Die Evolution des Denkens oder im weiteren Sinn Evolution der Kognition beschreibt einen Weg des Denkens von den Vorfahren der heutigen Menschenaffen über die Frühmenschen zum Mensch. Das Thema wurde bereits von Darwin 1871 behandelt. Er betont die graduellen, nicht prinzipiellen Unterschiede zwischen den intellektuellen Fähigkeiten von Mensch und Tier. Heute ist unbestritten, dass das Denken einen evolutionären, von verschiedenen Disziplinen erforschbaren Ursprung hat. Die Evolution des Denkens verläuft nach Tomasello über weitgehend individualistisches, konkurrenzbestimmtes Denken bei den Menschenaffen zu ausgeprägt kooperativen Denkformen beim Mensch. Die Theorie des sozialen Gehirns weist auf einen Zusammenhang der Gehirngröße und maximalen Gruppengröße sozial lebender Arten. Soziale Bedingungen mit immer größeren Anforderungen an Denkleistung in größer werdenden Gruppen treiben im Evolutionsverlauf das Gehirnwachstum und damit auch die komplexer werdenden Denkformen in der Geschichte des sozialen Lebens des Menschen und seiner Vorfahren, nicht umgekehrt.
Neben Erkenntnissen zur kognitiven Evolution des Menschen werden zunehmend neue Erkenntnisse über evolutionär entstandene Denkfähigkeiten bei Tieren gewonnen. Vögel zeichnen sich durch eine von anderen Wirbeltieren unterschiedliche Gehirnarchitektur aus. Insbesondere ihr Vorderhirn mit höherwertigen Funktionen ist bei ihnen konvergent, also unabhängig evolviert. Obwohl sie keinen Neocortex besitzen, entwickelten sie mit einer alternativen Struktur des Vorderhirn früher nicht für möglich gehaltene, hoch entwickelte kognitive Fähigkeiten. Dazu gehören vielfältiger Werkzeuggebrauch, kausale und analoge Gedankengänge, Selbsterkennung und andere Fähigkeiten. Das gilt vor allem für Rabenvögel, Tauben und Papageienvögel. Die in der Klasse der Insekten spät evolvierten eusozialen Bienen sind zu individuellem Denken befähigt, wie vor allem Randolf Menzel analysierte. Ihr großer Pilzkörper, ein analoges Teil zum Neocortex der Wirbeltiere, ist involviert in das Farbgedächtnis, Duftkarte, Lernen zweiter Ordnung, kontextuelles Lernen und symbolisches Lernen mit einem „quasi-episodischen“ Gedächtnis. Oktopusse zeigen ebenfalls eine im Vergleich zu den Wirbeltieren konvergente Gehirnentwicklung mit ähnlichen Strukturen, die für das Lernen fundamental sind. Ihre mentalen Fähigkeiten sind mit denen vieler Säugetiere vergleichbar.
