern ein Vorgang – mit sehr vielen Schichten und Ebenen. Da hat die philosophische Begriffspolizei schon noch einiges zu tun.
Es gibt kein Ich?
Es gibt den Ausdruck “ich”. Das ist ein sprachliches Werkzeug, mit dem ein Sprecher in einer bestimmten Situation auf sich selbst zeigt, ein so genannter “indexikalischer Ausdruck”. Sprachphilosophisch betrachtet ist “ich” ersetzbar durch “der Sprecher dieses Satzes”. Dieses Werkzeug zu beherrschen, lernen wir als Kinder nach und nach. Und wir können diese Fähigkeit auch wieder verlieren, etwa im Alter oder bei Hirnverletzungen. Wichtig ist: Selbstbewusstsein und ein deutlich ausgeprägtes Ichgefühl kann es natürlich auch ohne die sehr spezielle Fähigkeit geben, den sprachlichen Ausdruck “ich” zu gebrauchen, etwa bei Tieren. Es ist auch nicht wirklich notwendig, das Wörtchen “ich” denken zu können. Körperwahrnehmung, Gefühle, die Selbstlokalisierung in einem raumzeitlichen “Hier” und “Jetzt” reichen mehr als aus. Das begrifflich vermittelte Selbstbewusstsein ist eine sehr starke, aber auch sehr seltene Erscheinungsform.
Und warum sind wir dann so fest davon überzeugt, dass es unser Ich gibt?
Sie sind nicht davon überzeugt, dass es “Ihr Ich” gibt (Wem gehört es eigentlich dann?), sondern davon, dass es Sie selbst gibt. Das stimmt ja auch. Sie kennen Ihre Lebensgeschichte, haben vielleicht eine Idee, was für ein Mensch Sie sind. Was das bedeutet, kann man sich mithilfe der Gummihandillusion klar machen. Dabei legt der Proband seine Hand unter den Tisch oder unter eine Abdeckung. Sichtbar vor ihm auf dem Tisch liegt eine Hand aus Gummi. Wenn nun jemand die verdeckte Hand des Probanden berührt und dieser zugleich sieht, wie die Gummihand vor ihm immer wieder gleichzeitig berührt wird, fühlt er die Berührung in der Gummihand. Das Gehirn hat die eingehenden Sinnesdaten auf eine möglichst natürliche Weise interpretiert und sein Modell der Wirklichkeit aktualisiert. Und das heißt in diesem Fall: Es rechnet die Gummihand zum eigenen Körper hinzu. Das Gehirn erschafft ein bewusstes Modell des Körpers, das ist der grundlegende Teil dessen, was ich das “phänomenale Selbstmodell” nenne.
Können Sie das näher erklären?
Das so genannte “Ich” ist der Inhalt dieses Modells. Alles, was dazu gehört, erlebe ich als meins: meine Körperglieder, meine Gefühle, meine Gedanken, mein bewusstes Erleben. Und die Neurowissenschaft hat gezeigt, dass dieses Modell nicht nur ein Konstrukt, sondern auch ein sehr selektives Konstrukt ist, ein für das individuelle Überleben und den Fortpflanzungserfolg gut funktionierendes Werkzeug, eine praktische Auswahl der Wirklichkeit sozusagen. Deshalb nenne ich unser bewusstes Modell der Wirklichkeit manchmal auch den “Ego-Tunnel”: Was wir im Kopf haben ist nicht die Wirklichkeit, sondern ein Tunnel durch die Wirklichkeit, ein sich durch die Zeit hindurch ständig veränderndes Bild der Welt. Dieses Bild hat einen Mittelpunkt: Das Ego, der Teil des Bildes, in dem sozusagen das Sehen der Welt noch einmal mit hineingeschmuggelt wird.
Und in diesem Tunnel sitzt also das Ich?
