Der Populärphilosoph Richard David Precht moniert, dass es der (deutschen) Politik an Visionen und Utopien fehle. Ich stimme Precht in diesem Punkt zu. Aber warum ist das so?
Während sich die Technik und infolgedessen auch die Gesellschaft immer schneller verändern (siehe z.B. Moore'sches Gesetz), hat sich der Rhythmus der Politik seit dem Dampfzeitalter nicht groß verändert. Technologische Revolutionen laufen heute viel schneller ab als quälend lange politische Prozesse, was dazu führt, dass Parlamentarier und Wähler gleichermaßen die Kontrolle verlieren.
Der Aufstieg des Internets gibt uns einen Vorgeschmack auf das, was auf uns zukommt. Der Cyberspace ist heute für unser Alltagsleben, für unsere Wirtschaft und für unsere Sicherheit von entscheidender Bedeutung. Doch die wichtigen Entscheidungen zwischen alternativen Netzentwürfen wurden nicht in einem demokratischen politischen Prozess getroffen, obwohl sie an ganz traditionelle politische Fragen wie Souveränität, Grenzen, Privatheit und Sicherheit rühren. Durften Sie jemals über die Gestalt des Cyberspace abstimmen? Entscheidungen, die von Webdesignern abseits des öffentlichen Rampenlichts getroffen wurden, bedeuten, dass das Internet heute eine freie und rechtslose Zone ist, die staatliche Souveränität untergräbt, Grenzen ignoriert, die Privatsphäre abschafft und vermutlich das größte globale Sicherheitsrisiko darstellt. Hatten sie ein solches Szenario vor einem Jahrzehnt noch überhaupt nicht auf dem Radarschirm, so sind Cyberkriege und Cyberanschläge heute in aller Munde.
Aus diesen Gründen diskutieren Regierungen und Nichtregierungsorganisationen intensiv über eine Neustrukturierung des Internets, aber es ist viel schwerer, ein bestehendes System zu verändern, als gleich zu dessen Beginn einzugreifen. Bis sich die schwerfällige staatliche Bürokratie zu einer Cyber-Regulierung durchringt, hat sich das Internet überdies schon wieder zehnmal verändert. Die Regierungsschildkröte kann mit dem technologischen Hasen nicht mithalten. Sie ist mit der Datenflut überfordert. Die NSA mag jeder Ihrer Wörter ausspionieren, aber geht man nach den wiederholten Fehlschlägen amerikanischer Außenpolitiker, so weiß in Washington offensichtlich niemand, was man mit all den Daten anfangen soll. Noch nie in der Geschichte wusste eine Regierung so viel über das, was auf der Welt vor sich geht – und fühlte sich gleichzeitig von der Komplexität des Geschehens derart überfordert.
In den kommenden Jahrzehnten werden wir wahrscheinlich weitere Revolutionen nach Art des Internets erleben, in denen die Technologie der Politik weit voraus ist. Künstliche Intelligenzen und Biotechnologien könnten unsere Gesellschaften und Ökonomien - aber auch unseren Körper und unseren Geist - schon bald überholen, dabei haben wir sie noch nicht einmal so richtig auf unserem politischen Schirm. Unsere gegenwärtigen demokratischen Strukturen können die relevanten Daten schlicht und einfach nicht schnell genug sammeln und verarbeiten, und die meisten Wähler verstehen zu wenig von Biologie und Kybernetik, um sich dazu eine angemessene Meinung zu bilden. Deshalb verliert die traditionelle demokratische Politik die Kontrolle über die Ereignisse und kann uns keine sinnvollen Zukunftsvisionen mehr bieten.
