Auf dem Einband meines Exemplars prangt ein Aufkleber "Der Nr.1-Bestseller aus den USA". Das war aber nicht der Kaufgrund, sondern ich hatte in einer Rezension gelesen, dass es im Buch längere Abschnitte über Christopher Langan geben soll. Ich war wegen seiner CTMU auf ihn aufmerksam geworden und der dazu in offensichtlichem Widerspruch stehenden Tatsache, dass er sein Studium abgebrochen, lange Jahre als Türsteher gearbeitet und auch heute noch keinen wirklichen Zugang zur Scientific Community hat.
Im Auftrag der Nachrichtensendung 20/20 legte ein Neuropsychologe Langan einen herkömmlichen Intelligenztest vor; das Ergebnis war buchstäblich unfassbar und zu hoch für eine genaue Bestimmung. Bei einer anderen Gelegenheit unterzog sich Langan einem Intelligenztest, der speziell für hochintelligente Menschen entwickelt wurde. Er beantwortete alle Fragen bis auf eine.
An der Uni scheiterte Langan; die Gründe, die er selbst angibt, erscheinen äußerst seltsam. Seine Mutter hatte es einmal versäumt, einen Stipendienantrag auszufüllen, ihm selbst gelang es nicht, Seminare auf bessere Termine zu legen, ein Mathematikprofessor hielt ihn für zu dumm für Mathematik. Was sich hier und in dieser Verkürzung äußerst merkwürdig anhört, wird im Buch ausführlicher erläutert und dient dort zur Illustration einer der Hauptthesen des Autors, dass Erfolg im Leben nicht vom IQ, sondern von den sozialen Verhältnissen, von einer genügend langen Beschäftigung mit dem eigenen Thema und von einer gehörigen Portion Glück abhängt.
Als unmittelbare Vergleichsperson zu Langan nennt Malcom Gladwell den Physiker Robert Oppenheimer, der seinerzeit das Manhattanprojekt geleitet hat und so zum „Vater der Atombombe“ wurde. Ich wusste nicht, dass Oppenheimer als junger Wissenschaftler versucht hat, seinen Doktorvater, den späteren Physiknobelpreisträger Patrick Blackett, zu vergiften. Im Unterschied zu Langan entstammte Oppenheimer einer Familie der Mittelschicht, so hatte er in den entscheidenden Momenten die soziale Kompetenz, die wichtigsten Menschen für sich einzunehmen. Nach dem Mordanschlag kam er nicht ins Gefängnis, sondern in psychiatrische Behandlung; bei den Bewerbungen für das Manhattanprojekt gelang es ihm, General Groves von seinen Fähigkeiten zu überzeugen.
Gladwell ist der Meinung, dass man zum Beispiel für das Gewinnen eines Nobelpreises nicht der Intelligenteste sein muss, es reicht aus, genügend intelligent zu sein. An dieser These ist etwas dran, das belegen zum Beispiel die Untersuchungen von Lewis Terman (auch wenn dieser selbst vom Gegenteil überzeugt war). Terman hatte über Jahrzehnte das Leben einiger extrem Hochbegabter untersucht, und entgegen seinen Grundannahmen waren diese nicht erfolgreicher als andere in ihrer sozialen Schicht und Berufsgruppe. Nobelpreisträger waren keine darunter, im Gegenteil, später bekamen zwei Personen Nobelpreise, die Terman wegen nicht ausreichender Intelligenz aus seinen Gruppen ausgeschlossen hatte.
Wichtiger ist es laut Gladwell, sich ausreichend lange mit „seinem“ Thema zu beschäftigen. Von der 10000-Stundenregel habe ich auch schon an anderer Stelle gelesen: Völlig unabhängig vom Fachgebiet, ob Eishockeyspieler (im Buch: kanadische und tschechische Profis), Musiker (Beispiel im Buch: die Beatles), Softwareentwickler (Bill Gates) oder Anwalt (der in Europa unbekannte Joe Flom), weltweit anerkanntes Expertenniveau erreicht man erst nach rund 10.000 Stunden der Beschäftigung oder des Übens.
Im Buch dient Gladwell u.a. eine Studie über Violinspieler als Beispiel:
Die Angehörigen aller drei Gruppen hatten mehr oder weniger im gleichen Alter begonnen, nämlich mit etwa fünf Jahren. Anfangs hatten alle mit rund zwei oder drei Stunden pro Woche etwa gleich viel geübt. Doch im Alter von acht Jahren ergaben sich die ersten erkennbaren Unterschiede. Die Studenten, die heute zur Gruppe der Besten gehörten, begannen intensiver zu üben als die anderen: im Alter von neun Jahren etwa sechs Stunden, im Alter von zwölf etwa acht, im Alter von 14 rund 16 Stunden pro Woche und so weiter, bis sie im Alter von 20 Jahren mehr als 30 Stunden pro Woche übten mit dem erklärten Ziel, ihr Spiel zu verbessern. Im Alter von 20 Jahren hatten diese Elitemusiker und -musikerinnen insgesamt rund 10.000 Stunden geübt. Im Gegensatz dazu kamen die »guten« Studierenden nur auf etwa 8.000 Stunden Spielpraxis und die künftigen Musiklehrer auf knapp über 4.000.
