Sie kennen bestimmt das Sprichwort „Geld regiert die Welt“. Vielleicht glauben Sie aber auch, dass es Herrschaft oder Ideologien sind, die letzten Endes die Welt regieren. Das stimmt alles - zum Teil. Jedoch sind Geld, Herrschaft oder Ideologien selbst nichts weiter als erschaffene, intersubjektive Realitäten, insofern ist es die Intersubjektivität, die die Welt regiert!
Die Menschen tun sich schwer damit, Vorstellungen von "intersubjektiven Realitäten" zu begreifen, weil sie davon ausgehen, dass es nur zwei Arten von Realität gibt: objektive und subjektive Realität. In der objektiven Realität (auch: Wirklichkeit) existieren Dinge unabhängig von unseren Überzeugungen und unserer psychischen Verfassung. Die Gravitation beispielsweise ist von objektiver Realität. Es gab sie schon lange vor Newton, und sie betrifft Menschen, die nicht daran glauben, genauso wie diejenigen, die daran glauben.
Subjektive Realität hängt dahingegen von meinen persönlichen Überzeugungen und meiner psychischen Verfassung ab. Nehmen wir einmal an, ich spüre einen heftigen Schmerz in meinem Kopf und gehe zum Arzt. Der Arzt checkt mich gründlich durch, findet aber nichts. Also schickt er mich zu allerlei Experten für diverse physische Beschwerden, aber auch die finden nichts. Trotzdem spüre ich noch immer einen heftigen Schmerz in meinem Kopf. Obwohl alle objektiven Untersuchungen festgestellt haben, dass mir nichts fehlt, und obwohl niemand außer mit Schmerz empfindet, ist dieser subjektive Schmerz für mich zu einhundert Prozent real.
Die meisten Menschen nehmen an, eine Realität sei immer entweder subjektiv oder objektiv.
Sobald sie sich damit abgefunden haben, dass so etwas wie Macht, Religionen oder der Wert des Geldes nicht nur ihr eigenes Empfinden ist, müssen sie deshalb zu dem Schluss kommen, diese Dinge
seien objektiv. Wenn viele Menschen an Gott glauben, wenn Geld die Welt regiert und wenn der Nationalismus Kriege anzettelt und Großreiche errichtet – dann spiegeln diese Dinge nicht einfach nur
meine subjektiven Überzeugungen wieder. Bei Gott, Geld und Herrschaft muss es sich demnach um objektive Realitäten handeln.
In Wahrheit gibt es jedoch noch eine dritte Ebene der Welt (siehe auch: Drei-Welten-Lehre), nämlich die intersubjektive.
Intersubjektive Phänomene hängen am stärksten von der Kooperation und Kommunikation zwischen vielen Menschen ab, weniger von den Überzeugungen und Gefühlen Einzelner. Viele der wichtigsten
Strippenzieher in der Menschheitsgeschichte sind intersubjektiv. Geld
beispielsweise hat keinen objektiven Wert. Weltliche Herrschaft auch nicht. Und selbst Gott
höchstpersönlich hat immer dann nicht mehr über die Welt geherrscht, wenn keiner mehr an ihn geglaubt hat.
Man kann einen fünf Euro Schein beispielsweise nicht essen, trinken oder anziehen, er besitzt keinen objektiven (Mehr-)Wert. Doch solange Abermillionen von Menschen an seinen Wert glauben, kann man damit Essen, Getränke und Kleidung kaufen gehen! Wenn der Bäcker als einzelnes Subjekt urplötzlich seinen Glauben an den 5-Euro-Schein verliert und sich weigert, mir für dieses graue Stück Papier einen Laib Brot zu geben, ist das nicht weiter schlimm für mich. Ich kann einfach ein paar Straßen weiter zum nächsten Supermarkt gehen. Wenn sich jedoch auch die dortige Kassiererinnen weigern, dieses Stück Papier anzunehmen, ebenso wie die Händler auf dem Markt und die Verkäufer im Kaufhaus, dann wird der Euro seinen Wert verlieren. Die grauen Stücke Papier werden natürlich weiter existieren, aber sie werden wertlos. Die intersubjektive Realität vom Wert des 5-Euro-Scheines ist zusammengebrochen (siehe u.a.: Hyperinflation).