Die normalen Wähler verspüren allmählich, dass ihnen der demokratische Mechanismus keine Macht mehr verschafft. Die Welt rings um sie herum verändert sich, und sie verstehen nicht, wie und warum das alles geschieht. Die Macht verschiebt sich weg von ihnen, aber sie können nicht sagen, wohin sie verschwunden ist. In Großbritannien glauben sie, die Macht sei an die EU übergegangen, und so stimmen sie für den Brexit. In den USA bilden sich die Wähler ein, das "Establishment" habe alle Macht an sich gerissen, und deshalb haben sie Donald Trump gewählt. Die traurige Wahrheit ist, dass niemand weiß, wo all die Macht hin ist. Fest steht nur: Sie ist und wird auch in Zukunft nicht deshalb zu den gewöhnlichen Wählern zurückkehren, weil Großbritannien aus der EU austritt oder Donald Trump ins Weiße Haus einzieht.
Das heißt nicht, dass wir in Diktaturen im Stile des 20. Jahrhunderts zurückfallen werden. Autoritäre Regime scheinen vom Tempo der technologischen Entwicklung und der Geschwindigkeit sowie der Menge des Datenflusses gleichermaßen überfordert zu sein. Im 20. Jahrhundert hatten Diktatoren große Zukunftsvisionen. Kommunisten und Faschisten waren gleichermaßen bestrebt, die alte Welt vollständig zu zerstören und an ihrer Stelle eine neue Welt zu errichten. Was immer man von Lenin, Hitler oder Mao halten mag, einen Mangel an Visionen kann man ihnen nicht vorwerfen. Heute, so scheint es, hätten Politiker eigentlich die Möglichkeit, noch größere Visionen zu verfolgen. Während die Kommunisten und die Nationalsozialisten mit Hilfe von Dampf- und Schreibmaschinen eine neue Gesellschaft und einen neuen Menschen zu schaffen versuchten, könnten die heutigen Propheten mit Biotechnologie und Supercomputer arbeiten.
In Science-Fiction-Filmen bedienen sich hitlereske, rücksichtslose Politiker nur zu gerne solch neuer Technologien und stellen sie in den Dienst dieses oder jenes größenwahnsinnigen politischen Ideals. Doch Politiker aus Fleisch und Blut haben zu Beginn des 21. Jahrhunderts selbst in autoritäten Ländern wie Russland, Iran oder Nordkorea nichts mit ihren Hollywoodverwandten gemein. Sie scheinen keine schöne neue Welt zu planen. Die kühnsten Träume von Kim Jong-un und Ali Khamenei reichen im Grunde nicht über Atombomben und Langstreckenraketen hinaus – das wirkt wie bei 1945 stehengeblieben. Putins Bestrebungen bleiben offenkundig darauf beschränkt, die alte Sowjetunion oder das noch ältere Zarenreich wieder zu errichten. Und China ist – gemessen an seiner Macht – ein riesengroßes Visionen- und Ideologievakuum.
In den USA warfen paranoide Republikaner derweil Barack Obama vor, er sei ein rücksichtsloser Despot, der Verschwörungen aushecke, um die Grundlagen der amerikanischen Gesellschaft zerstören – doch in acht Jahren Präsidentschaft brachte er gerade einmal eine bescheidene Gesundheitsreform zustande. Neue Welten und neue Menschen zu schaffen liegt weit abseits seiner Agenda.
Gerade weil sich die Technologie heute so schnell entwickelt und Parlamente wie Diktatoren durch Daten und Veränderungen, die sie nicht schnell genug verarbeiten und verstehen können, förmlich erschlagen werden, denken heutige Politiker in viel kleineren Dimensionen als ihre Vorgänger vor 100 Jahren. Der Politiker fehlt es Anfang des 21. Jahrhunderts definitiv an großen Visionen. Regieren ist zu bloßer Administration geworden. Man verwaltet das Land, führt es aber nicht mehr. Man reagiert nur noch, anstatt in der Gegenwart zu regieren,- oder gar Zukünftiges zu antizipieren.
Die Regierung sorgt dafür, dass Lehrer pünktlich bezahlt werden und die Abwasserkanäle nicht überlaufen, aber sie hat keine Ahnung, wo das Land in 20 Jahren sein wird oder sein soll. Da haben Sie vollkommen Recht, Herr Precht!