Charles Darwin äußert sich in seinem Buch Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl (1871) ausführlich zur evolutionären Herkunft der geistigen Fähigkeiten des Menschen und der Tiere.[1] Er sagt darin, wir könnten keine Überzeugung davon haben, dass sich unsere hohen geistigen Fähigkeiten stufenweise entwickelt hätten, wenn unsere geistigen Kräfte grundverschieden von denen der Tiere wären.[2] Er sieht in den geistigen Fähigkeiten „kein(en) fundamentalen Unterschied zwischen den Menschen und den höheren Säugetieren“.[3] Im Folgenden bespricht er eine Vielzahl von Beispielen aus der Tierwelt. Im Einzelnen geht er ein auf Aufmerksamkeit,[4] Gedächtnis,[5] Phantasie[6] und Verstand.[7] Im Weiteren nimmt er auch zu Nachahmung, Vergleichung und Wahl Stellung und betont ihre verschiedensten Abstufungen. Er führt an, dass wir aus den Begleiterscheinungen einer Handlung darauf schließen können, ob sie aus dem Instinkt, aus dem Verstand oder aus einer bloßen Ideenassoziation hervorgeht. Kritischen Ansichten seiner Zeitgenossen zur Evolution des Denkens begegnet er einzeln. Dazu gehören die Anschauung, dass kein Tier die Fähigkeit zur Abstraktion besäße, allgemeine Begriffe bilden könne, Selbstbewusstsein habe,[8] Werkzeuge benutze[9] oder über Sprache verfüge.[10] Alle diese Ansichten entkräftet Darwin. Er schließt mit der Bemerkung: Wenn die genannten Fähigkeiten, die er bei den Tieren sehr unterschiedlich ausgeprägt sieht, einer Ausbildung (Evolution) fähig sind, dann sei es nicht unwahrscheinlich, dass die kompliziertesten Fähigkeiten wie Abstraktion und Selbstbewusstsein und andere sich aus den einfacheren entwickelt haben.[11] Auf die Frage, warum der Intellekt des Affen nicht so weit entwickelt ist wie beim Menschen, antwortet er, dass es lediglich die Unwissenheit über die aufeinanderfolgenden Entwicklungsstufen sei, die verhindere, exaktere Antworten hierzu geben zu können.[12] Zusammengefasst ist es Darwins Absicht, die Unterschiede der intellektuellen Fähigkeiten zwischen Mensch und Tier als graduell und nicht prinzipiell darzulegen.[13]
Nach Darwin beginnen gegen Ende des 19. Jahrhunderts Psychologen Konzepte zu entwickeln, dass der Mensch nicht nur hinsichtlich seiner körperlichen Form, sondern auch im Hinblick auf sein Verhalten und seine Kultur ein Produkt seiner evolutionären Vergangenheit ist. Der Behaviorismus unterbricht neben anderen Konzepten diese Denkrichtung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Danach konnte der Geist kein Gegenstand wissenschaftlicher Diskussion sein, da er nicht unmittelbar beobachtet werden konnte. Die Archäologie war lange diesem Grundsatz verhaftet und schloss viele Fragen zur Erforschung der Evolution des Menschen aus, etwa Gefühle und Absichten. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts existieren kaum noch Zweifel daran, dass der Mensch nicht nur in seinem Handeln und seiner kulturellen Einbettung, sondern auch in seinem Denken ein legitimes Forschungsinteresse für Anthropologen, Biologen und Psychologen ist, die heute überwiegend von der Überzeugung geleitet sind, dass sich neben unseren kulturellen Leistungen auch unsere geistigen Fähigkeiten auf der Grundlage unserer Phylogenese erklären lassen.[14] Im Mittelpunkt stehen dabei zwei zentrale evolutionsbezogene Thesen. Erstens: Evolution durch natürliche Selektion und Adaptation ist der einzige bekannte natürliche Prozess, der eine komplexe Struktur wie den menschlichen Geist hervorbringen kann. Die Merkmale des Denkens, die wir heute besitzen, sind adaptiv, weil sie für unsere Vorfahren im natürlichen Ausleseprozess vorteilhaft waren (Evolutionäre Erkenntnistheorie). Zweitens: Evolution ist langfristig. Unser Geist ist daher durch die langfristigen Herausforderungen geformt, denen der Mensch in seiner natürlichen Umgebung ausgesetzt war. Während der größten evolutionären Zeitstrecke waren unsere homininen Vorfahren Jäger und Sammler.[14] In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden die Einbeziehung der menschlichen Kultur und der Kooperationsgedanke zu zunehmend wichtigen Säulen bei der Erforschung der Evolution des menschlichen Verhaltens. Der Rahmen der Synthetischen Evolutionstheorie, die lange auf das Survival of the Fittes begrenzt war, wurde dadurch erweitert.
