„In einer Welt, die überflutet wird von belanglosen Informationen, ist Klarheit Macht.“ 

- Yuval Noah Harari

Machen Quanten Sprünge?

In Spektrum der Wissenschaften 4/2014 habe ich einen interessanten Artikel von David Tong gefunden. Online findet sich eine Version des Textes hier. David Tong ist Professor für Theoretische Physik in Cambridge. In seinem Artikel kritisiert er die häufig vertretene Ansicht, die Natur sei in ihrem Urgrund diskret aufgebaut:

Von dem deutschen Mathematiker Leopold Kronecker (1823-1891) stammt der Ausspruch: „Die ganzen Zahlen hat der liebe Gott gemacht, alles andere ist Menschenwerk.“ Er meinte damit, die Zahlen Null, Eins und so weiter spielten eine fundamentale Rolle in der Mathematik. Doch für heutige Physiker nimmt das Zitat eine Überzeugung vorweg, die sich in den letzten Jahrzehnten immer fester etabliert hat: Die Natur sei im Grunde diskret, die Bausteine der Materie und der Raumzeit ließen sich einzeln abzählen. Diese Idee geht auf die Atomisten der griechischen Antike zurück, gewinnt aber im digitalen Zeitalter zusätzliche Plausibilität. Viele Physiker stellen sich das Universum als einen gewaltigen Computer vor, in dem die physikalischen Gesetze als Algorithmus für diskrete Informationsbits dienen – wie der grüne Ziffernregen, den die Hauptfigur Neo am Ende des Films „Matrix“ an Stelle der vermeintlichen Realität sieht.

Diesen Gegensatz zwischen einer diskreten und einer analogen Beschreibung findet man an einigen Stellen in der Physik. Das vielen aus der Schulphysik vielleicht noch bekannteste Beispiel ist der Welle-Teilchen-Dualismus des Lichts. Je nachdem, welches Experiment bzw. welche Beobachtung man macht, erscheint einem Licht mal Wellen- und mal Teilchencharakter zu besitzen. Licht ist ein Sonderfall für elektromagnetische Strahlung, dieses Verhalten findet man folglich für alle Arten dieser Strahlung. Umgekehrt gilt aber auch für Teilchen, dass sie unter bestimmten Bedingungen Wellencharakter offenbaren (Stichwort:  Materiewelle).

Bei einigen physikalischen Phänomenen kennt man nur die kontinuierliche Beschreibung, z.B. bei der Gravitation, dort sucht man noch nach dem entsprechenden Teilchen, dem Graviton. Bei dem jüngst experimentell nachgewiesenen Higgs-Teilchen ist das entsprechende Higgs-Feld fester Bestandteil der Theorie. Bei anderen Phänomenen wird nur oder fast nur mit der diskreten Beschreibung gearbeitet. In Atomen eines chemischen Elements ist die Anzahl der Protonen genau festgelegt. Ausführlich zu einem konkreten Beispiel schreibt David Tong:

Ein weiteres Beispiel bietet die Spektroskopie, welche die Emission und Absorption von Licht durch Materie analysiert. Eine bestimmte Atomsorte vermag nur gewisse typische Wellenlängen auszusenden, die quasi einen Fingerabdruck des Atoms liefern. Im Gegensatz zu menschlichen Fingerabdrücken gehorchen die Atomspektren festen mathematischen Regeln, in denen ganze Zahlen eine entscheidende Rolle spielen. Die ersten Versuche, die Quantentheorie zu deuten, insbesondere durch den dänischen Physiker Niels Bohr (1885-1962), stellten denn auch die Diskretheit der Spektrallinien in den Mittelpunkt.

Doch Bohr behielt nicht das letzte Wort. Der österreichische Theoretiker Erwin Schrödinger (1887-1961) entwickelte 1925 einen anderen Ansatz, der auf einem Wellenmodell beruht. Die Gleichung, die solche Quantenwellen beschreibt, enthält keine ganzen Zahlen, sondern nur kontinuierliche Größen. Erst wenn man die Schrödinger-Gleichung für ein spezielles System löst, geschieht ein kleines mathematisches Wunder. Im einfachen Fall des Wasserstoffatoms umkreist ein Elektron ein Proton in ganz speziellen Abständen. Die diskreten Umlaufbahnen definieren die charakteristischen Spektrallinien. Das Atom entspricht einer Orgel, die eine diskrete Tonfolge erzeugt, obwohl die Luft sich kontinuierlich bewegt. Zumindest für das Atom gilt, unter Bezugnahme auf Kroneckers Ausspruch: Gott hat die ganzen Zahlen nicht gemacht. Er schuf kontinuierliche Größen, und der Rest resultiert aus der Schrödinger-Gleichung.