In mancher Hinsicht ist das durchaus eine gute Sache. Wenn man bedenkt, dass einige der großen politischen Visionen des 20. Jahrhunderts uns nach Ausschwitz, nach Hiroshima und zum "großen Sprung nach vorn" führten, sind wir in den Händen kleingeistiger Bürokraten, die sich um ein Euro mehr oder weniger Kindergeld zanken, heute möglicherweise besser aufgehoben. Die Verbindung aus gottgleicher Technologie von heute mit der größenwahnsinnigen Politik des 20. Jahrhunderts würde der Katastrophe wohlmöglich Tür und Tor öffnen. Viele neoliberale Ökonomen und Politikwissenschaftler behaupten deshalb, am besten sollte man alle wichtigen Entscheidungen dem freien Markt überlassen. Damit liefern sie Politikern die perfekte Entschuldigung für Nichthandeln und Nichtwissen, die als tiefreichende Klugheit uminterpretiert werden. Politiker glauben nur zu gerne, dass sie die Welt und die in ihr ablaufenden, tiefgreifenden Veränderungen deshalb nicht verstehen, weil sie sie nicht verstehen müssen.
Doch auch die Verbindung von gottlgleicher Technologie mit einer Politik, die auf kurze Sicht fährt, hat ihre Schattenseiten. Ein Mangel an Visionen ist nicht immer ein Segen, und nicht alle Visionen sind zwangsläufig schlecht. Im 20. Jahrhundert zerfiel die historische Vision der Nationalsozialisten nicht von selbst. Sie wurde von den gleichermaßen großangelegten Visionen des Sozialismus und des Liberalismus besiegt. Unsere Zukunft den Kräften des freien Marktes zu überlassen ist gefährlich, denn diese Kräfte tun, was gut für den Markt ist, und nicht, was gut für die Menschheit oder unsere Umwelt ist. Die Hand des Marktes ist ebenso blind wie unsichtbar, und wenn man sie sich selbst überlässt, wird sie gegen die Bedrohung durch den Klimawandel oder das gefährliche Potenzial künstlicher Intelligenz nichts tun. Da sollten wir uns von neoliberalen Interessensgruppen nichts erzählen lassen, wir brauchen eine starke und interventionistische Politik mehr denn je.
Manche Menschen glauben, dass trotzdem jemand verantwortlich ist. Nicht demokratische Politiker oder autokratische Despoten, sondern eine kleine Clique von Milliardären, die insgeheim die Welt regieren. Aber solche Verschwörungstheorien funktionieren nie, weil sie die Komplexität des Systems unterschätzen. Ein paar Milliardäre, die in irgendeinem Hinterzimmer Zigarren rauchen und Whisky trinken, können nicht alles verstehen, was auf der Welt passiert, und es schon gar nicht kontrollieren. Rücksichtslose Milliardäre und kleine Interessensgruppen florieren in der chaotischen Welt von heute nicht deshalb, weil sie die Karte besser lesen können als alle anderen, sondern weil sie sehr eng gesteckte Ziele haben. In einem chaotischen System ist der Tunnelblick immer von Vorteil, und die Macht der Milliardäre entspricht genau ihren Zielen. Wollte der reichte Mensch der Welt eine weitere Milliarde US-Dollar verdienen, könnte er das System vermutlich problemlos manipulieren, um sein Ziel zu erreichen. Wollte er jedoch die weltweite Ungleichheit verringern oder den globalen Klimawandel stoppen, wird nicht einmal ihm das gelingen, weil das System viel zu komplex ist.
Das Gleiche gilt für die Leute aus dem Silicon Valley. Auch sie denken gerne von sich, dass sie mit ein paar Workshops und Start-Ups jedes Problem der Welt lösen könnten. Das mag für ein paar separate Probleme gelten, die sich ökonomisch lohnen, aber auch die fähigsten Leute von Google können den Nahostkonflikt nicht lösen.
