Heute habe ich einen Vortrag zu den Seiten 86 bis 125 des Buches "Abortion Rights for and Against" gehalten. Einige Argumente sind ganz gut, viele finde ich aber aber nicht so stark. Hier können meine Notizen diesbezüglich nachgelesen werden:
Jeder, der das hier liest, hat bereits eine vorgefasste Meinung zum Thema Abtreibung. Warum also noch darüber diskutieren? Weil der Dialog hilft, eine respektvollere und rationalere Gesellschaft zu gestalten. Das Ziel des Autors ist es, allen Lesern verständlich zu machen, weshalb man der Meinung sein kann, Abtreibung sei (fast) immer moralisch unzulässig.
Also beginnen wir mit etwas sehr Unkontroversem: Wenn dich jemand willentlich umbringen würde, wäre das falsch, weil du ein Recht auf Leben besitzt. Auch der Grundsatz von der Gleichheit aller Menschen dürfte sehr unkontrovers sein. Wann aber beginnt das Recht zu leben? Nach dem Pro-Choice Lager bereits mit Anbeginn der Existenz!
Was sind „Abtreibungsrechte“? Rechte sind oft unterteilt in juristische Rechte und moralische Rechte. Abtreibungsrechte können von daher verstanden werden als der Vorschlag, dass Abtreibung moralisch oder rechtlich erlaubt ist. Dieser Text fokussiert sich primär auf Abtreibung als ein ethisches Problem respektive moralisches Recht.
In diesem Buch spricht ein Mann über die Pro-Life Seite. Darf er das überhaupt, wo er doch offensichtlich nicht auf dieselbe Weise von dem Thema betroffen ist wie eine Frau? Ja, denn Argumente allein aufgrund der Person zurückzuweisen, die sie äußert, wäre ein ad-hominem Argument!
Ein rationaler Dialog sollte auch mit neutralen Worten geführt werden. Das Wort „Fötus“ ist nicht neutral. Es ist zwar medizinisch korrekt, so wie die Bezeichnung „Gravida“ für schwangere Frauen, aber außerhalb des medizinischen Kontextes sagt niemand „Gravida“ zu einer schwangeren Frau. So wie beispielsweise auch alle davon reden, dass die Frau mit einem Baby, und nicht mit einem Fötus schwanger ist. Bis wir einen besseren Begriff gefunden haben, sollten wir also einen benutzen, der wissenschaftlich korrekt aber nicht entmenschlichend ist, z.B. menschliches Wesen im Uterus. Diese Bezeichnung ist zweifelsfrei zutreffend, denn ein Embryo gehört von Anbeginn seiner Existenz der Spezies Homo Sapiens an.
Laut Giubilini und Minerva (2013) und der Standardmeinung ist aber nicht der biologische-, sondern der Personenstatus die entscheidende Bedingung für ein Recht auf Leben. Daraus folgt nach G und M, dass wenn Abtreibung für ein menschliches Wesen im Uterus moralisch erlaubt ist, weil es noch nicht die Kriterien für eine Person erfüllt, auch Kindsmord an einem gleich weit entwickeltem menschlichen Wesen außerhalb des Uterus erlaubt sein muss. Diese Schlussfolgerung ist aber inakzeptabel, also muss eine von Giubilinis und Minervas Prämissen falsch sein.
Die Beiden gehen davon aus, dass es falsch ist ein geborenes Baby zu töten, weil dieses bereits den Wunsch besitzt weiterzuleben. Aber ein suizidaler Mensch hat keinen Wunsch weiterzuleben und trotzdem wäre es falsch, ihn umzubringen. Und ein Suizidbomber hat den Wunsch Menschen umzubringen. Was zählt ist also nicht, was Menschen wünschen, sondern was gut für sie ist! Weiter sind G und M auch noch der Meinung, dass „Schaden“ nur möglich ist, wo ihn jemand erleben kann. Was aber ist mit folgendem Fall: Ein Lobotomiepatient erleidet irreparable Hirnschäden und verbringt den Rest seines Lebens im Koma. Auch wenn er diese offensichtlich nie als solche erleben können wird, sind wir dennoch gerechtfertigt, von „(Hirn-)Schäden“ zu sprechen.
Außerdem impliziert der Mensch-Personen-Dualismus auch einen problematischen Körper-Selbst-Dualismus, nach dem zuerst der biologische Körper da ist und dann erst ein Selbst mit eigenen Gedanken und Wünschen entsteht. Wenn wir diesen Körper-Selbst-Dualismus akzeptieren, hieße das auch, dass eine Person mit dissoziativer Persönlichkeitsstörung mehrere „Selbste“ hat. Und ein Heilmittel gegen dissoziative Persönlichkeitsstörungen würde zum Beispiel 15 Leute umbringen.