Der Psychologe Michael Tomasello stellt die Evolution des Denkens als Weg von den nicht menschlichen Menschenaffen über die Frühmenschen zum heutigen Menschen dar. Dabei werden drei Stufen der Evolution des Denkens unterschieden: Individuelle Intentionalität bei den Menschenaffen sowie unter dem Überbegriff geteilte Intentionalität die beiden Formen gemeinsame Intentionalität bei den Frühmenschen und kollektive Intentionalität beim modernen Menschen. Intentionalität meint die selbstregulierende, kognitive Art und Weise des Umgangs mit Dingen.[15] Zusammenfassend lässt sich nach Tomasello sagen: Der moderne Mensch denkt mittels geteilter Intentionalität, um zu kooperieren,[16] während sich Menschenaffen größtenteils individualistisch verhalten.[17] Hierbei ist die seines Erachtens auf dem Weg über symbolische Zeigegesten entstandene Sprache[18] der Schlussstein der menschlichen Kognition und des Denkens und nicht ihr Fundament.[19]
Menschenaffen können aus dieser Sicht denken, und zwar in Form individueller Intentionalität. Sie verfügen über drei Schlüsselkompetenzen des Denkens: erstens über schematische, kognitive Repräsentation.[20] Sie können sich damit zum Beispiel vorstellen und wissen, dass ein Leopard auf Bäume klettern kann. Mit einer zweiten Schlüsselkompetenz können Menschenaffen nonverbale, kausale und intentionale Schlussfolgerungen ziehen.[21][22] Ein bekanntes Experiment hierzu ist das Verstecken von Objekten hinter eines Sichtblende. Der Affe erwartet, es dort wieder zu finden. Wenn er sieht, wie es weggenommen und durch ein anderes ersetzt wird, erwartet er nicht, es hinter der Sichtblende wieder zu finden.[23] Auch dass Menschenaffen die Ziele anderer Affen verstehen können, bedeutet kausale Schlussfolgerung. Als dritte Schlüsselkompetenz können Menschenaffen ihr Verhalten selbst beobachten, bzw. sie haben die Fähigkeit, das Ergebnis und auch die Elemente eines Entscheidungsprozesses zu überwachen.[24] So wissen sie etwa, wenn sie keine zureichenden Informationen haben, eine sachadäquate Verhaltensentscheidung zu treffen. Diese erste Form, die individuelle Intentionalität und instrumentelle Rationalität, trifft laut Tomasello für nicht menschliche Menschenaffen für die Zeit nach der Abspaltung des heutigen Menschen vom Schimpansenvorfahren bis zu den Australopithecinen zu.[25] Solche Wesen sind in erster Linie konkurrenzbetont. Das Denken geschieht immer im Dienst der Konkurrenz.[26] Ohne Sprachfähigkeit können Menschenaffen die Welt kognitiv repräsentieren und scheinen in einem gewissen Sinn zu wissen, was sie tun, während sie es tun.[27] Eine Diskontinuität in dem Sinn, dass nur Menschen denken können und zwar nur mittels der Sprache[28][29][30] und dass Tiere nicht denken können, ist damit nicht mehr haltbar.