Demnach sind die ganzen Zahlen nicht die Inputs der Theorie, sondern Outputs. Sie stellen ein Beispiel für eine so genannte emergente Größe dar. Somit trifft die Bezeichnung „Quantenmechanik“ eigentlich nicht zu, denn die Theorie ist im Grunde nicht quantenhaft. Erst die durch die Theorie beschriebenen Prozesse formen in Systemen wie dem Wasserstoffatom diskrete Resultate aus einer tiefer liegenden Kontinuität.

Was vielleicht noch überraschender ist: Auch die Existenz von Atomen oder Elementarteilchen ist kein Input unserer Theorien. Physiker lehren gewöhnlich, die Natur sei aus diskreten Teilchen wie Elektronen oder Quarks zusammengesetzt. Das ist falsch. Die Bausteine unserer Theorien sind nicht Teilchen, sondern Felder: kontinuierliche Objekte, die den Raum ähnlich erfüllen wie Gase oder Flüssigkeiten. Bekannte Beispiele sind Elektrik und Magnetismus, doch es gibt auch ein Elektronfeld, ein Quarkfeld, ein Higgsfeld und einige mehr. Was wir fundamentale Teilchen nennen, sind gar keine grundlegenden Objekte, sondern Kräuselungen kontinuierlicher Felder.

Wieso halten dann andere Physiker an den Vorstellungen von einer diskreten Welt fest? Meiner Meinung nach begehen *beide* „Fraktionen“ denselben Denkfehler: Wenn die eine Seite ein Phänomen oder (fast) alle Phänomene mit einer kontinuierlichen Theorie beschreiben kann, nimmt sie an, die beschriebene Wirklichkeit wäre kontinuierlich. Für die andere Seite gilt ähnlich: Aus einer diskreten Beschreibung wird auf eine diskrete Realität geschlussfolgert. Es ist aber nur die Beschreibung entweder kontinuierlich oder diskret, die Welt muss es nicht sein. In vielen Bereichen der Technik ist das gängige Praxis: Analoge Größen werden digitalisiert, um mit ihnen Berechnungen machen zu können.

Der Welle-Teilchen-Dualismus wurde (scheinbar) mit den Wellenfunktionen der Quantenmechanik (siehe Schrödingergleichung) beerdigt. Damit hat man aber (scheinbar) ein neues Paradoxon erzeugt: Das des Kollapses der Wellenfunktion, für das es viele verschiedene Interpretationen gibt. Tatsächlich scheint es mir aber auch hier so zu sein, dass sich das Paradoxon damit erklären lässt, dass der Beobachter seine Perspektive wechselt: Vor dem Eintreten eines Ereignisses kann er nur die Wahrscheinlichkeiten verschiedener Ausgänge kennen, danach weiß er um das konkrete Resultat. Auch hier wird von einer wellenhaften Beschreibung (vorher) zu einer diskreten Beschreibung (danach) gewechselt. Hier ist eins ganz sicher (tautologisch): Man kann seine Beobachterposition nicht verlassen und entweder hat man ein Ereignis beobachtet oder (noch) nicht. – Aber das bedeutet zunächst nichts weiter, als dass man in bestimmten Fällen nicht die Wahl hat, ob man den Wellen- oder den Teilchenaspekt „sehen“ kann.

Seinen argumentativen „Höhepunkt“ hat der Artikel in folgendem Absatz:

Ein weiteres Beispiel für eine ganze Zahl betrifft die Anzahl der Raumdimensionen, die wir beobachten, nämlich drei. Aber der prominente Mathematiker Benoît Mandelbrot (1924-2010) wies darauf hin, dass Raumdimensionen keine ganze Zahl ergeben müssen. Die Küstenlinie von Großbritannien etwa hat eine Dimension von rund 1,3. Außerdem sind in vielen Ansätzen zu einer vereinheitlichten Theorie der Physik, etwa in der Stringtheorie, die Raumdimensionen nicht eindeutig definiert: Sie können entstehen oder vergehen. Ich wage zu behaupten, dass es in der gesamten Physik nur eine echte ganze Zahl gibt, die Eins. Denn die physikalischen Gesetze beziehen sich auf nur eine Dimension der Zeit. Ohne exakt eine Zeitdimension scheint die Physik widersprüchlich zu werden.

Das ist wieder derselbe Denkfehler: Die krummen Dimensionen in der mathematischen Beschreibung von Kurven sagen doch nichts aus über die Raumdimensionen in der Wirklichkeit. Und mit dieser Argumentation bzgl. der Zeit dann noch zu behaupten, in der ganzen Physik gäbe es nur eine ganze Zahl, die Eins, erscheint mir schon reichlich gewagt.

Gastbeitrag von: Dr. Ralf Poschmann

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