Das Multirealisierbarkeitsargument ist eines der klassischen Argumente in der Philosophie des Geistes. Es stammt von Hilary Putnam und wurde später durch Jerry Fodor modifiziert und generalisiert. Es war der entscheidende Auslöser für den Übergang von der Identitätstheorie zum Funktionalismus.
Die Identitätstheorie besagt, dass es für jeden mentalen Zustand M (Beispiel: Kopfschmerzen) einen Gehirnzustand G (Beispiel: Feuern von C-Fasern) gibt, der mit M identisch ist. "M" und "G" sind dabei nicht als einzelne Vorkommnisse (Token) zu verstehen, also bspw. M = der Kopfschmerz und G = der Gehirnzustand, die ich heute um 8:01 Uhr hatte. Vielmehr meinen "M" und "G" hier ein allgemeines Konzept (Type), also beispielsweise ein bestimmtes neuronales Muster oder eine bestimmte Art von Kopfschmerzen (Migräne).
Hilary Putnam (1967) entwickelte erstmals das Argument der multiplen Realisierbarkeit, das zeigen sollte, dass ein mentaler Zustand nicht mit einem Gehirnzustand type-identisch sein kann: Die Neurobiologie lehrt uns, dass Typen von mentalen Zuständen bei unterschiedlichen Lebewesen durch ganz verschiedene Gehirnzustände realisiert sein können. Die Neurophysiologie eines Lurches ist beispielsweise relativ verschieden zu der eines Menschen, sie haben also nicht dieselben G-Types. Trotzdem schreiben wir beiden gemeinsame M-Types zu, Menschen und Lurche können beispielsweise beide Schmerzen- oder Rotempfinden. Sie haben also gleiche mentale Zustände, aber verschiedene Gehirnzustände. Also muss die "Type-Identitätstheorie", nach der jeder M-Type nur mit einem, bestimmten G-Type identisch ist, falsch sein.
Die klassische "Type"-Identitätstheorie steht aber nicht nur einfach auf einer äußerst schwachen neurowissenschaftlich Grundlage. Die "Type"-Identitätstheorie ist sogar empirisch falsifiziert: Bei Experimenten mit Positronen-Emissions-Tomographie inhaliert der Proband einen radioaktiven Sauerstoff (oder auch Glukose). Danach wird die Konzentration des Stoffes in den unterschiedlichen Arealen des Gehirns mittels des PET gemessen. Ein größerer Verbrauch der Substanz lässt gleichzeitig auf eine höhere neuronale Aktivität schließen. In den aktiveren Teilen des Gehirns findet eine höhere Durchblutung statt. Aufgrund dieser Untersuchung konnte festgestellt werden, dass bei unterschiedlichen Personen derselbe M-Type zwar durch ähnliche, aber nicht durch die gleichen G-Types realisiert ist.
Sogar bei ein- und derselben Person können sich diese Korrelationen zwischen M-Types und G-Types mit der Zeit der Zeit dramatisch verändern. Nach Gehirnverletzungen z.B. können andere Teile des Gehirns die Funktionen des geschädigten Gewebes übernehmen. Trotzdem empfinden Patienten auch (gerade) nach einer solchen Gehirnverletzung Kopfschmerzen, auch wenn diese nicht mehr durch dieselben G-Types realisiert werden. Grund dafür ist die Plastizität des Gehirns. Schließlich würde aus der Type-Identitätstheorie folgen, dass Aliens und Roboter schon allein deshalb kein dem unseren vergleichbares mentales Leben haben könnten, weil ihr ‘Gehirn’ nicht aus Nervenzellen, sondern z.B. aus Silizium-Chips besteht.
Das Argument der Multirealisierbarkeit mentaler Zustände ist entscheidend für den Niedergang der klassischen "Type"-Identitätstheorie. Damit ist die konstitutive These der Identitätstheorie, neuronale und mentale Zustände seien identisch, aber noch nicht vom Tisch. Man kann immer noch behaupten, dass mentale Zustände und neuronale Zustände token-identisch sind. D.h. dass mein Kopfschmerz heute Morgen um 8:01 (M-Token) mit meinem damaligem Gehirnzustand (G-Token) identisch war. Diese Theorie ist als anomaler Monismus bekannt und empirisch plausibler. Trotzdem stellt sich noch die Frage, was die einzelnen M-Token zusammenhält, was sie zu verschiedenen Instanzierungen des gleichen Typen macht.
Die orthodoxe Antwort auf diese Frage war der Funktionalismus: Alle gleichartigen M-Token werden durch den gleichen funktionalen Zustand (Typ) F realisiert. Mein Kopfschmerz heute Morgen wurde beispielsweise durch die kausale Rolle realisiert, die mein Gehirn damals eingenommen hatte.