Als Bewertungskriterium, ob ein Tier denken kann, kann Evans' Allgemeinheitsbedingung verwendet werden.[31] Nach dieser Definition liegt Denken vor, wenn jedes potentielle Subjekt eines Gedankens mit verschiedenen Prädikaten kombiniert werden kann und ebenso jedes potentielle Prädikat mit verschiedenen Subjekten. Beides kann sprachlich und nicht-sprachlich erreicht werden. Ein Beispiel für ein gedachtes Subjekt mit verschiedenen Prädikaten ist die Vorstellung, dass ein Menschenaffe denkt, dass ein Leopard schnell rennen, auf einen Baum klettern sowie Affen jagen und fressen kann. Im zweiten Fall kann ein Affe wissen, dass Leoparden auf Bäume klettern können, aber ebenso Schlangen und kleine Affen. Nach diesem Kriterium, das nur die Repräsentationsfähigkeit adressiert, nicht aber die für Menschenaffen angeführte Fähigkeit zu Schlussfolgerungen und Reflexionen des eigenen Handelns verwendet, kann für Menschenaffen zumindest teilweise gelten, dass sie denken können.[32]
Frühmenschen und Menschen haben eine zweite und dritte Stufe komplexerer Kognition entwickelt, die als geteilte Intentionalität zusammengefasst wird. Hierunter fallen die gemeinsame Intentionalität und die kollektive Intentionalität.[26]
Bei gemeinsamer Intentionalität der Frühmenschen, die noch nicht über eine konventionelle Sprache verfügen, gibt es gemeinschaftliche Tätigkeiten, etwa Nahrungssuche, mit gemeinsamer Aufmerksamkeit und gemeinsamen Zielen, eine Wir-Intentionalität, jedoch mit individuellen Rollen und Perspektiven. Die Kommunikation erfolgt über natürliche, ikonische Gesten des Zeigens. Die Frühmenschen wandeln die individuelle Intentionalität der Menschenaffen durch Kooperation in gemeinsame Intentionalität um.[33] Die Kooperationspartner geraten dabei in wechselseitige Abhängigkeit. Das Überleben des Einzelnen hängt davon ab, wie der Kooperationspartner ihn beurteilt. Die Kommunikation ist stark ich-du bezogen und noch nicht in einer größeren, anonymen Gruppe bezogen. Ein Beteiligter hat ein Interesse daran, dem anderen dabei zu helfen, seine Rolle zu spielen. Dazu muss er ihn mit Informationen beliefern, die für ihn interessant sind.[34] Die Schlussfolgerungen solchen Denkens sind jetzt nicht mehr individuell, sondern sozial rekursiv, d. h. die Intentionen des Partners werden wechselweise und wiederholt reflektiert.[35] Zu der hier geschilderten kooperativen Denkform sind Menschenaffen nicht in der Lage. Sie treffen keine gemeinsamen Entscheidungen und können sie folglich auch nicht gemeinsam reflektieren.[36]
In der höchsten Stufe, der kollektiven Intentionalität, ist schließlich das kooperative Denken in der Form weiter evolviert, dass es in einer gruppenorientierten Kultur geschieht. Hier liegt die akkumulierte Weitergabe von Wissen und Fertigkeiten über Generationen hinweg vor.[37] Menschenaffen kennen im Gegensatz zum Menschen nicht das Motiv, andere über Dinge zu informieren oder Informationen mit ihnen zu teilen.[38][39] Dieses Motiv führt beim menschlichen Denken zum sogenannten Wagenheber-Effekt.[40] Beim Wagenheber-Effekt bleiben erfolgreiche kulturelle Anpassungen an lokale Bedingungen generationenübergreifend erhalten, erfolglose Versuche sterben aus. Diese Art des Denkens kann in stabiler, kumulativer kultureller Evolution münden. Die modernen Menschen haben einen stärkeren Wagenhebereffekt (z. B. technische Evolution) als Frühmenschen und Menschenaffen.[41]
Im Rahmen kollektiver Intentionalität und des soziokulturellen Denkens erstellt der Mensch mit Hilfe sprachfähigen Denkens objektive Normen für die Gruppe. Diese Normen können von jeder Einzelperson überdacht und begründet werden, um andere von ihnen zu überzeugen. Die Gruppe verschafft sich normative Konventionen und Maßstäbe und ist in der Lage diese mit objektivierten Kriterien zu reflektieren.[42] Geteilte Intentionalität wird als eine Key-Innovation oder ein Systemwechsel in der Evolution gesehen. In der kulturellen Evolution kann die Gruppe dann selbst zu einer Einheit der natürlichen Selektion werden (Gruppenselektion).[41]
Als weitere evolutionäre Fähigkeit erscheint beim Menschen als einzigem Lebewesen ein ausgeprägt episodisches Gedächtnis, das ihm ermöglicht, denkend Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft klar zuzuordnen und zwischen diesen zu unterscheiden. Wir können mentale Zeitreisen in beide Richtungen unternehmen,[43] verbunden mit der Fähigkeit, verschachtelte mentale Szenarien zu entwerfen,[44] also z. B. komplexe technische oder künstlerische Projekte zu planen und durchzuführen.