Solche Dinge passieren tatsächlich immer wieder. So verkündete die Regierung von Myanmar am 3. November 1985 unerwartet, Banknoten im Wert von 25, 50 und 100 Kyat seien kein legales Zahlungsmittel mehr. Die Menschen hatten keinerlei Möglichkeit, die Geldscheine umzutauschen, und lebenslange Ersparnisse verwandelten sich von einem Moment auf den nächsten in einen Haufen wertloses Papier. Als Ersatz für die nicht mehr existierenden Banknoten führte die Regierung neue Scheine im Wert von 75 Kyat ein, angeblich zu Ehren des 75. Geburtstags von General Ne Win, dem Diktator des Landes. Im August 1986 wurden Banknoten im Wert von 15 und 35 Kyat ausgegeben. Gerüchte wollen wissen, der Diktator, der an Zahlenmystik glaubte, hielt die 15 und die 35 für Glückszahlen. Seinen Untertanen jedenfalls brachte sie wenig Glück. Am 5. September 1987 verkündete die Regierung plötzlich, sämtliche 35- und 75-Kyat-Noten seien als Zahlungsmittel nicht mehr gültig.
Geldwert ist nicht das Einzige, was sich auflöst, sobald die Menschen nicht mehr daran glauben. Gleiches gilt für Gesetze, Götter, ja, sogar für ganze Imperien! Gerade noch eifrig dabei, die Welt zu beherrschen, können all diese intersubjektiven Kartenhäuser schon bald in sich zusammenstürzen. Zeus und Hera waren einst wichtige Mächte im Mittelmeerraum, doch heute fehlt ihnen jegliche Autorität, da niemand an sie glaubt. Das gleiche Schicksal wird eines Tages Yahwe, Krishna und Allah ereilen, die heute noch intersubjektive Realitäten schaffen und so das Weltgeschehen maßgeblich mitbestimmen können.
Selbiges gilt für die intersubjektive Gebilde „Herrschaft“ und „Macht“. Die Sowjetunion war einst dazu in der Lage, die gesamte Menschheit zu zerstören, doch nur mit einem Federstreich hörte sie komplett auf überhaupt nur zu existieren. Um zwei Uhr nachmittags am 8. Dezember 1991 unterzeichneten die Staatsoberhäupter Russlands, der Ukraine und Weißrusslands in einer staatlichen Datscha in der Nähe von Viskuli die Vereinbarungen von Beloweschskaja Puschtscha. Danach gab es keine Sowjetunion mehr. Wenn wir eines Tages aufhören an die parlamentarische Demokratie zu glauben, wird es auch sie nicht mehr geben. Jede Revolution begann mit der Erkenntnis, dass die Herrschaft der Mächtigen nicht natur- oder gottgegeben ist, sondern sich auf die intersubjektive Realitäten der Mehrheit gründet – und selbige sie deshalb auch beenden kann.
1740 marschierte König Friedrich II. in Schlesien ein und begann eine Reihe blutiger Kriege, die ihm den Beinamen „Friedrich der Große“ einbrachten. Als Friedrich eines Tages zusah, wie seine Truppen sich für den Einmarsch sammelten, soll er zu seinen Generälen gesagt haben, dass ihm an dem ganzen Szenario am meisten beeindruckte, dass „wir hier in völliger Sicherheit stehen und 60.000 Männern zuschauen – sie sind alle unsere Feinde, und es gibt nicht einen unter ihnen, der nicht besser bewaffnet und stärker ist als wir, und doch zittern sie alle in unserer Gegenwart, während wir keinerlei Grund haben, Angst zu haben“.[1]
· Macht ist intersubjektive Realität.
· Wenn Macht ihre intersubjektive Realität verliert, wird sie zur Ohnmacht.