Jerry Fodor (1974) generalisierte das Argument der multiplen Realisierung, so dass es sich nicht nur gegen die Reduktion von M-Typen auf G-Typen, sondern gegen den wissenschaftstheoretischen Reduktionismus im Allgemeinen richtet. Der Reduktionismus behauptet, dass sich zumindest die Einzelwissenschaften (etwa Psychologie und Ökonomie) auf allgemeine Gesetze der Physik zurückführen lassen. Dahingegen räumt Jerry Fodor den Einzelwissenschaften einen autonomen Status gegenüber der Physik ein.
Aus dem Reduktionismus würde folgen, dass jedes einzelwissenschaftliche Gesetz "E" auf ein physikalisches Gesetz "P" zugeordnet werden kann, so dass gilt:
(1) Für alle x: Wenn x T ist, ist x auch P.
Dies ist laut Fodor aber äußerst unwahrscheinlich. Es gibt T-Token, deren Realisierung nicht einem einheitlichen P-Type zugeordnet werden kann. Ein offensichtliches Beispiel ist Greshams Gesetz: Wird das Wertverhältnis zwischen mehreren Währungen gesetzlich festgelegt, so verdrängt die stärkere Währung die schlechtere. Dieses Gesetz gilt unabhängig davon, woraus das Zahlungsmittel besteht bzw. gemacht ist (Gold, Nickel, Muscheln,...), d.h. unabhängig von der physischen Realisierungen. Das einzelwissenenschaftliche Greshams Gesetz T ist also unterschiedlich physisch realisiert, weshalb es nicht auf ein einheitliches physikalisches Gesetz T zurückgeführt werden kann und (1) und damit der Reduktionismus falsch sein muss. Würde man trotzdem eine Reduktion von T auf P versuchen, würde man gar nicht mehr erkennen, was allen x, die T sind, gemein ist.
Multiple Realizability in der Stanford Encyclopedia of Philosophy.
Mind and Multiple Realizability in der Internet Encyclopedia of Philosophy.
Jerry Fodor: Special sciences, S. 97–115
Jaegwon Kim: Supervenience and Mind
Hilary Putnam: Psychological Predicates, S. 37–48
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WissensWert (Mittwoch, 10 Oktober 2018 01:59)
Wenn etwa ein mentaler Zustand M durch ganz verschiedene physische Zustände P1 oder P2 oder … realisiert werden kann, warum kann man dann nicht den mentalen Zustand auf die Disjunktion der physischen Zustände reduzieren (M = P1 oder P2 oder …)? Jaegwon Kim diskutiert verschiedene Antworten (z. B. dass die Disjunktion unendlich sein könnte oder keine natürliche Art darstelle), meint sie jedoch alle zurückweisen zu können.
WissensWert (Samstag, 05 Januar 2019 22:44)
Für jeden Organismus x gilt: x instantiiert die mentale Eigenschaft M gdw.. x die physische Eigenschaft P instantiiert.
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Das heißt, es wird ein Gesetz postuliert, das mentale und physische Eigenschaften in Form eines universell quantifizierten Bikonditionals miteinander verbindet.[8] Die Korrelationsthese – und mit ihr die Identitätstheorie – ist jedoch mit einem sehr starken empirischen APOSTERIORISCHEN [IM GEGENSATZ ZU KRIPKES EINWAND] ausgesetzt, dem Einwand der mehrfachen Realisierbarkeit mentaler Eigenschaften.
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Dieser Einwand geht ursprünglich auf Putnam zurück, der in „The Nature of Mental States“ (1967) zu Recht bezweifelte, das sich allen mentalen Eigenschaften physische Korrelate eindeutig zuordnen lassen; viel plausibler sei es anzunehmen, dass mentale Eigenschaften auf multiple Weise (insbesondere bei verschiednene Spezies) realisiert seien. Fänden wir nur ein psychologisches Prädikat, das gleichermaßen auf z.B. Säugetiere und Tintenfische angewandt werden könne (wie z.B. hungrig zu sein), und wären die entsprechenden physischen Korrelate in beiden Fällen verschieden, so wäre die Identitätstheorie bereits gescheitert. Man muss aber noch nicht einmal verschiedene Tierarten miteinander vergleichen, um die Ablehnung der Korrelationsthese empirisch zu stützen. Denn selbst bei ein und derselben Person kann sich im Laufe des Lebens die Korrelation zwischen ihren mentalen und ihren neuronalen Zustände erheblich verändern, z.B. dann, wenn nach einer Gehirnverletzung bestimmte Funktionen des geschädigten Gewebes von anderen Teilen des Gehirns übernommen werden.
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[8] Auf dem Bestehen der Korrelationsthese basieren auch dualistische Positionen wie der Parallelismus, die Doppel-Aspekt-Theorie sowie nomologische Versionen des Interaktionismus; vgl. Kim (1996, 227-228)- Smart zufolge kann aus Sicht der Identitätstheorie nicht in einem strengen Sinne von Korrelation gesprochen werden: „You can not correlate something with itself“ (1959; 1970, 53). Diese These setzt jedoch die Korrektheit der Identitätstheorie bereits voraus.
Philoclopedia (Samstag, 17 August 2019 02:35)
https://philpapers.org/archive/LYRTMO.pdf