Die Theorie des sozialen Gehirns behauptet, die soziale Umgebung und Gruppengröße einer Art fördere die Evolution ihres Gehirns in Form zunehmender Gehirngröße und damit auch in der Form des Denkens.[45] Es ist demnach nicht umgekehrt, dass das Gehirnwachstum zugenommen hat und in der Folge der Mensch evolutionär in größere Gruppen leben und agieren konnte. Vielmehr führte klimabedingt verstärkter Selektionsdruck in den letzten 2 Millionen Jahren zum Zwang zunehmender Gruppengrößen mit evolutionären Vorteilen, wodurch wiederum größere Gehirne mit komplexerem Denkvermögen selektiert wurden. Die Gehirngröße ist somit ein Constraint für die Gruppengröße einer Art.
Die Änderung des Denkens, die nach dieser Theorie folgte, wird durch Mentalisierung wiedergegeben. Mentalisierung ist die Fähigkeit zu verstehen und zu vermuten, was ein anderer denkt[46] bzw. die Fähigkeit zu erkennen, dass andere Ansichten haben können. Dies wurde als Theory of Mind bezeichnet. Mentalisierung ist mehr als Empathie und meint neben dem Fühlen, was der andere fühlt, das kognitive Verstehen des anderen.[47] Unterschieden werden hier sechs Ordnungen der Intentionalität.[48][49] Gehirngrößen werden durch lineare Regression durchschnittliche Gruppengrößen für mögliche Lebensweisen der Individuen zugeordnet.[50] Die Dunbar-Zahl[51] drückt aus, dass in der Evolutionsgeschichte des Menschen seit einer Gehirngröße von mehr als 900 ccm 150 Individuen die durchschnittliche Gruppengröße bildeten, und zwar stabil über evolutionäre lange Zeit.[52] Die Ordnungsstufen zeigen mögliche Wege auf, wie sich das Denken evolutionär entwickeln konnte.
Mentalisierung der ersten Ordnung erlaubt keine Theory of Mind, also kein geistiges Erkennen des anderen als anderer. Es trifft für Gehirngrößen kleiner als 400 ccm und damit für Schimpansen oder den Orrorin tugenensis, den Ardipithecus ramidus und den Ardipithecus kadabba zu. Die Gruppengröße, in denen sich Denkleistungen solcher Individuen bewegen konnten, konnte 30 bis 50 Individuen nicht übersteigen.[53] Das kommunikative Denken vollzieht sich hier in sozial einfacher Form.
Intentionalität zweiter Ordnung ist das, was die Theory of Mind adressiert. Man kann sich klarmachen, dass ein anderer wie man selbst einen Geist hat und Dinge glaubt, an die man selbst glaubt. („Ich glaube etwas darüber, was du glaubst.“) Diese zweite Ordnung wird einer Gehirngröße von 400-900 ccm zugeordnet, das trifft auf die Australopithecinen zu. Von ihnen wird angenommen, dass sie in Gruppen von 60 bis 100 Individuen leben konnten.[53] Für die zweite Ordnung ist Selbstwahrnehmung erforderlich. Fakt ist, dass einige Tiere über Selbstwahrnehmung verfügen, darunter Schimpansen, Elefanten und Rabenvögel. Ob auf dieser Ordnungsebene auch Sprache eine notwendige Bedingung ist, ist Gegenstand der Diskussion. Archäologische Belege zu möglichen Gruppengrößen existieren jedoch nicht.