Als nächstes soll die Auffassung untersucht werden, dass ein menschliches Wesen mit der Geburt zur Person wird und ein Recht auf Leben erhält. Nach dieser Auffassung ist Abtreibung zu jedem und Infantizid zu keinem möglichen Zeitpunkt moralisch erlaubt. Aber warum sollte die Geburt einen so großen moralischen Unterschied markieren? Auch Ratten werden geboren, und in unseren Laboren achten wir ihr Recht auf Leben bekanntlich nicht sehr hoch. Man könnte nun annehmen, dass (1) geborenwerden und (2) menschsein einzeln notwendig und zusammen hinreichend für den Personenstatus und für ein Recht auf Leben sind, aber das geht gegen die Auffassung Vieler, dass menschsein nur eine biologische Kategorie und mit ihr moralisch zu argumentieren speziesistisch ist. Und bezüglich des Geborenwerdens überlege man sich nur mal, eine uns ebenbürtige Spezies würde aus Eiern schlüpfen, anstatt geboren zu werden, würden wir ihnen allein aus diesem Grund das Personensein aberkennen? Wohl kaum.
Wenn es wirklich darauf ankommen sollte, ob ein menschliches Wesen innerhalb oder außerhalb des Mutterleibs ist, würde ein Fötus, der während einer Operation aus dem Uterus herausgenommen wird, kurzzeitig zur Person werden. Es ist nicht einsichtig, weshalb der Aufenthaltsort eines menschlichen Wesens moralisch entscheidend sein soll, etwas anderes ändert sich mit der Geburt aber zunächst nicht. Überhaupt: Wann genau während der Geburt werden wir denn zu einer Person? Wenn unser Körper mehr zur Hälfte aus dem Mutterleib herausragt, oder erst wenn die Geburt zu Ende ist?
Der Konventionsansatz besagt zwar, dass wir Infantizide verbieten sollten, weil es Kinder und Familien verstören könnte, zu wissen, dass ihr Bruder oder ihre Schwester nach der Geburt getötet wurden. Und Abtreibungen sollten deshalb erlaubt sein, weil so mithilfe Pränataldiagnostik genetische Krankheiten „eliminiert“ werden können. Dieser Ansatz ist aber inkonsistent: Auch durch Infantizide können genetische Krankheiten eliminiert werden und auch das Wissen, das ein ungeborenes Geschwisterteil getötet wurde, kann verstören.
Als Letztes wird Jose Luis Argument analysiert, dass der entscheidende Unterschied zwischen geborenen und nichtgeborenen menschlichen Wesen in der Fähigkeit zur sozialen Interaktion besteht. Aber das hieße ja, dass Zwillinge niemals abgetriebenen werden dürften, „Einlinge“ aber schon. Man könnte „soziale Interaktion“ auch als Fähigkeit zur Imitation begreifen, was nach Luis ein Mindestmaß an Selbst- und Fremdbewusstsein erfordert. Aber Stevie Wonder war nahezu blind und konnte deshalb auch lange Zeit nach seiner Geburt niemanden imitieren. Polly der Papagei hingegen kann (ohne ein Selbstbewusstsein zu besitzen!) prima Leute imitieren. Dürfen wir also den dreijährigen Stevie Wonder umbringen, Polly den Papagei jedoch nicht?
Vielleicht ist es auch das Recht auf körperliche Selbstkontrolle, das Abtreibung moralisch legitim macht, Infantizid hingegen nicht, dieses Argument betrifft aber nicht den Personenstatus des Fötus, wie schon Judith J. Thomson in ihrem bekannten Gedankenexperiment vom „unbewussten Geiger“ deutlich gemacht hat.
Für David Bonnin beginnt das Recht zu leben mit der Ausgestaltung von Wünschen nach der 25 bis 32.ten Schwangerschaftswoche. Damit ließen sich aber auch Infantizide rechtfertigen, da einige menschliche Wesen vor der 32.ten oder gar 25.ten Schwangerschaftswoche geboren werden, oder, im Falle einer geistigen Behinderung, erst sehr viel später ihre ersten Wünsche ausbilden. Selbst ein buddhistischer Mönch, der das Nirvana erreicht hat und nichts mehr wünscht, dürfte nach dieser Auffassung umgebracht werden.
