Die landwirtschaftliche Revolution wurde uns lange Zeit als ein großer Fortschritt verkauft, doch der Schein trügt. Weder leitete sie eine Ära des angenehmen Lebens eins, ganz im Gegenteil, der Alltag der Bauern war härter und weniger befriedigend als der ihrer Vorfahren. Die Jäger und Sammler ernährten sich gesünder, arbeiteten weniger, gingen interessanteren und abwechslungsreicheren Tätigkeiten nach und litten weniger unter Hunger und Krankheiten. Mit der landwirtschaftlichen Revolution nahm zwar die Gesamtmenge der verfügbaren Nahrung zu, doch die größere Menge an Nahrungsmitteln bedeutete keineswegs eine bessere Ernährung oder mehr Freizeit. Im Gegenteil, die Folgen waren eine Bevölkerungsexplosion und die Entstehung einer verwöhnten Elite. Im Durchschnitt arbeiteten die Bauer mehr als die Jäger und Sammler und bekamen zum Dank eine ärmere Kost. Die landwirtschaftliche Revolution war der größte Betrug der Geschichte.
Aber wer hatte diesen Betrug zu verantworten? Es waren weder Könige, noch Priester oder Händler. Die Schuldigen waren eine Handvoll Pflanzenarten, zum Beispiel Reis, Kartoffeln und Weizen. In Wirklichkeit waren es diese Pflanzen, die den Homo Sapiens domestizierten, nicht umgekehrt. Sehen wir uns die landwirtschaftliche Revolution einmal aus der Sicht des Weizens an. Vor zehntausend Jahren war der Weizen nur eines von vielen Wildgräsern, das nur im Nahen Osten vorkam. Innerhalb weniger Jahrtausende breitete er sich von dort über die gesamte Welt aus. Nach den Überlebens- und Fortpflanzungsgesetzen der Evolution ist der Weizen damit eine der erfolgreichsten Pflanzenarten aller Zeiten. In Regionen wie dem Mittleren Westen der Vereinigten Staaten, wo vor zehntausend Jahren noch nicht ein einziger Weizenhalm wuchs, kann man heute Hunderte Kilometer fahren, ohne eine andere Pflanze zu sehen. Weltweit sind 2,25 Millionen Quadratkilometer (fast das Zehnfache der Fläche Großbritanniens) mit Weizen und nichts als Weizen bedeckt! Wie hat der Weizen das geschafft?
Indem er uns falsche Versprechen gab. Wir, die Trockennasenprimaten Homo Sapiens, hatten bis vor zehntausend Jahren ein angenehmes Leben als Jäger und Sammler gehabt, doch dann investierte wir immer mehr Energie in die Vermehrung des Weizens. In der Hoffnung, dadurch ein angenehmeres Leben zu haben. Irgendwann ging das so weit, dass die Sapiens in aller Welt kaum noch etwas anderes taten, als sich von früh bis spät um diese Pflanze zu kümmern. Das war harte Arbeit, denn der Weizen ist eine äußerst anspruchsvolle Pflanze. Er mag keine Steine, weshalb sich die Sapiens krumm buckelten, um sie von den Feldern zu sammeln. Er teilt seinen Lebensraum, sein Wasser und andere Nährstoffe nicht gern mit anderen Pflanzen, also jäteten die Sapiens tagein tagaus unter der glühenden Sonne Unkraut. Er wurde leicht krank, also musste die Sapiens nach Würmern und anderen Schädlingen Ausschau halten. Weizen kann sich nicht vor anderen Organismen wie Kaninchen und Heuschrecken schützen, die ihn gern fressen, weshalb die Bauern ihn schützen mussten. Weizen ist durstig, also schleppten die armen Sapiens Wasser aus Quellen und Flüssen herbei, um ihn zu bewässern. Und der Weizen ist hungrig, weshalb die Menschen Tierkot sammelten, um den Boden zu düngen, auf dem er wuchs.
