Irreversible Kosten (sunk costs) sind Kosten, die bereits entstanden sind und nicht wieder (beispielsweise durch Verkauf) rückgängig gemacht werden können.
Die sunk-cost fallacy (Fehlschluss der irreversiblen Kosten) bezeichnet den Umstand, dass Menschen dazu tendieren, ein Vorhaben (z.B. ein Projekt, eine Beziehung) fortzusetzen, wenn bereits eine Investition in Form von Geld, Anstrengung (Energie), Zeit o.ä. getätigt wurde, also irreversible Kosten entstanden sind. Wenn in ein schlechtes Unterfangen aber bereits viel Zeit und Mühen investiert wurden, sollte man deshalb aber natürlich nicht daran festhalten.
Das Ausmaß der sunk cost fallacy ist größer, wenn eine Person selbst für die vergangenen Kosten verantwortlich oder persönlich in die Entscheidungsprozesse und ihre Folgen involviert ist. Denn dann müsste dieser sich persönliche Fehler eingestehen, wenn er das Projekt abbricht. Aus entscheidungstheoretischer Sicht ist ein solches Verhalten irrational. Er verletzt die wirtschaftswissenschaftliche Neoklassik, wonach versunkene Kosten, da sie unwiederbringbar sind, bei einer gegenwärtigen oder zukünftigen Entscheidung eines Homo Oeconomicus keine Rolle spielen dürfen. Da vergangene Kosten unabhängig von den Entscheidungsalternativen bestehen, sollten nur inkrementelle und zukünftige Kosten im Entscheidungsprozess berücksichtigt werden.
Ein sehr schönes Beispiel für eine sunk cost fallacy findet sich in Jorge Luis Borges' Geschichte "Das Problem". Darin geht es um Don Quijote, den Helden aus Miguel de Cervantes' gleichnamigem Roman. Don Quijote erschafft sich eine imaginäre Welt, in der er ein legendärer Held ist, der gegen Riesen kämpft und die edle Dame Dulcinea del Toboso rettet. In Wirklichkeit ist Don Quijote Alonso Quijano, ein älterer Gutsherr; die adlige Dulcinea ist ein ungehobeltes Bauernmädchen aus einem nahen gelegenen Dorf; und die Riesen sind Windmühlen. Was würde passieren, fragt sich Borges, wenn Don Quijote im Glauben an diese Wahnvorstellungen einen realen Menschen angreift und tötet? Borges stellt damit eine grundlegende Frage zur conditio humana: Was passiert, wenn die Geschichten, die wir uns ausdenken, uns selbst oder den Menschen um uns herum großen Schaden zufügen? Es gibt drei Möglichkeiten, sagt Borges:
Eine Option ist, dass nicht viel passiert. Don Quijote wird sich nicht aus der Ruhe bringen lassen, weil er einen realen Menschen getötet hat. Seine Täuschungen sind so übermächtig, dass er inzwischen diesem Vorfall und seinem imaginären Duell mit den Windmühlenriesen nicht unterscheidet. Eine andere Option ist, dass Don Quijote, sobald er ein reales Leben führt, so erschrickt, dass er aus seinen Täuschungen gerissen wird. Das wäre ähnlich wie beu einem jungen Rekruten, der in den Krieg zieht, weil er glaubt, es sei gut, für das eigene Land zu sterben, und durch die Wirklichkeit auf dem Schlachtfeld jegliche Illusion verliert.
Und es gibt noch eine dritte Option, die deutlich komplizierter und tiefgründiger ist. Solange er gegen imaginäre Riesen kämpfte, spielte Don Quijote nur eine Rolle, aber sobald er tatsächlich jemanden tötet, wird er sich um jeden Preis an seine Fantasien klammern, denn sie sind das Einzige, was seinem schrecklichen Verbrechen einen Sinn gibt. Paradoxerweise ist es so: Je mehr Opfer wir für eine erfundene Geschichte bringen, desto stärker wird die Geschichte, weil wir diesen Opfern unter dem Leid, das wir verursacht haben, um jeden Preis Sinn geben wollen.
Priester haben diesen Umstand schon vor Jahrtausenden entdeckt. Es liegt zahlreichen religiösen Zeremonien und Geboten zugrunde. Will man, dass die Menschen an erfundene Wesenheiten wie Götter und Nationen glauben, sollte man sie in einem intellektuell wehrlosen Kindesalter indoktrinieren oder dafür sorgen, dass sie anstatt Zeit etwas anderes Wertvolles opfern. Je schmerzlicher das Opfer ausfällt, desto überzeugter sind die Menschen von der Existenz des erfundenen Empfängers. Ein armer Bauer, der Jupiter einen unbezahlbaren Stier opfert, wird fest daran glauben, dass Jupiter wirklich existiert, denn wie sollte er sonst seine Dummheit rechtfertigen? Der Bauer wird noch einen Stier opfern und noch einen und noch einen, nur damit er sich nicht eingestehen muss, dass die vorherigen Stiere verschwendete Lebensmühe waren. Genauso verhält es sich mit heutigen Christen. Sie sanktionieren sich in ihren (bspw. sexuellen) Freiheiten und machen dies trotz aufkommender gerechtfertigter Zweifel wieder und wieder, weil sie sich nicht eingestehen wollen, dass all ihre Entbehrungen für die Katze waren.
