Laut der Beckensteingrenze ist die Informationsmenge einer bestimmten Masse nicht linear zu dieser, sondern quadratisch von ihr abhängig – ganz einfach, weil jedes Teilchen prinzipiell mit jedem wechselwirken kann. Verdoppeln wir also die Masse eines Systems, dann stammt nur die Hälfte der jetzt notwendigen Information, um das neue System zu beschreiben, aus dieser Masse. Die andere Hälfte aber ist notwendig, um alle möglichen Wechselwirkungen zu beschreiben, die jetzt zwischen den beiden Systemhälften bestehen können. Wenn wir beispielsweise an einen Tisch denken, dann steckt die Information über den Aufbau des Tisches eben nicht (nur) in den Atomen, in die er zerlegt werden kann, sondern vor allem in den Wechselwirkungen, die bestehen, wenn der Tisch existiert.
Niemand wird bestreiten, dass die physikalischen Gesetze, mit denen z.B. Atome und ihre Wechselwirkungen beschrieben werden können, nicht auch in Tischen oder in
Gehirnen uneingeschränkte Gültigkeit besitzen müssen. Aber ein sehr großer Teil der weiteren Information (der Wechselwirkungen) existiert auf atomarer Ebene noch nicht. Der Ansatz
des Reduktionismus,
die Wirkungsweise komplexer Systeme vollständig durch die Analyse der Wirkungsweise einfacherer Systeme herausfinden zu können, ist also ungenügend. Das Ganze (der Tisch) ist mehr als die
Summe seiner Teile (die Atome).
Interessanterweise kann man Indizien für die Emergenz neuer Eigenschaften in komplexeren Systemen bereits an sehr einfachen quantenphysikalischen Systemen zeigen. Hier hatte ich mir bereits Gedanken darüber gemacht, dass der Spin keine Teilcheneigenschaft ist, sondern eine Eigenschaft einer Wechselwirkung eines Teilchens mit einem magnetischen Feld, mit dem es beobachtet wird. Also der Spin existiert erst, wenn in einem größeren System (beobachtetes Teilchen plus Messapparatur) diese Eigenschaft abgefragt wird.
Schaut man sich die Natur aus der Vogelperspektive an, dann beobachtet man wenige Dutzend physikalische Teilchenarten, die über hundert chemische Elemente, Millionen chemische Verbindungen und Billiarden Lebewesen konstituieren. Die physikalischen Teilchen eines Typs sind alle gleich, kennt man die Eigenschaften eines, dann auch die aller anderen desselben Typs. Aber kein Lebewesen, nicht einmal derselben Art, gleicht einem anderen. Entscheidend sind also wieder nicht (nur) die Teilchen, aus denen wir bestehen, sondern die Wechselwirkungen zwischen diesen Teilchen, die uns ausmachen.
Wenn ein System eine hohe Entropie hat, dann bewirkt die Änderung eines Mikrozustandes mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Änderung des Makrozustands. An den von außen messbaren Eigenschaften des Systems ändert das nichts. Wenn man in einem Gas ein Molekül durch ein anderes ersetzt, ändert sich an dem Zustand des Gases beispielsweise praktisch nichts.
Wenn ein System aber eine niedrige Entropie hat, kann ein und derselbe Makrozustand von viel weniger Mikrozuständen realisiert werden, deshalb führt a) eine Veränderung eines Mikrozustandes mit größerer Wahrscheinlichkeit zu einem anderen Makrozustand und b), da das System das ja vermeiden will, treibt es einen erhöhten Aufwand zu seiner Selbsterhaltung – es vergrößert dabei die Entropie seiner Umgebung. Wenn in einem Lebewesen beispielsweise in der DNA ein Atom seinen Platz verlässt oder ein Molekül zerstört wird, kann das Wesen später an Krebs erkranken und sterben.
Der enorme Zuwachs der Bedeutung ganz konkreter Wechselwirkungen macht den Unterschied. Der Wechsel in der Lage zweier Moleküle in einem Gas ändert an dessen Eigenschaften praktisch nichts, der Wechsel in der Lage zweier Moleküle in einem komplexen System kann einen von außen beobachtbaren völlig anderen Makrozustand bewirken.
Bildurheber: Kaneiderdaniel
Gastbeitrag von: Ralf Poschmann
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WissensWert (Dienstag, 29 Mai 2018 14:50)
Wenn ein Makrozustand durch nur wenige Mikrozustände gebildet werden kann, dann steigt u.U. die Zahl der möglichen Makrozustände an, denn die Gesamtzahl der möglichen (nicht der sinnvollen!) Mikrozustände ist ja dem Quadrat der Masse proportional. Von einem System mit hoher Entropie kann ich deshalb nur wenige Eigenschaften (Makrozustände) messen, weil es nur wenige hat. Bei einem Gas z.B. Temperatur, Druck und chemische Zusammensetzung. Dieselbe Masse mit niedriger Entropie als Mensch verkörpert, bietet unendlich mal mehr messbare Eigenschaften: Körpergröße, Länge der Beine, Augen- und Haarfarbe … Lage und Größe der Leberflecken. Ein solcher Leberfleck z.B. ist, obwohl die Atome, aus denen er sich zusammensetzt, praktisch ständig ausgetauscht werden, eine ziemlich konstante, messbare Eigenschaft. So konstant, dass die Hautärztin sich bei einer Untersuchung deren Lage und Größe notiert, denn Veränderungen verheißen u.U. für das Gesamtsystem nichts Gutes: Hautkrebs. Aufgrund der extrem niedrigen Entropie in Lebewesen gibt es bei ihnen derart viele Makrozustände, dass ich z.B. jeden Menschen von jedem anderen unterscheiden kann – obwohl sie sich bis auf Unterschiede im unteren Prozentbereich in den Mengen der einzelnen Atome nicht unterscheiden.