meine These: Unterschiedliche politische Auffassungen beruhen oftmals nicht auf unterschiedlichen normativen Überzeugungen, sondern auf unterschiedlichen faktischen Überzeugungen.
Man streitet zwar über eine moralische Angelegenheit("A ist gut"), aber die Kontroverse betrifft häufig nicht die normativen Prämissen ("Q ist gut"), sondern die faktischen Prämissen("A ist Q").
Hier ein paar Beispiele:
In der Frauenpolitik streiten Union und Grüne zwar um eine moralische Angelegenheit ("Frauenquoten sind gut"), aber die Kontroverse betrifft nicht die normative Prämisse ("Chancengleichheit ist gut"), sondern die faktischen Prämissen (Union: Frauenquoten verhindern Chancengleichheit, Grüne: Frauenquoten ermöglichen Chancengleichheit).
In der Energiepolitik streiten Union und Grüne zwar um eine moralische Angelegenheit ("Atomenergie ist gut"), aber die Kontroverse betrifft nicht die normativen Prämissen ("sichere Energie ist gut"), sondern die faktischen Prämissen (Grüne: Atomenergie ist nicht sicher, CDU einst: Atomenergie ist sicher).
In der Steuerpolitik streiten FDP und SPD zwar um eine moralische Angelegenheit ("Steuersenkungen sind gut"), aber die Kontroverse betrifft nicht die normativen Prämissen ("Eine Stärkung des Mittelstandes ist gut"), sondern die faktischen Prämissen (FDP: "Diese Steuersenkung entlastet den Mittelstand" vs. SPD: "Diese Steuererhöhung trifft die Superreichen und stärkt den Mittelstand").
In der Asylpolitik streiten LINKE und AfD zwar um eine moralische Angelegenheit ("Flüchtlingsaufnahmen sind gut"), aber die Kontroverse betrifft nicht die normativen Prämissen("Menschen in Not helfen ist gut"), sondern die faktischen Prämissen(LINKE: "Flüchtlinge sind Menschen in Not", AfD: "Flücht-linge sind großteils Sozialtouristen, unsere einheimische Bevölkerung ist in Not").
In der Innenpolitik streiten CDU und Grüne zwar um eine moralische Angelegenheit("ist das Kopftuchverbot gut?"), aber die Kontroverse betrifft nicht die normativen Prämissen ("Selbstbestimmung ist gut"), sondern die faktischen Prämissen (Grüne: das Kopftuch ist ein Ausdruck der Selbstbestimmung der Muslima, CDU: das Kopftuch ist ein Ausdruck der Fremdbestimmung der Muslima).
usw.
Wenn die von mir angebrachten Überlegungen zutreffen, sollten wir uns diese Umstände immer wieder bewusst machen. Die Bewusstwerdung kann dann auf mindestens drei Ebenen der Spaltung der Gesellschaft den Wind aus den Segeln nehmen:
(1) Häufig haben beide Seiten einer politischen Debatte teilweise Recht. Es ist in einigen Fällen beispielsweise wahr, dass Frauenquoten die Chancengleichheit erhöhen und in anderen Fällen ist es wahr, dass Frauenquoten die Chancengleichheit verringern. Und es ist in manchen Fällen wahr, dass ein Kopftuch die Selbstbestimmung einer Frau schwächt und in anderen Fällen ist es wahr, dass ein Kopftuch die Selbstbestimmung einer Frau stärkt. Wenn wir das verstehen, kann das helfen, den anderen besser zu verstehen und mehr die Grautöne zu sehen.
(2) Häufig sind wir uns in moralischen Grundüberzeugungen ähnlicher als wir das glauben. Politische Diskussionen sind oft moralisch aufgeladen. Das lässt uns glauben, dass unsere moralischen Grundüberzeugungen ("Q ist gut") mehr differieren als sie das tatsächlich tun. Wenn Grüne AFDlern vorwerfen, dass ihnen die Sicherheit von Flüchtlingskindern egal ist und wenn AfDlern Grünen vorwerfen, dass ihnen die Sicherheit des deutschen Volkes egal ist, dann ist das oft schlichtweg falsch. Unsere geteilten moralischen Grundüberzeugungen sind weitaus zahlreicher als uns das moralisierende Politikdebatten oftmals glauben lassen wollen.
(3) Häufig ist eine Konsensfindung prinzipiell möglich. Der Wahrheitsgehalt von normativen Propositionen ("Q ist gut") lässt sich schwer ausmachen. Wie denn auch? Zum Glück betreffen unsere Dissense aber oftmals nur deskriptive Überzeugungen ("A ist Q"). Hier kann man den Wahrheitsgehalt zumindest prinzipiell ausfindig machen. Es kann zum Beispiel prinzipiell empirisch herausgefunden werden, inwiefern und wo eine Frauenquote der Chancengleichheit mehr nützt oder schadet. Und es kann prinzipiell ausfindig gemacht werden, ob Atomenergie unserem Ziel nach sicherer Energie mehr zuträglich oder abträglich ist. Das heißt, dass prinzipiell eine Konsensfindung bei politischen Debatten möglich ist. Dafür müssten die Debatten aber ent-moralisiert und wieder mehr auf eine argumentative Ebene gehoben werden.
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