Machtvakuen halten selten lange vor. Wenn die traditionellen politischen Strukturen im 21. Jahrhundert Daten nicht mehr schnell genug verarbeiten können, um sinnvolle Visionen zu produzieren, dann werden sich neue und effizientere Strukturen bilden und an deren Stelle treten. Diese neuen Strukturen können völlig anders aussehen als frühere politische Institutionen, ob nun demokratischer oder autoritärer Art. Die einzige Frage ist, wer diese Strukturen aufbauen und kontrollieren wird. Wenn die Menschheit dieser Aufgabe nicht gewachsen ist, könnte sie es vielleicht jemand anderen versuchen lassen.
Oder, um es auf einen Nenner zu bringen: Wenn sich die parlamentarische Demokratie auch weiterhin so reaktionär zeigt, könnte sie sich eines Tages selbst abschaffen. Sie müsste deshalb im Zuge der allumfassenden Digitalen Revolution auch überdacht werden. Aber ist das überhaupt möglich, eine systemische Revolution von innen heraus?
Ich habe da so meine Zweifel. Wer heute in der Politik irgendetwas verändern möchte, der tritt sofort irgendeiner reichen Lobbygruppe oder einem mächtigen Interessensverband auf den Schlips. Hinzu kommt die politisch-mediale Aufregungsgesellschaft, in der derjenige am längsten überlebt, der es zeitlebens versteht, stromlinienförmig zu agieren. Die echten Revolutionäre und Querdenker kommen auch gar nicht mehr an politische Macht. Denn wer die politische Karriereleiter hinaufsteigen möchte, benötigt dafür die Gunst erfolgreicher Politiker, Gelder der Wirtschaft und die Reputation beim Volk. In allen Fällen gilt es sich anzubiedern, es entsteht eine Abhängigkeit und die eigenen Interessen und Überzeugungen müssen oft fremden weichen. Metaphorisch gesprochen könnte ein Utopist also als Bergkristall mit großen Idealen und Zielen in eine politische Partei eintreten, und wäre nach wenigen Wochen entweder zum ministerialen Bachkiesel abgeschliffen oder wieder draußen!
WissensWert (Sonntag, 13 Mai 2018 17:49)
In Robert Musils bekanntestem Werk "Der Mann ohne Eigenschaften" finden sich folgende Zeilen:
"Seit sich abzeichnete, dass Marx und Engels mit ihren Vorhersagen falsch lagen, regiert in der Politik der Wirklichkeitssinn. Es folgten ihnen keine neuen Ideen, die die Bezeichnung Vision verdienen würden. »There is no alternative« – mit diesem Slogan setzte vor drei Jahrzehnten die britische Premierministerin Margaret Thatcher ihre neoliberalen Reformen durch. Abgekürzt als TINA hat dieser visionsfeindliche Slogan bis heute viele einflüssreiche Anhänger. Auch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel zählt zu ihnen. Sie ist, was Visionen betrifft, ganz auf der Linie ihres Vorgängers Helmut Schmidt. Merkel deutschte TINA zum Adjektiv »alternativlos« ein, um ihr politisches Handeln zu begründen: Ich tue das, weil es eh nicht anders geht. Plötzlich waren viele Dinge alternativlos: Milliarden Euro in die Rettung von Banken zu pumpen, den Sozialstaat zu stutzen, das Bildungswesen zu ökonomisieren, beim Krieg in Afghanistan mitzumachen.
Das ist natürlich falsch. In allen Fällen gab es Alternativen. Wäre die Situation tatsächlich alternativlos gewesen, dann hätte Merkel keine Entscheidung treffen und rechtfertigen müssen. Die Frage ist, ob man die Alternativen sehen möchte. Wer sich damit zufriedengibt, den Status quo zu erhalten, braucht vor allem Wirklichkeitssinn. Wer aber gestalten will, wer Geschichte machen will, in der Politik oder anderswo, der braucht Visionen."