Wenn ich für Ruhm und Ehre der italienischen Nation ein Kind oder für die kommunistische Revolution meine Beine geopfert habe, reicht das aus genau dem gleichen Grund wie bei den Theisten aus, mich zu einem fanatischen italienischen Nationalisten oder einem begeisterten Kommunisten zu machen. Denn wenn die nationalen Mythen Italiens oder die kommunistische Propaganda eine Lüge wären, dann muss ich mir eingestehen, dass der Tod meines Kindes oder der Verlust meiner Beine vollkommen sinnlos waren. Dazu haben nur wenige Menschen den Mut, deshalb nehmen sie lieber weiterhin völlig sinnlose Kosten in Kauf, als sich diese einzugestehen.
Die gleiche Logik ist auch in der Politik am Werk. 1999 beschloss die Regierung von Schottland, ein neues Parlamentsgebäude zu errichten. Laut ursprünglichen Plan sollte das Bauvorhaben zwei Jahre dauern und 40 Millionen Pfund kosten. Tatsächlich dauerte es fünf Jahre und kostete 400 Millionen Pfund. Jedes Mal, wenn das geschah, sagte sich die Regierung: "Wir haben schon 40 Millionen Pfund versenkt und werden völlig diskreditiert sein, wenn wir den Bau jetzt stoppen und mit einem halb fertigen Skelett dastehen. Geben wir also noch einmal 40 Millionen Pfund." Ein halbes Jahr später geschah genau das Gleiche, wobei der Druck, bloß nicht mit einem unfertigen Gebäude dazustehen, noch größer war; sechs Monate später wiederholte sich die Geschichte erneut und immer so weiter, bis die tatsächlichen Kosten zehnmal so hoch lagen wie ursprünglich geschätzt. In Deutschland erleben wir gerade bei den Bauprojekten Stuttgart 21 oder Flughafen Berlin Brandenburg exakt denselben Denkfehler.
Doch nicht nur Regierungen tappen in diese Falle. Auch Wirtschaftsunternehmen versenken mit gescheiterten Vorhaben oft Millionen, während Privatleute an nicht mehr funktionierenden Ehen oder gescheiterten Gedankengebäuden festhalten und sich in beruflichen Sackgassen verrennen. Denn die menschliche Psyche würde lieber in der Zukunft weiter leiden, nur um nicht zugeben zu müssen, dass es dem vergangenen Leid an jeglichem Sinn fehlt. Wenn wir aber doch mit unseren Fehlern der Vergangenheit ins Reine kommen wollen, hilft es eine Narrative zu finden, die die versunkenen Kosten doch noch mit einem Sinn auflädt. So könnte sich beispielsweise ein pazifistischer Kriegsveteran sagen: "Ja, ich habe aufgrund eines Fehlers meine Beine verloren. Aber dank dieses Fehlers weiß ich jetzt, dass der Krieg die Hölle ist, und von nun an werde ich mein ganzes Leben dem Kampf für den Frieden widmen. Insofern hatte meine Verwunderung dann dich einen positiven Sinn: Sie lehrte mich, den Frieden erst richtig schätzen zu können." Oder ein salafistischer Apostat kommt zur persönlichen Conclusio: "Ja, ich habe 40 Jahre meines Lebens aufgrund eines Irrtums Hass und Intoleranz gepredigt. Aber dank dieses Fehlers weiß ich jetzt, wie salafistische Organisationen funktionieren und kann mich umso effektiver gegen sie und für eine offene Gesellschaft starkmachen." Wenn wir es schaffen, versunkenen Kosten einen Sinn zu verleihen, können wir sie uns leichter eingestehen und aus ihnen lernen lernen.
Teile aus: Yuval Noah Harari: Homo Deus: Eine Geschichte von Morgen
WissensWert (Donnerstag, 13 April 2017 14:03)
Allgemein gilt: Bei einer Entscheidung müssen (nur) die Kosten/Auswirkungen berücksichtigt werden, die durch die Entscheidung (noch) beeinflusst werden. Deshalb müssen sunk costs außen vor bleiben: Sie sind bereits entstanden und werden durch die Entscheidung, weiter zu machen oder nicht, nicht beeinflusst.
Ich vermute übrigens, dass die im Beitrag erwähnten Gründe auch der Grund dafür sind, dass – soweit ich es beurteilen kann – Judentum und Islam (vermutlich auch Hinduismus) weniger Mitgliederverluste haben als die christlichen Großkirchen in Europa: Islam und Judentum fordern viel mehr Rituale und das Einhalten von Regeln. Im europäischen Mainstream-Christentum ist das egal. Die Mitglieder sind "weniger investiert".
WissensWert (Mittwoch, 12 April 2017 01:20)
Weitere Beispiele für sunk-cost fallacies finden sich rasch:
- Man bleibt in einem schlechten Kinofilm bis zum Ende sitzen, obwohl man eigentlich ziemlich sicher ist, dass er nicht besser wird - man hat schließlich dafür bezahlt!
- Man geht wöchentlich auf den abonnierten und im Voraus bezahlten Tennisplatz, obwohl man an diesem Tag keinerlei Lust dazu hat - man hat schließlich dafür bezahlt!
- Man besucht weiterhin die Universität, obwohl man weiß, dass BWL nichts für einen ist und man nachher auch keinen Wirtschaftsjob machen möchte – man hat schließlich schon viele Semester in das Studium investiert!
- Man hält an einer jahrzehntealten Beziehung fest, obwohl man nicht mehr glücklich ist, man hat schließlich schon so viele Mühen und Lebensjahre in sie investiert!
- Man hält an einer Aktie fest, und zwar umso stärker, desto tiefer diese unter Kaufpreis sinkt und desto höher beim Verkauf der persönliche Verlust ausfallen würde.