Wie selbstverständlich gehen die allermeisten Menschen davon aus, dass antike griechische Götter, böse nationalistische Imperien und die Werte außerirdischer Kulturen nur in (intersubjektiven) Fantasien existieren. Und doch will die ignorante Mehrheit aller Menschen nicht akzeptieren, dass der eigene Gott, die eigene Nation oder unsere Werte bloße Fiktionen sind, denn um nichts weiter als intersubjektive Fiktionen handelt es sich bei den Dingen, die in unserem Leben einen Sinn geben und unsere Gesellschaften zusammenhalten! Wir Menschen wollen glauben, dass unser Leben einen objektiven Sinn hat und wir für wirkliche Werte einstehen, und tun wir das zuhauf auch, und erschaffen dabei aber erst die Realität von Sinnen und Werten. In Wahrheit aber hat das Leben der (meisten) Menschen nur in dem Geflecht der Geschichten, die sie einander erzählen, einen Sinn. Und die Werte, für die wir einstehen sind nur solange real, wie wir sie für realiter halten. Viele ansonsten im Denken sehr geschickte Humanisten verneinen diesen Umstand und meinen stattdessen, dass zum Beispiel die Menschenrechte objektiv real seien (siehe: Objektivismus). Doch auch dieser Glaube ist nur eine weitere, intersubjektiv erschaffene, wirkungsmächtige Fiktion.
Sinn und Herrschaftsordnungen entstehen in der Regel erst dann, wenn hinreichend viele Menschen zusammen an einem gemeinsamen Geflecht von intersubjektiven Realitäten weben:
Warum erscheint mir beispielsweise eine bestimmte Handlung - etwa kirchlich zu heiraten, an Ramadan zu fasten oder an den Gott der Bibel zu glauben - sinnvoll? Weil meine Eltern sie für sinnvoll halten, ebenso wie meine Brüder, meine Nachbarn, Menschen in nahe gelegenen Städten und teilweise selbst die Bewohner ferner Länder. Und warum halten all diese Menschen das für sinnvoll? Weil deren Freunde und Nachbarn ebenfalls der gleichen Ansicht sind. Die Menschen bestärken in einer sich selbst erneuernden Schleife fortwährend die Überzeugungen des jeweils anderen. Jede Runde wechselseitiger Bestätigung lässt das Sinngeflecht noch engmaschiger werden, bis man kaum mehr eine andere Wahl hat, als das zu glauben, was jeder glaubt.
Doch über die Jahrzehnte und Jahrhunderte lösen sich alle Geflechte (z.B. die islamische oder kommunistische, aber auch die humanistische und kapitalistische Ideologien) auf, und an dessen Stelle, wurde und wird ein neues Geflecht treten. Sich mit Geschichte zu befassen, heißt, bei der Entstehung und Auflösung dieser Geflechte zuzusehen und zu erkennen, dass das, was den Menschen in der eigenen Epoche als das Wichtigste im Leben erscheint, für ihre Nachfahren völlig bedeutungslos wird. Höchstwahrscheinlich werden die Historiker von morgen auch mal zumindest unsere so alltäglich und unumstößlich scheinente gegenwärtigen Vorstellungen von Demokratie und Menschenrechte als tradiert betrachten. Wir müssen diesen Tag aber nicht fürchten, denn auf lange Zeitskalen haben sich die (moralischen) Überzeugungen der Menschen tendenziell immer „verbessert“.
Natürlich bestimmen aber nicht nur intersubjektive, sondern auch subjektive und objektive Realitäten das Weltgeschehen. Verzerrt man die objektive Wirklichkeit zu sehr durch hochtrabende Geschichten, wird einen das schwächen, und man kann gegen klarsichtigere und vertrauenswürdigere Rivalen nicht mehr mithalten. Andererseits sind Menschen nur dann wirklich massenhaft zu mobilisieren, wenn erfundene Mythen im Spiel sind. Hält man sich also an nichts als die Wirklichkeit, ohne ihr irgendwelche Fiktionen beizumischen, werden einem nur wenige folgen. Also: Intersubjektive Realitäten sind ein meist notwendiges Kriterium für menschliche Herrschaft, jedoch keine hinreichende.
Faktisch beruht die Macht menschlicher Kooperationsnetzwerke folglich auf einem heiklen Gleichgewicht zwischen objektiver Wirklichkeit, intersubjektiv erschaffener Fiktion und subjektiven Verfassungen.
Warum spannen nicht die Pferde uns vor die Kutsche, wenn sie doch die weitaus stärkeren Tiere sind? Ein Grund, weshalb wir Menschen wie kein anderes Tier die Welt beherrschen ist, dass nur wir Menschen intersubjektive Sinngeflechte weben können. Ein Geflecht aus Gesetze, Ländergrenzen, Regierungen, Religionen und Unternehmen, die nur in unserer gemeinsamen intersubjektiven Fantasie existieren. Dieses Geflecht ermöglicht es den Menschen, Kreuzzüge, sozialistische Revolutionen und Menschenrechtsbewegungen zu organisieren und hebt ihn von allen anderen Tieren (zumindest graduell) ab.
