Der Begriff des liberalen Paradoxons stammt von Amartya Sen, der für seine Arbeiten 1998 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt. Das Paradoxon hat er 1970 vorgeschlagen und zugleich ein anschauliches Beispiel gegeben:
Zwei Menschen machen
zusammen eine Schiffsreise, auf der nur einer von beiden das Buch "Lady Chatterley’s Lover" lesen kann. (Seinerzeit war das Buch ein großer Skandal.)
Einer der beiden
Mitreisenden ist prüde (P), der zweite frivol (F). Da außer den beiden auch keiner das Buch lesen könnte, gibt es noch die dritte Möglichkeit „keiner liest das Buch“ (K). Der Prüde ist der
Meinung, es sei am besten, wenn keiner das Buch läse, da es schandhaft sei. Aber wenn es einer täte, dann er, da er moralisch gefestigter ist. Also lauten die individuellen Präferenz des
Prüden: K>P>F. Der Frivole ist der Meinung, der Prüde hätte es am nötigsten, das Buch zu lesen, aber anderenfalls würde er, der Frivole, es lesen, damit überhaupt jemand in den Genuss
des Buches kommt. Also gilt für die individuellen Präferenzen des Frivolen: P>F>K.
Müssen sich beide auf eine gemeinsame Präferenz einigen, dann gilt für beide nach dem
Kriterium der kollektiven Präferenz (Gleichheit), dass der Prüde das Buch lesen sollte, denn bei beiden gilt P>F. Gesteht man jedoch nach dem Prinzip der Liberalität
(Freiheit) beiden zu, dass sie für sich selbst entscheiden dürfen, was sie lesen, dann würde sich der Prüde dafür entscheiden, dass keiner (K) das Buch liest, denn dieser
präferiert K>P, während in diesem Fall der Frivole (F) natürlich das Buch selbst lesen wollte…
Man verwickelt sich also genau dann in Widersprüche, wenn sowohl die "Gleichheit aller Menschen" als auch die "Freiheit aller Menschen" gelten soll. Dies wird deutlich, wenn man versucht die individuellen Präferenzen in eine kollektive Sozialwahlfunktion umzuschreiben: Nach der Freiheit aller Menschen darf jeder selbst entscheiden, ob er das Buch liest oder nicht. Der Prüde entscheidet also darüber, dass K > P gelten muss. Und der Frivole bestimmt, dass zudem F > K. Einstimmigkeit herrscht außerdem darüber, dass P > F. Aus diesen drei Forderungen ergibt sich nun aber eine intransitive Präferenz: P > F > K > P.
Sen konnte somit zeigen, dass es keine kollektive Sozialwahlfunktion gibt, die die individuellen Präferenzen aggregiert und die von ihm formulierten Minimalbedingungen (bei uns: Freiheit und Gleichheit, wissenschaftlicher: Liberalität und Pareto) erfüllt. Natürlich gibt es auch individuelle Präferenzordnung, die gar nicht erst in eine kollektive Sozialwahlfunktion überführt werden sollten und bei denen nur das Freiheitsprinzip gilt. Für diese Entscheidungssituationen stellt sich das liberale Paradoxon gar nicht erst:
· Die Farbe ihres Schlafzimmers
· Das Tragen eines Kopftuchs oder das Aufhängen eines Kreuzes?
· Die Wahl ihres Partners (Homoehe)?
· Selbsttötung?
· Hilfe bei einer Selbsttötung?
· …
Diese Beispiele betreffen (je nach politischer Auffassung) unsere Privatsphäre, also einen Bereich menschlichen Lebens, über das alleine das Individuum entscheiden sollte. Auf dieser Ebene gibt es kein Paradoxon, da die individuellen Präferenzen von P und F nicht in sich widersprüchlich sind. Das Paradoxon entsteht erst, wenn bei interpersonellen Abstimmungsphänomenen verschiedene Präferenzordnungen aggregiert werden. Dann zeigt es aber auf, dass es für manche wirtschaftliche oder gesellschaftliche Widersprüche nicht einmal theoretisch eine optimale Lösung gibt. Demokratie heißt sich durchwursteln und kämpfen, und auch zwischen Freiheit und Gleichheit muss ständig gestritten werden.
Kommentar schreiben