Die dritte Ordnung der Intentionalität drückt sich in dem Beispielsatz aus: „Du glaubst etwas darüber, was sie glaubt, aber ich glaube das nicht.“[54] Diese Form des Denkens wird Homininen zugesprochen, die über ein Gehirn mit mehr 900 ccm verfügen, das sind der Homo habilis, Homo rudolfensis und Homo ergaster bzw. Homo erectus. Ab dieser Ordnung sind Gruppengrößen von 100 bis 150 möglich (Dunbar-Zahl).[53] Belege für größere Gruppen existieren allerdings fast nur beim Homo sapiens.[55] Symbolgebrauch und Sprache bahnen sich in dieser Ordnung an.[56] Sprache ist aber sicher nicht mit heutigen Sprachen und deren Syntax und Semantik vergleichbar. Die zugehörige Kultur ist die Acheuléen-Kultur der Steinwerkzeuge. Faustkeile stellen bereits mentale Leistungen mit hohem Anspruch an kooperativem Gedankenaustausch zwischen mehreren Individuen dar. Informationen mussten weitergegeben werden.[57] Werkzeuge sind sozial bedingt. Die Denkleistungen sind eine selektive Folge des anspruchsvolleren, komplexeren sozialen Lebens.[58]
Homo heidelbergensis, Neandertalern und andere Frühmenschen werden in ihrer Denkleistung der vierten Ordnung zugesprochen. Das lässt sich wiederum aus der Gehirngröße schließen.[59] Wenn sie eine Sprache hatten, kann es sich ebenfalls noch nicht um eine vollständige Sprache im heutigen Sinn gehandelt haben. Die Intentionalität vierter Ordnung hat eine erhebliche Beschränkung auf die Mentalisierung ausgeübt. Die Vorstellung einer ausgeprägt spirituellen, religiösen Welt ist auf dieser Ebene noch nicht möglich.[60] Es sind Fälle bekannt, bei denen Neandertaler Verletzte versorgten und pflegten. Es sind Beispiele für Kooperation und zwischenmenschlicher Solidarität. Sie verlangen hohe Mentalisierungsfähigkeiten.[61]
Eine fünfte und sechste Form ist nur dem anatomisch modernen Menschen (Homo sapiens) zu eigen. Komplizierte Mythen und Geschichten können hier ausgebildet werden. In ihnen kommen echte und imaginäre Welten mit echten und Fantasiegestalten vor.[62] Hierzu gehören auch Religionen, die erst auf dieser Ebene erscheinen. Religionen sind Parallelwelten zum täglichen Leben. Neben der Vorstellung einer solchen Welt muss man mit anderen darüber sprechen können. Das setzt ein „ich“, ein „du“, mindestens eine dritte Person sowie einen oder mehrere Geister in der spirituellen Welt voraus. Komplexer Symbolgebrauch steht am oberen Ende der Ordnung. Der Mensch hat in dieser Mentalisierungsstufe gelernt, an andere Menschen zu denken, die physisch nicht präsent, sondern abwesend sind. Das kann auch Verstorbene betreffen, an die man denkt und die man bestattet. Ideen können von den Gedanken anderer geleitet sein.[63] Abwesende Menschen spielen so eine Rolle im Sozialverhalten. Ebenso spielen Menschen symbolisch in Artefakten eine Rolle, in ihrer Form, ihrem Geschmack oder Geruch. Man spricht hier von dezentraler Kognition.[64]Homininen mit solchen Denkfähigkeiten zur Mentalisierung hatten soziale Gefühle wie Schuld, Scham, Stolz, Mitleid. Sie sind nur möglich, wenn man Ansichten über die Ansichten anderer hat.[61]