Natürlich stellen sich auch andere Tiere so Allerlei vor. Ein Hund, der mit dem Schwanz wedelt und um mich herum springt, stellt sich erwartungsvoll vor, wie er gleich das Leckerli bekommt. Doch es macht sich keine Vorstellungen von gekrümmten Raumzeiten und soweit wir wissen, können sich Hunde nur Dinge vorstellen, die es auf der Welt tatsächlich gibt, wie eben Leckerlis. Dinge, die sie nie gesehen oder gerochen oder geschmeckt haben, können sie sich nicht vorstellen - also Verkehrsrecht, Deutschland, die Europäische Union oder Gott. Nur Menschen können sich solche Hirngespinste ausdenken.
Während Katzen und andere Tiere somit auf die objektive Realität beschränkt sind und ihre durchaus vorhandenen Kommunikationssysteme lediglich nutzen, um die Wirklichkeit zu beschreiben, erschaffen Menschen völlig neue (intersubjektive) Realitäten. In den letzten 70.000 Jahren (seit der kognitiven Revolution) wurden die intersubjektiven Realitäten, die Menschen erfanden, immer gehaltvoller und vor allem auch einflussreicher, sodass sie heute die Welt beherrschen! Werden die Schimpansen, die Elefanten, die Regenwälder am Amazonas und die Gletscher in der Arktis das 21. Jahrhundert überleben? Das hängt von den Wünschen und Entscheidungen intersubjektiver Gebilde wie der Europäischen Union, wissenschaftlichen Modellierungen und humanistischen Werten ab.
Die Fähigkeit, intersubjektive Entitäten zu schaffen, unterscheidet nicht nur den Menschen von anderen Tieren, sondern auch in einem gewissen Sinne die Geistes- von den Biowissenschaften. Historiker versuchen die vergangenen Entwicklungen intersubjektiver Phänomene wie Götter und Nationen zu verstehen, während Biologen die Existenz derartiger Dinge nicht wirklich anerkennen. Sozialwissenschaftler stellen Theorien zu intersubjektiven Ideen und Konventionen auf, während reduktionistische Physiker diese Phänomene am liebsten in Gänze auf objektive Teilchen und Kräfte zurückführen würden. Insbesondere einige Naturwissenschaftler glauben, wenn wir nur den Gencode knacken und jede Nervenzelle im Gehirn erfassen, werden wir sämtliche Geheimnisse der Menschheit kennen.
Sprich: Intersubjektives sei auf Objektives reduzierbar (siehe auch: Reduktionismus). Wenn die Menschen keine Seele haben, wenn Gedanken, Emotionen und Sinneswahrnehmungen lediglich biochemische Algorithmen sein sollen, warum sollte die Biologie dann nicht auch sämtliche Wechselfälle menschlicher Gesellschaften erklären können? So gesehen, wären die ideologisch ausgefochtenen Kreuzzüge letztlich vielleicht nur Gebietsstreitigkeiten, die von den Zwängen der Evolution bestimmt waren. Und heftige Demonstrationen nichts weiter als sich gegenseitig bestärkende Neuronenfeuerwerke.
Im Vergleich zu den Naturwissenschaftlern sind Geisteswissenschaftler viel seltener Reduktionisten. Die Geisteswissenschaften verweisen auf die entscheidende Bedeutung intersubjektiver Phänomene, die sich nicht auf Evolution und Neuronen reduzieren lassen. Selbstverständlich lassen auch Historiker objektive Faktoren wie Klimaveränderungen und Genmutationen nicht außer Acht, aber ihr Fachgebiet sind die Geschichten, die Menschen erfinden und glauben, und die somit intersubjektive Realitäten geschaffen haben. Nord- und Südkorea haben sich nicht deshalb so unterschiedlich entwickelt, weil die Menschen in Pjöngjang andere Gene haben als die Menschen in Seoul oder weil der Norden kälter und gebirgiger ist als der Süden. Es hat vielmehr damit zu tun, dass der Norden von völlig anderen Fiktionen beherrscht wird.