Der oberste Gerichtshof der USA argumentierte in einer kontroversen Grundsatzentscheidung („Roe vs. Wade“), dass der Zeitpunkt, nach dem ein menschliches Wesen prinzipiell außerhalb des Uterus mit künstlicher Hilfe leben könnte, moralisch bedeutsam sei. Denn ab diesem Zeitpunkt kann er ein „bedeutungsvolles“ Leben außerhalb des Mutterleibs führen. Abgesehen vom Adjektiv „bedeutungsvoll“ argumentiert der Court hier in einem Zirkel. Was aber würde aus diesem Ansatz folgen? Der Gerichtshof müsste plötzlich jede Form von Abtreibung verbieten, wenn fortgeschrittene künstliche Brutkästen entwickelt werden und jedes ungeborene menschliche Wesen außerhalb des Uterus weiterleben kann. Und der Personenstatus eines menschlichen Wesens im Uterus müsste vom Aufenthaltsort der Mutter abhängen und wie weit dieser vom nächsten Krankenhaus entfernt ist, denn auch davon hängen seine Überlebenschancen außerhalb des Uterus ab.
Ein weiteres diskutiertes Kriterium ist die erste (spürbare oder tatsächliche) Bewegung im Mutterleib. Christopher Kaczor merkt zwar an, dass eine Person unter Vollnarkose lebendig ist, sich aber auch nicht bewegt. Damit verfehlt er aber das vorher von ihm so benannte Kriterium der ersten Bewegung. Eine Person unter Vollnarkose hat sich offensichtlich schon einmal bewegt.
Peter Singer ist ein bekannter Vertreter des Empfindungsvermögen-Ansatzes. Gegen diesen wird anargumentiert, dass es ein moralisches Vergehen wäre, über Jemanden schlimme Dinge zu erzählen, auch wenn dieser sich nicht um seine Reputation schert. Robert Nozicks Gedankenexperiment mit der Glücksmaschine zeigt überdies, dass es uns eben nicht nur um Glück, sondern auch um die objektive Realität des Erlebten geht. Und unter Vollnarkose habe ich weder ein Empfindungsvermögen noch Interessen, heißt das, dass ich währenddessen keine Person bin und getötet werden darf? Übrigens können auch Ratten Schmerzen empfinden, und niemand würde sagen, dass Wissenschaftler, die mit Ratten experimentieren, moralisch genauso verwerflich handeln wie Massenmörderer.
Andere meinen, dass Recht auf Leben beginnt, wenn das menschliche Wesen mehr wie ein „Baby“ und weniger wie ein „Klecks“ (englisch: blob) aussieht. Das hieße aber, dass stark verunstaltete ausgewachsene Menschen weniger Recht auf Leben hätten als die Wachsfiguren in Madame Tussaud´s.
Man könnte auch versucht sein zu sagen, dass so wie der „Gehirntod“ das Ende des Lebens markiert, so markiert auch das „Gehirnleben“ bzw. die Entwicklung des Gehirns den Anfang des Lebens. Aber während der „Gehirntod“ irreversibel ist, ist das fehlende „Gehirnleben“ eines Fötus nicht nur herstellbar, dieses Ereignis ist beim normalen Entwicklungsverlauf auch äußerst wahrscheinlich! Außerdem haben auch Tiere wie Würmer ein Gehirn, jedoch kein Recht auf Leben.
Nach diesem Standpunkt wächst der moralische Status eines menschlichen Lebewesens im Uterus graduell an, anstatt plötzlich von „Nicht-Person“ zu „Person“ überzuspringen. Kritik: Darf ein Frühgeborenes dann umgebracht werden, während ein Embryo kurz vor der Geburt nicht abgetrieben werden darf, wenn und weil Letzterer weniger weit entwickelt ist? Außerdem: Wenn moralische Grundrechte mit der graduellen Entwicklung zusammenhängen, warum sollte die daraufhin folgende radikale Entwicklung von Kindheit zum Erwachsenen irrelevant sein?
Es braucht also andere Ansätze, die ohne Rückgriff auf die graduelle Entwicklung des menschlichen Lebens erklären können, weshalb spätere Abtreibungen schlimmer sind als frühe. Erster Ansatz: (1) Der Embryo empfindet gegen Ende der Schwangerschaft auf jeden und am Anfang auf gar keinen Fall Schmerzen. Deshalb ist eine spätere Abtreibung schlimmer als eine frühere. (2) Umso einfacher eine lebensrettende Handlung für uns ist, desto höher ist unsere moralische Pflicht diese aufzuführen. Wenn ein menschliches Wesen im Uterus 8 Monate alt ist und es bis zur Geburt nur noch einen Monat dauert, ist unsere moralische Pflicht es auszutragen größer, als zu Beginn der Schwangerschaft. (3) Die Mutter-Embryo-Beziehung ist umso stärker, desto länger sie andauernd. Eine spätere Abtreibung schadet der Mutter mehr als eine frühe. Wenn eines dieser Argumente überzeugen kann, dann können wir argumentieren, warum spätere Schwangerschaftsabbrüche schlimmer sind als frühere,- ohne Grundrechte an den graduellen Entwicklungsstatus zu koppeln.