In höheren Mentalisierungsstufe entstanden nach der Theorie des sozialen Gehirns evolutionäre Gegenreaktionen, um die in größer werdenden Gruppen zunehmenden Stressbelastungen ausgleichen und aushalten zu können. Schimpansen sind noch in der Lage, die permanent hohen emotionalen Spannungen in der Gruppe mit gegenseitigem Kraulen (Grooming) zu bewältigen, was zu Endorphin-Ausschüttung führt. In höheren Mentalisierungsstufen mussten jedoch neue Stressabbaumethoden evolvieren, um den Zusammenhalt in der Gruppe dauerhaft gewährleisten zu können. Neben Religionen sind das auch Lachen und Musik, später auch Sport. Alle diese Verhaltensformen sorgen für Endorphinausschüttung und damit für den erforderlichen Stressabbau.[65]
Thomas Nagel stellt die einheitliche Erklärung eines physikalischen Weltbildes, das die Evolutionstheorie einschließt und einer Erklärung des Geistes in Frage. Das Auftauchen des Geistes, des Bewusstseins und der Vernunft ist ungeklärt.[66] Das gilt nicht ausschließlich für die Evolution des Menschen. Bewusstsein hat laut Nagel einen irreduzibel subjektiven Charakter.[67] Das Programm, das unser heutiges, wissenschaftliches Weltbild prägt, nennt er reduktionistisch. Es erklärt „die mentale Beschaffenheit komplexer Organismen gänzlich unter dem Gesichtspunkt der Eigenschaften ihrer elementaren Bestandteile“.[68] Das Mentale kann in dieser Weltanschauung nicht auf das Physische reduziert werden,[69] das heißt, die mentalen Bestandteile, aus denen wir zusammengesetzt sind, sind nicht bloß physisch.[70] Nagel betont, dass ein Weltbild, das diese Unvereinbarkeit auflösen und erklären kann, ein radikaler Wandel darstellen muss.[71] Prinzipien der Selbstorganisation reichen laut Nagel für die Erklärung des Verstands bei weitem nicht aus. Vielmehr ist Bewusstsein etwas vollständig Neues,[72] das die Evolutionstheorie nicht erklärt.
Während Nagel die Entstehung von Geist in der Evolution als unbeantwortet sieht, werden evolutionäre Anpassungen einer schon bestehenden mentalen Welt, wie sie im Konzept der geteilten Intentionalität oder in der Theorie des sozialen Gehirns beschrieben werden, nicht zwingend durch Nagel adressiert. Derartige Evolution ist durch epigenetische Vererbung mit Imitation und Lernen möglich. Die Ursprünge und Konsistenz solcher Anpassungen mit der Physik sind allerdings nach Nagel aus Sicht des heutigen wissenschaftlichen Erkenntnisstands ein Rätsel.
1. Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen. Fischer Taschenbuch Verlag. 2009. Nach d. dt. Übersetzung v. Heinrich Schmidt 1908. ISBN 978-3-596-90145-6 S. 80ff
2. Darwin 2009 S.81
3. Darwin 2009 S.81f
4. Darwin 2009 S.91f
5. Darwin 2009 S.82f
6. Darwin 2009 S.93
7. Darwin 2009 S.93f
8. Darwin 2009 S.99
9. Darwin 2009 S.101
10. Darwin 2009 S.108ff
11. Darwin 2009 S.105
12. Darwin 2009 S.112
13. Darwin 2009 S.156ff
14.Achim Stephan und Sven Walter (Hg.): Handbuch Kognitionswissenschaft. J.M.Metzler 2013. Kap. E.6. Evolutionäre Psychologie. S. 119–124
15. Tomasello, Michael: Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens. Suhrkamp 2014. Original: A Natural History of Human Thinking. Harvard University Press. ISBN 978-3-518-58615-0 S.23