Das heißt nicht, dass die Geschichte sich eines Tages nicht tatsächlich auf die Biologie reduzieren lässt. Vielleicht werden uns bahnbrechende Erkenntnisse der Neurobiologie eines Tages in die Lage versetzten, den Kommunismus und die Kreuzzüge nach rein biochemischen Maßstäben zu erklären. Doch davon und wir dann noch sehr weit entfernt.
Viel unmittelbarer ist folgende Entwicklung: Im 21. Jahrhundert könnte die Grenze zwischen Geschichte und Biologie aus einem anderen Grund unscharf werden. Nicht, weil wir auf biologische Erklärungen für historische Ereignisse stoßen, sondern weil ideologische Fiktionen die DNA-Stränge neu schreiben; weil politische und ökonomische Interessen das Klima verändern; und weil die Geographie von Bergen und Flüssen dem Cyberspace weicht. Wenn menschliche Fiktionen in genetische und elektronische Codes übersetzt werden, wird es die intersubjektive Realität sein, die immer mehr die objektive Realität diktiert.
Im 21. Jahrhundert könnte – mit einer stetig anwachsenden Macht der Menschheit (und bewusster Maschinen!) - die Intersubjektivität somit zu einer der wirkungsmächtigsten Kräfte auf Erden werden, wirkmächtiger noch als das Wetter (Geo-Engineering) und die natürliche Auslese (Gen-Engineering). Wenn wir unsere Zukunft verstehen wollen, wird es deshalb nicht ausreichen, Genome zu entschlüsseln und über Zahlen zu brüten. Wir müssen die Fiktionen entschlüsseln, die der Welt einen Sinn verleihen.
Fiktionen sind nicht schlimm. Im Gegenteil: Sie sind lebenswichtig. Ohne gemeinsam akzeptierte Geschichten über Dinge wie Geld, Staaten oder Unternehmen kann eine komplex menschliche Gesellschaft nicht funktionieren. Wir können nicht Fußball spielen, wenn nicht jeder an die gleichen erfundenen Regeln glaubt, und wir können Märkte und Gerichte nicht nutzen ohne ähnliche Fantasiegeschichten. Jedoch sollten die Geschichten, die wir uns geben, stets nur Instrumente und nie Zwecke ihrer Selbst sein. Sie sollten nicht zu unseren Zielen oder zu unseren Maßstäben werden. Denn dann kämpfen wir um beliebig konstruierbare Ideen und empfindsame Lebewesen werden ihr zum Opfer fallen. Wenn wir vergessen, dass Nationen, Götter und Geld bloße Fiktion sind, verlieren wir den Bezug zur Realität.
Dann beginnen wir Kriege zu führen (fanatischer Nationalismus), Freiheit und Glück aufzugeben (religiöser Fundamentalismus) und um jeden Preis Kapitalstöcke zu erhöhen (rigoroser Kapitalismus). Es geht dabei immer um reine Fiktionen und empfindsame Lebewesen müssen dann unter diesen leiden. Gott, Geld und Nationen existieren nur in unserer Fantasie. Wir haben sie erfunden, damit sie uns dienen; warum sollten wir unser Leben opfern, um ihnen zu Diensten zu sein?
Yuval Noah Harari: Homo Deus: Eine Geschichte von Morgen (z.T. abgeändert)
Köppnick (Montag, 08 Mai 2017 16:55)
Ein interessanter Artikel, der mir jetzt schon mehrere Wochen nicht aus dem Kopf geht. (Der 1.5. als Datum ist gewiss das einer Überarbeitung?) Im Text wird die Drei-Welten-Theorie von Karl Popper und John Eccles erwähnt, die ja zumindestens etwas Ähnliches aussagt: Die Existenz einer dritten Welt neben der materiellen äußeren und der individuellen inneren: Die Welt der menschlichen Ideen, Theorien, etc.
Wenn es Probleme mit den Beziehungen zwischen den drei "Welten" gibt, dann sind das aber ganz bestimmt keine objektiven, sondern eher durch den Versuch einer Abgrenzung und Zuordnung zu den drei Kategorien. Ein Beispiel: Wenn es eine Beobachtung über die Welt gibt (die "objektive"), dann wird sie von den unseren Sinnen gemacht ("subjektive" Welt), im Kopf eines Menschen Menschen eine Theorie formuliert und mit anderen ausgetauscht ("intersubjektive" Welt).