Nein! In diesem Tunnel sitzt niemand. Erst generiert unser Gehirn eine Simulation der Welt, die so gut ist, dass wir sie für die Welt halten. Und dann noch ein Bild von uns selbst als einer Ganzheit. Das nennen wir Ich oder Selbst. Dazu gehört aber nicht nur der bewusst erlebte Körper und unsere Gefühle, sondern eben auch das „wissende Selbst“: die Erfahrung, dass man selbst jetzt im Moment gerade durch Denken und Wahrnehmung, aber auch durch Handeln auf die Welt gerichtet ist. Das ist kein Ding oder Männchen im Kopf, sondern der Inhalt eines Modells. Der Ego-Tunnel erzeugt eine stabile Erste-Person-Perspektive, eine subjektive Sicht auf die Welt. Das ist ein ausgesprochen geschickter Trick der Natur.
Wie kann man die erforschen?
Das menschliche Selbst kann man auf verschiedenen Beschreibungsebenen untersuchen. Auf der sozialen Ebene: Was für eine Art von Selbstmodell ermöglicht welche gesellschaftlichen Phänomene? Oder auf der neurowissenschaftlichen Ebene: Was sind die neuronalen Korrelate des Selbstbewusstseins? Was sind die minimalen physiologischen Bedingungen dafür, dass im Gehirn ein Ich-Gefühl entsteht? Man kann aber auch untersuchen, welche Fähigkeiten man braucht, um einen Körper zu beherrschen und in der Bewegung zu kontrollieren. Das wäre das körperliche Selbstbewusstsein. Es gibt auch eine Innenwahrnehmung, ich nenne das das „interozeptive Selbstmodell“: Wie kann ich Hunger, Durst, Atmung, Herzschlag, oder vielleicht auch den Gleichgewichtssinn spüren? Das variiert zwischen den Menschen sehr stark.
Dann gibt es eine höhere Schicht, ich nenne sie das „emotionale Selbstmodell“, das ergibt sich direkt aus den Körperempfindungen und verschmilzt oft mit ihnen. Man kann das Selbstmodell als einen Vorgang sehen, der ständig versucht, vorauszusagen, was wohl die nächste innere oder äußere Körperempfindung sein wird und der dabei ständig versucht, hässliche Überraschungen zu vermeiden. Und auf der obersten Ebene gibt es dann das kognitive Selbstmodell, die Tatsache, dass wir im Normalfall unsere Gedanken als unseren eigenen erleben und manchmal auch erleben, dass wir unsere Gedanken kontrollieren, erleben, dass Denken etwas ist, was wir selbst tun.
Ist das ein empirischer Befund oder eine philosophische Klassifikation?
Hirnverletzungen und Erkrankungen zeigen uns, dass das Ich kein monolithischer Block ist. Immer wenn man zeigen kann, dass ein Aspekt des menschlichen Selbstmodells selektiv ausfallen kann, liegt es nahe, dass dem auch eine funktionale Einheit im Gehirn entspricht. Wenn man zeigen kann, dass A ohne B existieren kann und B ohne A, hilft einem das, die funktionale Architektur des menschlichen Selbstbewusstseins besser zu verstehen. Hier zeigt sich wieder sehr deutlich: Das so genannte “Ich” ist kein Ding, sondern ein Vorgang, der sehr viele Aspekte und inhaltliche Schichten hat. Es ist etwas, das sich über das Leben hin entwickelt, es ist im Traumzustand ganz anders als im Wachzustand. Da gibt es nichts Festes, aber es gibt sehr stabile Kernaspekte, zum Beispiel die leibliche Verankerung im Hintergrundempfinden des Körpergefühls. Das Ichgefühl, das zeigt sich immer deutlicher, ist aus Teilkomponenten zusammengesetzt, die experimentell manipulierbar sind: Schweregefühl, Gleichgewichtssinn, Identifikation mit dem Körper: da wird es in der Zukunft noch viel feinkörnigere Experimente geben.
Wenn das Ich ein Sammelsurium aus verschiedenen Prozessen ist, hat dann das alte Philosophenprojekt, sich um Selbsterkenntnis zu bemühen, noch Sinn?