16. Tomasello, Michael: 2014. S.186
17. Tomasello, Michael. 2014 S.60
18. Tomasello, Michael: 2014 S.84
19. Tomasello, Michael: 2014 S.186
20. Tomasello, Michael: 2014 S.48
21. Tomasello, Michael: 2014 S.50ff
22. Carruthers, P. (2006) The architecture of the mind. Oxford: Oxford University Press.
23. Mendes, N., Rakoczy, H. und Call, J. (2008). Ape metaphysics: Object individuation without language. Cognition 106 (2), S. 730–749
24. Tomasello, Michael: 2014 S.52ff
25. Tomasello, Michael: 2014 S.53
26.Tomasello, Michael: 2014 S.54
27. Tomasello, Michael: 2014 S.220
28. Davidson, D. (1982) Rational Animals. Dialectica 36, S. 317–327
29. Davidson, D. (2001). Subjective, intersubjective, objective. Oxford Clarendson Press.; dt. Subjektiv, intersubjektiv, objektiv, übers. v. J. Schulte, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2013
30. Brandom, R.B. (1994). Making it explicit: Reasoning, representing, and discursive commitment. Cambridge, MA. Harvard University press; dt. Expressive Vernunft, übers. v. E. Gilmer und H. Vetter, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2000
31. Evans, G. (1982). The varieties of reference. In: J. McDowell (Hg.): The varieties of reference. Oxford. Oxford University Press S. 73–100
32. Tomasello, Michael: 2014 S.50f
33. Tomasello, Michael: 2014 S.56
34. Tomasello, Michael: 2014 S.80
35. Tomasello, Michael: 2014. S.90
36. Tomasello, Michael: 2014 S.77
37. Tomasello, Michael: 2014 S.123
38. Tomasello, Michael: 2014 S.159
39. Suddendorf, Thomas: Der Unterschied. Was den Mensch zum Menschen macht. Berlin Verlag 2014. Original: The Gap. The Science of What Separates Us from Other Animals. Basic Books, New York. 2013. S.122
40. Tomasello, M., Savage-Rumbaugh, S. und Kruger, A. (1993) Imitative learning of actions and objects by children. Child Development 68, S. 1067–1081
41.Tomasello, Michael: 2014 S.180
42. Tomasello, Michael: 2014 S.168f
43. Suddendorf, Thomas: 2014 S.153
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45. Clive Gamble, John Gowlett, Robin Dunbar: Evolution, Denken, Kultur. Das soziale Gehirn und die Entstehung des Menschen. Springer Spektrum 2016. ISBN 978-3-662-46767-1. doi:10.1007/978-3-662-46768-8. Original: Thinking Big. How the Evolution of Social Life Shaped the Human Mind. Thames & Hudson, London 2015. S.122,135,161
46. Gamble et al. 2015 S.151
47. Gamble et al. 2015 S.72
48. Gamble et al. 2015 S.243ff
49. Anm.: Intentionalität wird hier abweichend von Tomasello verwendet.
50. Gamble et al. 2015 S.14
51. Dunbar, R. I. M. (1992). "Neocortex size as a constraint on group size in primates". Journal of Human Evolution. 22 (6): 469–493. doi:10.1016/0047-2484(92)90081-J
52. Gamble et al. S.17ff
53.Gamble et al. 2015 S.137,138
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56. Dunbar, RIM, Gamble, C, Gowlett JAJ (Hg.): Social brain and distributed mind. Oxford University Press. Oxford 2010. Proceedings of the British Academy 158
57. Gamble et al. 2015 S.175ff
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59. Gamble et al. 2015 S.273
60. Gamble et al. 2015 S.247
61.Gamble et al. 2015 S.297
62. Gamble et al. 2015 S.247, 274ff
63. Gamble et al. 2015 S.175
64. Gamble et al. 2015 S.137
65. Gamble et al. 2015 S.265ff
66. Thomas Nagel. Geist und Kosmos. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. 2016. ISBN 978-3-518-29751-3. S. 49
67. Thomas Nagel. Geist und Kosmos. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. 2016. ISBN 978-3-518-29751-3. S. 105
68. Thomas Nagel. Geist und Kosmos. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. 2016. ISBN 978-3-518-29751-3. S.82
69. Thomas Nagel. Geist und Kosmos. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. 2016. ISBN 978-3-518-29751-3. S.83
70. Thomas Nagel. Geist und Kosmos. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. 2016. ISBN 978-3-518-29751-3. S.83
71. Thomas Nagel. Geist und Kosmos. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. 2016. ISBN 978-3-518-29751-3. S. 182
72. Thomas Nagel. Geist und Kosmos. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. 2016. ISBN 978-3-518-29751-3. S. 85
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