Ich glaube deshalb auch nicht, dass bestimmte intersubjektive "Objekte" (Geld, Macht, Religion, Kriege) völlig wahlfrei akzeptiert oder verworfen werden können.
Wichtige Begriffe im Zusammenhang mit der intersubjektiven Realtität sind Kontingenz und Konvergenz. Am Beispiel des Geldes (Macht ginge hier auch): Die konkrete Ausformung von Geld ist in gewissem Maß Zufällen unterworfen (also kontingent), aber irgendetwas Ähnliches muss jede Gesellschaft entwickeln, die ihre ökonomischen Beziehungen über den Austausch von Gütern und Dienstleistungen organisiert (also konvergent).
Wenn man diesen Phänomenen näher auf die Spur kommen will, könnte man nach Beispielen suchen, in denen die Entwicklung ganz anders verlaufen ist. Zum Beispiel: Warum haben bestimmte Kulturen das Rad nicht erfunden / gefunden? Welche verschiedenen Herrschaftsformen haben sich in verschiedenen Kulturen entwickelt?
Interessant ist auch die Frage, ob die intersubjektive Welt wirklich auf den Menschen beschränkt ist - ich glaube das nämlich nicht. Was Popper darüber geschrieben hat, daran kann ich mich nicht mehr erinnern, es ist schon zu lange her. Auf der Erde könnte man die höherentwickelten Tiere untersuchen, und bei unserer Suche nach Außerirdischen gehen wir ja auch davon aus, dass sie bestimmte Konzepte mit uns teilen (Mathematik, Orientierung anhand der Sterne, das Periodensystem der Elemente, physikalische Gesetze, etc.). Auch das ist die implizite Annahme von Konvergenz der Theorien bei ähnlicher Umwelt.
Drachenblut (Sonntag, 07 Mai 2017 18:28)
"Wenn wir vergessen, dass Nationen, Götter und Geld bloße Fiktion sind, verlieren wir den Bezug zur Realität."
Sind sie nicht bereits seit Jahrhunderten und länger zur Lebenswirklichkeit der Menschen geworden, diese Denk-Konstrukte die Du "Fiktionen" nennst?
Trotzdem, vielleicht kann eine Sache - beispielsweise das Wissen um die Fiktionalität vieler unserer Institutionen - ja auch wiedererinnert/ wiedergefunden werden, die über Generationen und Zeitalter hinweg vergessen/ verloren wurde. Und das mit jenem besonderen Zugewinn an Wertschätzung, den wir durch das Wiedererlangen eines abhanden gekommenen Selbstverständlichen naturgemäß erlangen?
Beim Schreiben stellte sich mir gerade die Frage, ob im philosophischen Sprachgebrauch ein Unterschied zwischen einem "Vergessenen" und einem "Verlorenen" liegt und worin dieser ggf. bestehen könnte.
Lass mich mal laut nachdenken: Solange wir uns gewahr sind, dass wir eine Sache - beispielsweise ein bestimmtes Wissen - vergessen haben, ist uns zu dieser momentan lediglich der Zugang verwehrt. Verloren ist das Wissen jedoch dann, wenn auch der Umstand des Vergessenhabens an sich bereits in Vergessenheit geraten ist. In diesem Fall, haben wir schon jegliches Bewusstsein dafür verloren, dass uns etwas rein theoretisch zugänglich wäre. Ist das Vergessen möglicherweise fortschreitend und mündet in das Verlieren? Wiedererinnern ("hach, jetzt fällt es mir wieder ein") löst oft große Freude aus, während ein Wiederfinden ("nanu?") zunächst einmal riesiges Erstaunen auslöst. Zumindest ergeht mir das immer so.
Was ich eigentlich sagen wollte: Da stimmt irgendwas nicht mit der Datumseinstellung des Blogs.
WissensWert (Dienstag, 04 April 2017 12:21)
Ein Diktator kann noch so viele geschickte intersubjektive Fiktionen spinnen, er wird in seiner Agitation trotzdem nie gegen die objektiven Naturgesetze oder die subjektiven Gesetze der menschlichen Psyche verstoßen können.