Natürlich! Es ist nur so, dass in unserer Zeit die Neuro- und Kognitionswissenschaften und die Philosophie des Geistes die wesentlichen Beiträge zu diesem Prozess der wissenschaftlichen Selbsterkenntnis liefern. Aber wir sollten an diesem Projekt auf jeden Fall festhalten. Schon, weil es für ein gutes Leben wichtig ist und sich damit viel Leiden vermindern lässt.
Inwiefern?
Leiden besteht darin, dass subjektive Präferenzen verletzt werden. Das heißt, dass Wünsche, von denen man sich nicht distanzieren kann, nicht erfüllt werden oder dass es zu inneren Konflikten zwischen ganz vielen Wünschen kommt. Diese innere Struktur – also: die betreffenden Regionen im Selbstmodell – genauer zu verstehen, die uns zum Beispiel ständig nach einem nicht erreichbaren stabilen Glückszustand streben lassen, das würde uns helfen, konfliktfreier zu leben. Es würde auch helfen zu verstehen, welche unserer festen Überzeugungen eigentlich keinerlei Grundlage haben und warum Mutter Natur bestimmte Formen der Selbsttäuschung in uns eingebaut hat. Dann könnten wir versuchen, nicht so stark zum Sklaven der eigenen physischen und geistigen Gewohnheiten zu werden. Selbsterkenntnis kann freier machen.
Sie sprechen von Meditation?
Wenn Meditation regelmäßig über einen längeren Zeitraum
praktiziert wird, hilft sie uns, im Inneren ein wenig Luft zu schaffen, ein wenig Platz zwischen uns und unseren Wünschen, sie hilft uns, uns selbst auf die Schliche zu kommen. Das kann sehr
nützlich sein und die innere Freiheit und Autonomie erhöhen.
Ich denke, dass es im Kern genau darum geht: die Erhöhung der eigenen geistigen Autonomie. Doch man muss zwischen Theorie und Praxis unterscheiden. In den
weltanschaulichen Theorien, die sozusagen durch die kontemplativen Traditionen der Menschheit mitgeliefert werden, zeigen sich oft Widersprüche.
Wie meinen Sie das?
Da soll dann “das Ich” überwunden werden zugunsten eines Zustands jenseits von Freude und Leid, der dann aber auch wieder ein erfreulicher Zustand sein soll, eine Art von Belohnung. Das gibt es überall, in der fernöstlichen Tradition ebenso wie im Christentum. Der Mechanismus der Selbstbildung kommt mir manchmal vor wie der Kapitalismus: Er saugt alles in sich auf, macht es zu einem Teil einer radikal egoistischen und an Eigennutz interessierten Strategie – nur eben immer subtiler. Das gilt auch für den angestrengten und selbstgefälligen Versuch, sich selbst zu überwinden: Ich bin es, der mich überwinden will. Auf solche Ideen kommt das Ich, wenn ihm keine irdische Belohnung mehr genügt – vielleicht ist die Suche nach Gott und Erlösung in Wirklichkeit ja die ultimative Form von Eitelkeit und Selbstverherrlichung und Sterblichkeitsverleugnung.
Das klingt hart.
Echte Spiritualität könnte möglicherweise darin bestehen, dass wir uns ehrlicher mit unserer Sterblichkeit auseinandersetzen. Aber wer will das schon und wer weiß das alles so genau? Wenn die Neurowissenschaften Recht haben und das Gehirn nach dem Tod kein Selbstmodell mehr generieren kann, sieht es für “das Ich” eher schlecht aus. Aber wenn man dann noch etwas genauer hinschaut, dann ist das ja vielleicht auch schon während des Lebens der Fall.
Herr Metzinger, vielen Dank für dieses Interview!
· Metzinger, T.: Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst: von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik, Berlin 2009 (zum Text).
Interview führte: Dr. Manuela Lenzen