Unsere Art ist vollkommen ungeeignet für derlei Arbeit. Sie hat sich über hunderttausende von Jahren in Anpassung an seine Umwelt entwickelt, um auf Bäume zu klettern und hinter Gazellen her zu jagen, und nicht Steine vom Boden aufzulesen und Wassereimer zu schleppen. Rücken, Knie, Gelenke und viele andere Körperteile zahlten einen hohen Preis für die landwirtschaftliche Revolution. Untersuchungen von fossilen Skeletten zeigen, dass der Übergang zur Landwirtschaft ein Füllhorn von Leiden mit sich brachte, von Rücken- und Gelenkschmerzen bis hin zu Leistenbrüchen. Die neuen Aufgaben der Landwirtschaft nahmen außerdem derart viel Zeit in Anspruch, dass sich die Menschen dauerhaft neben ihren Weizenfeldern niederlassen und ihre gesamte Lebensweise umstellen mussten
Nicht wir haben den Weizen domestiziert, der Weizen hat uns domestiziert. Das Wort „domestizieren“ kommt von lateinischen Wort domus für „Haus“. Wer lebt eingesperrt in Häusern? Der Mensch, nicht der Weizen.
Auch heute noch, rund zehntausend Jahre später, geht es vielen Menschen schlechter als damals den Jäger und Sammlern. Der Fließbandarbeiter in China, der Straßenjunge in den Slums von Rio und der Gastarbeiter in einem Geflügelbetrieb in Kalifornien haben ein armseligeres und unerfüllteres Leben als seine voragrarischen Vorfahren. Und die maschinelle Revolution hat uns nun zu Affen mit Anzügen gemacht und fordert unseren Gelenken einen fast genauso hohen Tribut ab, wie damals de Agrarrevolution. Und dennoch: IM SCHNITT geht es den Menschen heute besser denn je. Schuld daran trägt, bei aller berechtigten (sozial- und ökologisch motivierten) Kritik, die Marktwirtschaft.
Und ich vermute, wenn die Linken einmal ehrlich zu sich sind, vermehrt das ihren Hass auf den Kapitalismus nur noch, anstatt ihn zu senken. Die Tatsache, dass der Marktwirtschaft gelungen ist, wovon die sozialistische Internationale seit Marx nur feucht träumt - ein nachweislich recht gut funktionierendes System, das vor allem in Asien Hunderte Millionen Menschen aus tiefster Armut befreit hat - ist die ultimative narzisstische Kränkung. Vielleicht vergleichbar mit der ideologischen Kränkung, die das Christentum durch die kopernikanische Wende erfahren musste. Die Geschichte der freien Marktwirtschaft ist – bei allen Fehltritten und Rückschlägen – eine Erfolgsgeschichte unserer gesamten Spezies, die zu leugnen im Grunde ebenso lächerlich wäre wie «Widerstand» gegen Photosynthese, Evolution und die Schwerkraft. Ernsthaft versucht das eigentlich nur noch Nordkorea, womit eigentlich schon alles gesagt ist. Kurz: Jeder Blick aus dem Fenster ist dem impotenten Theoretiker unerträglich.
Das heißt nicht, dass ich ein Fan des Kapitalismus bin! Ich halte ihn nur für systemisch dem Marxismus-Leninismus überlegen – lustigerweise regelmäßig auch in ökologischen und sogar in sozialen Belangen (man vergleiche nur einmal die Umweltpolitik oder die Ernährungssituation Chinas heute mit der von China unter Mao Tse-tung). Die Zukunft wird neue Revolutionen und mit ihnen neue Systeme hervorbringen müssen. Ein Zurück, wie es die Marxisten wollen, wird es nicht geben und hat es in der Geschichte auch nie gegeben. Karl Marx hat die damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse genau studiert und auf eine revolutionäre Weise analysiert. Vielleicht sollten die heutigen Marxisten es ihm gleichtun und sich weniger mit "das Kapital" und mehr mit der Digitalen Revolution auseinandersetzen. Vielleicht hätte Marx das ihnen sogar empfohlen.
Teile aus: Yuval Noah Harari: Homo Deus: Eine Geschichte von Morgen