Offenbar steckt hinter der 10.000-Stundenregel eine anthropologische Konstante, die unabhängig vom Fachgebiet nicht wesentlich kleiner oder größer sein kann. Aber ich habe trotzdem mehrere Einwände: Was ist mit dem Argument, dass zur Begabung auch das brennende Interesse am eigenen Thema gehört, das diese Menschen dazu bringt, sich einer harten Ausbildung zu stellen? Und warum sollte nicht diese größere Begabung die Betreffenden zu schnelleren und größeren Erfolgen führen, die sie wiederum die Motivation gewinnen lässt, noch härter weiterzuarbeiten? Das erklärt nämlich auch die empirisch bestätigte Erkenntnis, dass aus der Gruppe der weniger Erfolgreichen niemand mehr geübt hat als die anderen derselben Gruppe. Damit werden Begabung und Übungszeit beide sich wechselseitig bedingende Ursachen und Folgen des jeweils anderen.
Für die mangelnde Vorhersagekraft des IQ für den beruflichen Erfolg findet man auch leicht eine Erklärung, wenn man sich im Detail ansieht, wie diese Maßzahl gewonnen wird: Es werden (nach Möglichkeit) wissensunabhängige logische Aufgaben gestellt, die in begrenzter (kurzer) Zeit gelöst werden sollen und deren Lösung vorab eindeutig feststeht. Das lässt keinen Raum für Kreativität, trifft aber auf schulisches Lernen stark zu, ganz besonders auf Mathematik. Und folgerichtig korreliert der IQ auch am stärksten mit der Note in diesem Fach. Genau zu diesem Zweck wurde diese Maßzahl seinerzeit auch entwickelt, nämlich um die Schulfähigkeit von Kindern zu beurteilen.
Ein weiterer Einwand gegen Gladwells These eines nur genügend hohen IQ (den er mit 120 annimmt) ist meiner Meinung nach, dass dieser Schwellwert mit Sicherheit fachabhängig ist: Je mehr die Aufgaben in einem Beruf oder einer Beschäftigung denjenigen der Testaufgaben ähneln, desto eher sollte sich doch eine Korrelation mit dieser Maßzahl zeigen. Für Sportler oder Künstler ist es in der Tat egal, aber ich bezweifle, dass das für Fields-Medaillengewinner, Physiknobelpreisträger oder Spitzeninformatiker ebenso gilt (Bill Gates, Steve Ballmer und Paul Allen sind alle drei Meganer). Interessant ist in diesem Zusammenhang die Theorie der multiplen Intelligenzen von Howard Gardner. In der „Zeit“ findet sich ein Interview mit ihm: Der Kopfzerbrecher. Von seinen Fachkollegen hat er für seinen Ansatz viel Kritik eingesteckt. Mir scheint das allerdings mehr ein semantisches Problem zu sein. Wenn er nicht von „mutiplen Intelligenzen“ sondern von „multiplen Begabungen“ gesprochen hätte, dann wäre die Aufregung bedeutend geringer geblieben.
Die zentrale Aussage von Gladwell in seinem Buch ist, dass an den Überfliegern nichts Mysteriöses ist. Analysiert man jeden einzelnen Fall, dann findet man immer wieder dieselben Muster: Eine Umgebung in Elternhaus, Schule, Beruf und Freizeit, die die vorhandenen Talente bestmöglich fördert, eine intensive und harte Arbeit an den eigenen Fähigkeiten und zusätzlich in vielen Fällen der reine Zufall, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein. Daraus leitet er dann auch seine zentrale Forderung ab: Jedem Menschen die maximalen Chancen einzuräumen, seine Talente zu entwickeln.
Dazu vielleicht noch einmal zurück zu Chris Langan. Die meisten werden keine rechte Vorstellung davon haben, was ein IQ von 200 bedeutet. Hier kann man sich Beispiele überlegen, die auf der originalen Definition des IQ beruhen: Intelligenzalter geteilt durch Lebensalter. Man muss sich einen Zehnjährigen vorstellen, der von seiner Umwelt ständig dazu gezwungen wird, sich in der Welt der Fünfjährigen zu bewegen, in den Kindergarten zu gehen und deren Bilderbücher anzuschauen.
Eine Frage bleibt im Buch für mich unbeantwortet: Gibt es einen Zusammenhang zwischen Erfolg und persönlichem Glück(lichsein)? Ich habe den Eindruck, Malcom Gladwell geht davon aus. Aber der erfolgreiche Oppenheimer war sicherlich eine lange Zeit seines Lebens genauso wenig glücklich wie Langan es heute wahrscheinlich ist. Und auch Chris Wayans Bericht Prodigies‘ Oddities spricht diesbezüglich Bände.
Gastbeitrag von: Dr. Ralf Poschmann
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