Die modernen Methoden in den Naturwissenschaften, insbesondere in den Neurowissenschaften, haben in den letzten Jahren große Fortschritte in der Analyse der neuronalen Vorgänge gemacht, die mit Bewusstseinsvorgängen einhergehen. Ein Beispiel: Wir spielen mit einem Kind Ball. Es wirft uns den Ball zu. Wir nehmen den Ball wahr, reißen die Arme hoch und fangen ihn auf. Während dieser Zeit laufen in unserem Körper und in unserem Nervensystem sehr komplexe Vorgänge ab. Die Sinneszellen unserer beiden Augen empfangen das vom Ball reflektierte Licht, die Sinneszellen beider Ohren empfangen den vom Ball ausgehenden Schall, der Aufprall des Balls wird von den Sinneszellen der Hände an das Gehirn gemeldet, das zuvor Befehle an die Arme ausgesandt und diese so veranlasst hat, den Ball zu greifen.
Die Verarbeitung der von den Augen wahrgenommen optischen Informationen ist inzwischen sehr gut untersucht. Man weiß, dass die Signale nach Form von Objekten, Farben und Bewegungen in verschiedenen Teilen des Gehirns detektiert werden, zudem für beide Augen getrennt. Wir sehen aber nicht „rund“, „rot“ und „fliegend“ getrennt, sondern erleben in unserem inneren Film einen roten Ball, der, schnell größer werdend, auf uns zufliegt. Die (sensorische) Integration der ursprünglich getrennten Verarbeitung der Sinneseindrücke wird Bindungsproblem genannt. In unserem Beispiel müssen zusätzlich noch die akustischen Informationen zweier Ohren und die haptischen Rückmeldungen der Hände beim Zufassen integriert werden.
Wie schafft es unser Gehirn, aus einer Vielzahl von Sinneseindrücken einheitliche Wahrnehmungen zu konstruieren? Es gibt noch keine befriedigende Antwort auf diese Frage. Sie wird umso kniffliger, wenn man bedenkt, dass die Informationen der verschiedenen Sinneskanäle zu verschiedenen Zeitpunkten zur Verfügung stehen können, vom Bewusstsein aber zu einem raumzeitlich konsistenten Modell zusammengesetzt werden.
Bemerkenswert ist ferner, dass der Ball nicht auf zwei Augen, zwei Ohren und zwei Hände zufliegt, sondern auf die mit dem Kind spielende Person, also auf uns. Auch durch die Integration der Sinneseindrücke zu einem holistischen Ganzen erlebt sich die Person als ein "Selbst", das inmitten des erlebten Geschehens steht. Meistens wird dieses Selbst genauer als in der Mitte des Kopfes sitzend gefühlt, wohl vor allem deshalb, weil sich die wesentlichen Sinnesorgane paarig und symmetrisch am Kopf befinden, aber ganz sicher nicht, weil sich im Kopf das Gehirn befindet.
Vom größten Teil der neuronalen Verarbeitung nehmen wir nichts wahr, erst das Ergebnis der Lösung des Bindungsproblems ist unserem Bewusstsein zugänglich, der überwiegende Teil der neuronalen Vorgänge verläuft unbewusst und arbeitsteilig getrennt. Neben der Frage, wie die einzelnen Sinneseindrücke nachher zusammengesetzt werden (Bindungsproblem), stellt sich auch die, warum und wie manche von ihnen bewusst werden (Leib-Seele-Problem). Irgendeine Funktion muss das Bewusstsein haben, denn bewusste Vorgänge gehen physiologisch mit einem erhöhten Ressourcenverbrauch einher, wäre dieser überflüssig, hätte die Evolution einen ressourcensparenden Weg vorgezogen und aus uns als bewusstlose Reiz-Reaktions-Maschinen gemacht.
Teile von: Dr. Ralf Poschmann
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- Bindungsproblem im Spektrum Lexikon
der Neurowissenschaften
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WissensWert (Sonntag, 06 Mai 2018 04:21)
Das sogenannte Bindungsproblem ist die Frage, wie es uns gelingt, in das scheinbare Chaos von Lichtstrahlen und Geräuschen, die wir über unsere Augen und Ohren registrieren, eine so erstaunliche Ordnung hineinzubringen. In den einzelnen Hirnarealen werden jeweils Teilinformationen verarbeitet, die aus den verschiedenen Sinnesorganen dorthin gelangen. Die verschiedenen Sinnessysteme arbeiten unterschiedlich schnell. Ohren haben zum Beispiel die höchste Verarbeitungsgeschwindigkeit für Reize. Die Reizverarbeitung über die Augen ist relativ langsam. Aus der Flut von rohen Sinnesdaten, die ja zunächst nichts anderes als physikalische Impulse sind, müssen wir raumzeitliche Muster wie Objekte und Ereignisse erzeugen, die wir als kohärente Einheiten oder Ganzheiten erleben, welche auch dann dieselben bleiben, wenn sie uns unter den verschiedensten Perspektiven und in den verschiedensten Kontexten begegnen. Wie stellt das Hirn rasch die zur Objektverarbeitung notwendigen Verbindungen zwischen den Neuronen her? Wie fügt das Gehirn die sensorische Information zu einer kohärenten Objektrepräsentation zusammen? Die Anzahl der neuronalen Verschaltungen im Cortex ist zwar riesengroß, aber doch endlich. Es kann daher nicht für jeden höheren ganzheitlichen, zum Beispiel visuellen Wahrnehmungsreiz ein eigenes spezialisiertes Neuron, zum Beispiel ein Großmutterneuron, geben. Denn ein solches Neuron müsste mit allen niedrigeren Neuronen hinsichtlich der Gestalt- bzw. Gruppierungskriterien wie Bewegung von Bildelementen in die gleiche Richtung, Kontinuität, Ähnlichkeit, gleiche Farbe, gleiche Entfernung im Raum und weiterer visueller Merkmale verschaltet sein. Christof von der Malsburg entwickelte eine später von Charles Gray und Wolf Singer experimentell bestä- tigte Theorie, dass das Gehirn die Vielzahl von Merkmalen verknüpft, indem sich die beteiligten Neuronen durch eine Synchronisierung ihrer elektrischen Aktivität zu sogenannten „assemblies“ zusammenschließen. Francis Crick und Christof Koch glaubten, das neurophysiologische Korrelat dieser Synchronisierung und des Bewusstseins in den nachweisbaren 40-Hertz-Oszillationen des Gehirns zu erkennen. Gerald Edelman und Giulio Tononi nehmen an, dass voneinander getrennte Neuronenkarten, die unterschiedliche Merkmale eines Perzepts repräsentieren, über parallel geschaltete und meist beidseitig funktionierende Bahnen miteinander kommunizieren und ihre Funktionen koordinieren. Diese reentranten Verbindungen treffen nach verschiedenen Zwischenschritten wieder an der ursprünglichen Neuronenkarte ein. Durch reentrante Verschaltung und Wechselwirkung wird die Aktivität ausgewählter Gruppen von Neuronen synchronisiert, wodurch sensorische und motorische Ereignisse räumlich und zeitlich koordiniert werden. Der Thalamus spiele in diesen Schleifen eine zentrale Rolle. Allerdings glauben Edelman und Tononi nicht, dass es eng umgrenzte Neuronenverbände gibt, die als neuronales Korrelat des Bewusstseins gelten können. Vielmehr komme es immer auf eine sehr umfassende Aktivität in weiten Teilen des Gehirns an.