Viele werden Andreas Eschbach indirekt kennen – weil er das Buch Das Jesus-Video geschrieben hat, das Grundlage für den gleichnamigen Film war. Die Grundidee der Geschichte, jemand reist 2000 Jahre zurück, um Jesus zu filmen, weist Eschbach als einen SciFi-Autor aus. In späteren Bücher gibt es zwar immer noch phantastische oder wissenschaftliche Elemente, die Geschichten sind aber keine SciFi im ursprünglichen Sinn mehr. Charakteristisch ist, dass er jeweils ausführlich in populärwissenschaftlichem Stil Kenntnisse über das jeweilige Milieu bzw. Fachgebiet in seine Handlungen einbettet. So habe ich es in seinem Buch Eine Billion Dollar kennengelernt und so ist es auch in Der Nobelpreis.
Man erfährt eine Menge Details darüber, unter welchen Umständen Alfred Nobel die Nobelpreise (für Physik, Chemie, Physiologie oder Medizin, Literatur und Frieden) gestiftet hat und wie später – und noch immer umstritten – der Preis für Wirtschaftswissenschaften dazu kam. Das Auswahlverfahren wird beschrieben, der Ablauf der Auszeichungszeremonie, die Rahmenveranstaltungen, das Bankett und die Geheimnisse um dessen Speiseplan.
Ich fände es nicht fair, hier den Inhalt des Buches wiederzugeben, weil das ja die Spannung beim eigenen Lesen nehmen würde. Deshalb nur so viel: Andreas Eschbach hat eine doppelt fiktive Geschichte konstruiert, von der die Amazon-Redaktion fast schon zu viel verrät. Nach etwa 100 Seiten ändert sich der Erzähler. Während zunächst die Handlungen des Professor Hans-Olof Andersson aus der Dritten-Person-Perspektive beobachtet werden, wird danach in die Erste-Person-Perspektive gewechselt und das weitere Buch aus der Sicht von dessen Schwager Gunnar Fosberg, einem professionellen Industriespion, erzählt.
Als Fosberg gegen Ende mit der Nobelpreisträgerin Sofia Hernandez Cruz zusammentrifft, legt der Autor ihr die Gedanken in den Mund, die sicherlich einen großen Teil seiner Motivation und seines Anspruches gebildet haben, sich dieses Themas anzunehmen:
»Herr Forsberg,« sagte sie dann, »ich bin Wissenschaftlerin. Wissenschaftler werden weder von der Aussicht auf Geld motiviert noch von der Aussicht auf diese billige Art von Berühmtheit. Was sie antreibt, ist vor allem anderen der Wunsch, zu wissen. Nach dem, was Sie mir über Ihre, ähm, berufliche Tätigkeit erzählt haben, denke ich, dass das etwas ist, was Sie nachvollziehen können. Das zweite Motiv verstehen Sie dagegen offenbar nicht richtig: Anerkennung. Wissenschaftler wollen die Anerkennung ihrer Kollegen. Das ist es, was den Nobelpreis so besonders macht: Er stellt das Maximum dessen dar, was einem Wissenschaftler in dieser Welt an Anerkennung zuteil werden kann.« Ihr Blick wanderte zum Fenster, hinter dem das nächtliche Stockholm funkelte. »Das, ist die persönliche Seite. Daneben gibt es noch die Seite der Verantwortung, die man trägt. Der Nobelpreis ist der berühmteste, der angesehenste, der bedeutendste Preis der Welt. Er ist einzigartig. In der heutigen Zeit, in der wir keine Denkmäler mehr errichten, schafft er Helden, schafft Vorbilder, spornt andere, jüngere an, Höchstleistungen zu erbringen. Der Nobelpreis ist Ausdruck der Überzeugung, dass man etwas erreichen kann, wenn man es will, und dass die Anstrengung sich lohnt. So eine Institution darf man nicht leichtfertig beschädigen.«
Und eine halbe Seite später dann eine Kurzcharakteristik, was die besten Wissenschaftler von Durchschnittsmenschen unterscheidet:
»Es war ein Nachdenken, wie es einem selten im Leben begegnet. Ich begriff, dass hier ein rasiermesserscharfer analytischer Verstand ein Problem anging, gegen den mein eigener sich ausnahm wie ein Kindermesser neben einem Samuraischwert. Um die Nobelpreisträgerin herum war auf einmal eine Konzentration spürbar, von der ich immer noch glaube, dass man sie hätte messen können wie ein Magnetfeld.«
Eschbach verwebt noch einige weitere Themen zur Handlung in seinem Buch, unter anderem das Arbeitsgebiet der Nobelpreisträgerin. Diese wird ausgezeichnet, weil sie sich viele Jahre zuvor mit der Wirkungsweise chemischer Botenstoffe im Gehirn beschäftigt hat. Tatsächlich besteht ja hier einer der wesentlichen Unterschiede des Gehirns zum Computer:
»Ohne Zweifel, aber wie genau? Wie funktioniert das? Nicht wahr, die Frage ist doch, auf welche Weise genau diese Hormone unser Denken beeinflussen – denn nichts anderes tun sie. Die Pubertät setzt ein, und auf einmal finden wir Personen des anderen Geschlechts, die noch ein Jahr zuvor Luft für uns waren, interessant, faszinierend, unwiderstehlich – und zwar weil sie dem anderen Geschlecht angehören! Aber wie funktioniert das? Wie bringt uns ein chemischer Stoff dazu – denn nichts anderes ist ein Hormon: ein kompliziert aufgebauter chemischer Stoff-, völlig neue Gedanken zu denken? Völlig neue Bedürfnisse zu entwickeln? Und was sagt uns das über die Natur unseres Bewusstseins? Das ist der Gegenstand meiner Arbeit.«
Sofia Hernandez Cruz hatte Recht: Das Bild, das wir uns von der Welt machen, beschränkt sich nicht auf das Gehirn. Wir denken mit unserem ganzen Körper.
Diese beiden Passagen, die an zwei verschiedenen Stellen des Buchs stehen, haben mich an ein anderes Buch erinnert, an Kopflos von Charlotte Kerner.
Eine der fiktionalen Ebenen wird gegen Ende des Buchs aufgelöst, als Fosberg erstmals persönlich mit der Nobelpreisträgerin Sofia Hernandez Cruz zusammentrifft – bis dahin wusste man gar nicht, dass es überhaupt zwei Ebenen waren. An dieser Stelle hatte ich mich schon gefragt, wie Eschbach sein Buch zu Ende bringen wird. Ziemlich verblüffend.
Gastbeitrag von: Dr. Ralf Poschmann
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