Jane English argumentiert in „Abortion and the Concept of a Person“ wie folgt:
P1. Selbstverteidigung ist genau dann moralisch legitim, wenn (a) der errichtete Schaden nicht größer als nötig ist und (b) nicht arg viel größer als der verhinderte Schaden ausfällt und wenn (c) es keinen anderen Weg gibt, der weniger Schaden verursacht. Dies gilt insbesondere auch dann, wenn man sich gegen eine (unschuldige) Person selbstverteidigt.
P2. Einige Abtreibungen können als ein Akt der Selbstverteidigung im Sinne von (1) betrachtet werden (vgl. „Geiger“) und erfüllen somit die Kriterien (a) bis (c).
K1. Aus (1) und (2) folgt: Einige Tötungen von Föten (Abtreibungen) sind moralisch legitim. Dies gilt insbesondere auch dann, wenn der Fötus eine (unschuldige) Person ist.
K2. Aus (K1) folgt: Der Status einer unschuldigen Person ist demzufolge nicht hinreichend für ein absolutes Tötungsverbot.
P3. Nach der Geburt endet die direkte biologische Abhängigkeit des Fötus gegenüber der Mutter. Von nun an gibt es andere Wege, die weniger Schaden verursachen würden als die Tötung des Kindes, wie etwa die Freigabe zur Adoption. Damit ist das Kriterium (c) für eine moralisch legitime Selbstverteidigung aus (1) nicht mehr erfüllt.
K3. Aus (P3) folgt: Infantizide sind keine moralisch legitime Form Selbstverteidigung in Sinne von (1). Also kann der Verweis auf Selbstverteidigungen auch genutzt werden, um Abtreibungen zu erlauben, ohne damit aber notwendigerweise auch Infantizide zu legitimieren!
P4. Nichtmenschliche-Tiere sind keine Personen.
P5. Es ist trotzdem falsch, Tiere wie beispielsweise Hunde grundlos zu foltern oder Wildvögel ohne gute Gründe zu töten, auch wenn diese Tiere keine Personen sind und nicht die gleichen Rechte besitzen wie Personen.
K4. Aus (P5) folgt: Wenn etwas keine Person ist, impliziert das offensichtlich keine absolute moralische Willkür oder Tötungslegitimität unter allen Umständen. (Es gibt kein adäquates Kriterium, an dem sich ein für alle mal bemessen lässt, wie man mit einer Nicht-Person umzugehen hat oder nicht, auch wenn diverse Theorien dazu existieren (Utilitarismus, Rawls, etc.).)
K5. Aus (K4) folgt: (Selbst) Wenn ein Fötus keine Person darstellt, wird dadurch seine Tötung (Abtreibung) und den beliebigen Umgang mit ihm nicht legitim.
K6. Der Personenstatus ist weder hinreichend (siehe (K2)) noch notwendig (siehe (K4)) für ein Tötungsverbot.
K7. Das Kriterium des Personenstatus ist folglich auch nicht scharf genug, um die Abtreibungskontroverse zu lösen.
P6. Zusätzlich lässt sich der Personenbegriff auch gar nicht scharf (genug) definieren, er ist vielmehr als ein unscharfer Clusterbegriff aus biologischen, psychologischen, rationalen, sozialen, rechtlichen usw. Faktoren zu verstehen. Er ist als ein solcher deshalb unscharf, da man einige dieser Faktoren nicht erfüllen und trotzdem eine Person sein kann (zum Beispiel Rationalität bei geistig Behinderten) und da fast alle diese Faktoren zutreffen können, etwas aber trotzdem keine Person sein kann (zum Beispiel ein hochintelligenter Roboter). Das heißt jedoch nicht, dass sich überhaupt keine hinreichenden oder notwendigen Bedingungen zum Personsein formulieren lassen: Lebendig zu sein ist offenkundig eine notwendige Bedingungen, um eine Person zu sein, und ein U.S. Senator zu sein ist ohne jeden Zweifel eine hinreichende Bedingung dafür. Jedoch erfüllt der Embryo keine dieser eindeutig hinreichenden Bedingungen klar, noch verfehlt er eines der unbezweifelbar notwendigen, weshalb sein Personenstatus in der Schwebe steht.
K8. Zusammengefasst: Der Personenstatus eines Embryos kann aus sprachlichen Gründen nicht entschieden werden (siehe (P6)), und selbst wenn er das könnte, wäre er nicht geeignet, um das Abtreibungsproblem zu lösen (siehe (K7)).
P7. Stattdessen sollten wir uns an dem Kriterium der subjektiv empfundenen "Kohärenz der Einstellungen" orientieren, um der Abtreibungskontroverse beizukommen: Die biologische und dementsprechend auch die moralische Entwicklung eines Fötus hin zu einem ausgereiften Menschen verlaufen graduell. Umso mehr ein Embryo in unseren Augen bereits mit einem neugeborenem Baby gemein hat, desto schwerer tun wir uns auch mit seiner Tötung und desto höher sollten auch die moralischen Hürden für seine Abtreibung sein: In den frühen Phasen der Schwangerschaft, direkt nach der Empfängnis, hat der Embryo kaum etwas mit einem Menschen gemein. Es ist schwer, eine gefühlsmäßige Einstellung gegenüber einem jungen Embryo zu entwickeln, der noch keinen Kopf, keine Hände und kein schlagendes Herz besitzt, die derjenigen ähnelt, die wir für Neugeborene aufbringen. Aus diesem Grund sehen wir die Abtreibung junger Föten auch nicht als Mord an und sollten sie auch legitim sein, insofern von Seiten der Mutter oder Familie ein Interesse danach besteht. In den mittleren Phasen der Schwangerschaft gleicht der Fötus schließlich immer mehr einem Neugeborenem, weshalb seine Abtreibung nur gerechtfertigt sein kann, wenn eine unmittelbare Bedrohung für die Frau besteht und diese nicht anderweitig abgewehrt werden kann (Vgl. (P2)). Dies stimmt so auch mit der Rechtsprechung des Oberstes Gerichtshofs der Vereinigten Staaten überein. In den späten Phasen der Schwangerschaft – etwa eine Woche vor der Geburt - ist der Fötus in vielerlei Hinsicht identisch zu einem neugeborenen Baby, sodass unsere Einstellungen zu beiden in weiten Teilen kohärent zueinander sind und die Abtreibung des späten Fötus dann und nur dann gerechtfertigt sein kann, wenn sie den einzigen Weg darstellt, um die schwangere Frau vor bedeuteten (physischen, psychischen, sozialen oder ökonomischen) Schäden oder dem Tod zu retten.
Ich persönlich finde Englishs Argumentation überzeugend. Die Rekonstruktion habe ich im Rahmen des Seminars "Philosophisches Argumentieren und Schreiben" an der Universität Göttingen verfasst.