Die Smart City passiert längst: Moderne Städte sind an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gestoßen. Da ihre äußere Struktur kaum mehr verändert werden kann, setzt das Konzept der Smart City darauf, ihre inneren Abläufe zu optimieren. Deutlich wird das am innerstädtischen Verkehr: Statt neue Straßen oder Strecken für den öffentlichen Nahverkehr zu bauen, installieren Städte Verkehrsleitsysteme. Nach dem Verkehr sollen in der Smart City nun möglichst viele weitere Bereiche des öffentlichen Lebens geregelt werden: Wie sich Menschen bewegen, Energie nutzen, miteinander interagieren. Die Hoffnung ist, dass Städte auf diese Weise in Echtzeit steuerbar werden und so die Effizienz des Systems und damit das Wohlbefinden der Bewohner langfristig steigt. Das Mittel: Alle relevanten Vorgänge werden überwacht, die so erhobenen Daten zusammengeführt, analysiert und schließlich Stellschrauben identifiziert, an denen gemäß der jeweiligen politischen Maßgaben gedreht werden kann. Doch jeder dieser Schritte stellt zugleich ein Risiko für die Rechte und Souveränität der Stadtbewohner dar.
Die Mittel, um die Stadt durchgängig als System zu analysieren, entstanden erst in den letzten Jahren: Big Data und das was unter Internet der Dinge firmiert. Die Welt wird mit Sensoren ausgerüstet, nun fallen Datenberge an, die nur mit neuen Methoden auf Regelmäßigkeiten und Störungen abgeklopft werden können. Es kündigt sich eine Vermessung des öffentlichen Raums an. Die Digitalisierung der Städte schafft jedoch nicht nur Planbarkeit und Effizienz, sondern auch neue Kontroll- und Überwachungsinstrumente. Um eine subtile Manipulation der Gesellschaft zu verhindern, müssten aber die Bürger/-innen die Stadt kontrollieren, nicht umgekehrt.
Damit eine Stadt eine Smart City wird, muss sie deswegen erst einmal vermessen werden. Potenziell alles, was sich bewegt und verändert, soll erfasst werden: Autos werden getrackt, Personen im Nahverkehr erfasst, Daten über die Wasser– und Energienutzung, über Kommunikationsverhalten, Gesundheit und viele andere soziale Teilbereiche gesammelt. Die Stadt wird zum Sensoren-Netzwerk. Die aufgezeichneten, aggregierten, statistisch und netzwerktheoretisch aufgearbeiteten Daten fließen in komplexe Simulationsmodelle ein. Die Technik integriert die vielen Untersysteme einer Stadt, ihre Bewohner und Infrastrukturen in ein Gesamtmodell.
Interessant wird es, wenn dieses Wissen zur Steuerung verwendet werden soll. Beim Verkehr ist das schon der Fall, längst wird aber auch die soziale Integration einer Stadt als Aufgabe für Netzwerktheorie und Big Data betrachtet. Entwickelt sich ein Stadtteil zum Armenviertel, wird dies als Kommunikationsproblem betrachtet: Das Viertel ist vom Zugang zu den ökonomischen, kulturellen und sozialen Ressourcen der Stadt abgeschnitten und bildet ein abgeschottetes Subnetz. Werden die Verbindungen wiederhergestellt, etwa durch günstigen Nahverkehr und andere Mobilitätsanreize, wird die Lücke geschlossen und es kann wieder prosperieren.
Das mag schön klingen, doch auch hier müssen nicht nur die Infrastruktur, sondern die Bürger/-innen und ihre Sozialstrukturen als System erfasst werden. Zudem ist die Entscheidung über einen wünschenswerten Zustand und darüber, welchen Gebieten Ressourcen zugewiesen werden – trotz technischer Vermittlung – letztlich eine politische Entscheidung. Es geht also auch um eine neue Art der politischen Handhabe. Dieser mit der "Smart City" verbundene Ansatz steht Bottom-up-Modellen von Stadtentwicklung und Partizipation entgegen, nach der sich Bürger in der Öffentlichkeit organisieren und daraus eine Zivilgesellschaft erwächst. Im Grunde geht es um eine Machtumkehr: Wer das Steuersystem beherrscht, beherrscht das Individuum. Eine wirklich smarte City hat deshalb auch das Potential zum Überwachungsalbtraum.