Dann gibt es noch den „zeitrelativen Interessensansatz“: Die Meisten würden zustimmen, dass man sich lieber dazu entscheiden sollte, einem 20-Jährigen das Leben zu retten, als einem menschlichen Wesen im Uterus. Aber warum ist das so? Wenn das Übel des Todes darin besteht, dass man seiner werthaften Zukunft beraubt wird, so ist der Tod des Fötus schlimmer als der des 20-Jährigen. Wir weißen diese Schlussfolgerung aber zurück, da das Jetzige und das zukünftige Ich des Embryos im Gegensatz zu dem des 20-Jährigen keine psychologische Verbindung besitzen. Für den 20-Jährigen ist es schlimmer zu sterben als für das Embryo, weil der 20-Jährige eine Vorstellung von sich in der Zukunft besitzt und diese verwirklichen möchte.
Daraus könnte man nun wiederum folgern, dass eine spätere Abtreibung schlimmer ist als eine frühe, weil ein menschliches Wesen kurz vor der Geburt erste Anzeichen für Interessen zeigt. Der Autor möchte aber dafür argumentieren, dass jede Form von Abtreibung moralisch unerlaubt ist. Deshalb unterscheidet er zwei Arten von Interessen: Ein objektives Interesse an einem bedeutsamen „Leben wie dem unseren“ hat schon das frühe Embryo. Ein subjektives Interesse im Sinne eines (selbst-)bewusst erlebten Interesses am Weiterleben hat aber nicht mal ein später Embryo, weshalb der zeitrelative Ansatz auf keinen Fall hilft Abtreibungen zu rechtfertigen.
Nach dem Kontinuitätsansatz von Derek Parfit zählt aber nicht die Identität sondern die zeitliche Kontinuität zwischen dem nichtgeborenen und dem ausgewachsenem menschlichen Wesen. Aber wenn wir über unseren eigenen Tod nachdenken, denken wir nicht über psychologische Kopien (Kontinuität), sondern über uns selbst (Identität) nach. Dagegen wiederum Patrick Lee: Ich muss mich einer Gehirn-OP unterziehen, um zu überleben, danach werde ich nicht mehr derselbe sein, aber höllische Schmerzen erleiden. Dass ich mich vor diesen Schmerzen fürchte, kann nur durch den Kontinuitätsansatz und nicht durch den Identitätsansatz erklärt werden. Also kann die Existenz des späteren-Ichs für das nicht mit diesem identische frühere-Ich bedeutsam sein, wenn die Entwicklung zwischen den beiden kontinuierlich verläuft.
Ryan und Lisa kaufen sich beide einen Prius, kurze Zeit darauf werden beide gestohlen. Der intrinsische Schaden ist für beide also gleich groß – ein neuer Prius. Für Ryan ist der situative Schaden aber höher, da er Uberfahrer ist und seine Existenzgrundlage verliert, während Lisa einfach auf ihren Zweitwagen umsteigen kann. Ähnlich ist der intrinsische Schaden für jeden Sterbenden gleich groß – das Leben. Aber situativ ist der Schaden nicht immer gleich, beispielsweise zwischen einer Mutter mit jungen Kindern und vielen Freunden und einem 80-jährigen Greis ohne weitere Verantwortungen oder Ambitionen im Leben. So können wir schließlich auch erklären, weshalb der Tod des 20-Jährigen schlimmer wäre als der des Embryos, obwohl letzterer noch „mehr vom Leben“ vor sich hat: Der 20-Jährige verliert mehr Dinge, an denen er Freude haben kann, sein Tod verursacht mehr Trauer bei den Bekannten und ohne ihn bleiben mehr Pflichten und Verantwortlichkeiten liegen. All diese Faktoren treffen nicht auf das ungeborene menschliche Wesen zu und können erklären, weshalb der Tod des 20-Jährigen schlimmer ist, obwohl er intrinsisch das Gleiche verliert und sogar weniger „Zukunft“ vor sich hat als das menschliche Wesen im Uterus.
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