Es geht tatsächlich um neue Machtpotenziale. In so einem geregelten System bilden die Bürger/-innen eine formbare Masse, deren Bewegungen potenziell vorhergesagt und subtil beeinflusst werden könnten. Denn Big Data ermöglicht auch Eingriffe auf einer höheren Ebene: Schon jetzt untersuchen Städte und Staaten mit Sentiment-Analysen anhand von Äußerungen in sozialen Netzwerken und Medien die Stimmung der Bevölkerung. IBM etwa bietet im Rahmen seines "Intelligent Operations Center" ein System unter dem Titel "Verwalte die Stimmung Deiner Stadt" an. Führungspersonen sollten sich nicht auf die lokalen Nachrichten verlassen, um ein Stimmungsbild ihrer Bevölkerung zu erhalten, sondern auf Big Data setzen, wirbt das Unternehmen. Mit diesem Wissen ließe sich in einem weiteren Schritt die öffentliche Meinung punktgenau beeinflussen – zumindest in der Theorie. Das geschieht nicht, indem individuelle Meinungen geformt werden, sondern die Umstände, die zur Entwicklung einer missliebigen Meinung führen.
Das Risiko ist, dass diese Eingriffe schwer nachzuvollziehen sind und kaum individuell spürbar werden. Gruppen werden geformt, nicht Menschen. Was bedeutet das für das Selbstbestimmungsrecht der Stadtbewohner? Wo verläuft die Grenze zwischen legitimer Steuerung und unterdrückerischer Manipulation? Je stärker die Städte heute Daten sammeln, aggregieren und zur Steuerung nutzen, desto wichtiger werden neue demokratische Kontrollinstanzen, um diese Grenzen zu ziehen. Grundlage dafür ist aber ein gesellschaftliches Verständnis dieser Prozesse. Erst mit diesem noch zu schaffenden Verständnis kann eine ethische Diskussion entstehen, in der zwischen Optimierung und Entfaltung abgewogen werden kann.
Das alles läuft darauf hinaus, dass die "Selbstorganisation" der Smart City kein technischer Vorgang ist, der von einer Machtelite ausgeübt wird, sondern durch Transparenz und Mitspracherechte demokratisiert werden muss. "Smart" dürfte eine Stadt erst dann werden, wenn es Bürger gibt, die smart genug sind, diese "Smartness" zu verstehen.
Derzeit ist noch völlig unklar, ob mit Big Data und Smart City die langfristigen Vorhersage- und Steuerungswünsche überhaupt aufgehen werden: Das Wissen um die Techniken, über die Grenzen ihrer Wirksamkeit, über ihre Anfälligkeiten und Missbrauchspotenziale ist weitgehend gering. Komplexe Systeme verhalten sich chaotisch, kleine Einwirkungen können unvorhersehbare Auswirkungen haben. Auch ist es ein Problem, dass die vermeintliche Präzision der zusammengefassten Daten die Tendenz befördern könnte, von Gruppen auf individuelle Eigenschaften zu schließen – und damit immer neue Fehlschlüsse zu produzieren. Geoscoring bei der Kreditvergabe oder die Experimente mit Pre-Crime-Verfahren demonstrieren nur, was in vielen Bereichen möglich werden soll. Berauscht von den kurzfristigen Steuerungsmöglichkeiten könnte auch die langfristige Stabilität aus dem Blick geraten. Statt zu einem Ort der Entfaltung würde die Öffentlichkeit noch stärker zu einem Ort von Überwachung und Kontrolle werden.
Die Smart City könnte so eine Abwehrbewegung provozieren, zumal diese Entwicklung auch eine neue Moral befördern könnte, in der die Umgehung der maschinellen Kontrolle einer Sabotage gleichkommt. Schon wer sich ineffizient bewegt, könnte das Sensornetzwerk irritieren. Privatsphäre wäre dann nicht mehr der Schutz vor der Gesellschaft, sondern vor ihren Steuerungsinstrumenten. Diese Sicherheit wäre freilich trügerisch, denn öffentliches und privates Leben sind bereits verschmolzen.
Wichtiger, als Schutz vor dieser Entwicklung zu suchen, ist es, das
Problembewusstsein zu stärken und Reaktionsmöglichkeiten zu entwickeln. Noch spannender als die Smart Citys und ihre kybernetischen Gesellschaften wird sein, welche neuen Taktiken ihre
Bürger/-innen entwickeln werden, um deren Steuerungsversuche zu unterlaufen. Am Ende könnte sich herausstellen, dass die Bürger/-innen einer Stadt smarter sind, als sie es je sein
wird.
Gastbeitrag von: Felix Knoke (Creative Commons)
WissensWert (Samstag, 09 Dezember 2017 02:41)
https://www.nzz.ch/feuilleton/wie-wollen-wir-leben-ld.1336803