Die Standardanalyse des Wissens besagt, dass Wissen gerechtfertigte, wahre Meinung ist. D.h. ein Subjekt S weiß, dass p, gdw.:
W1: p wahr ist (Wahrheit).
W2: S glaubt, dass p (Überzeugung).
W3: S hat gute Gründe zu glauben, dass p (Rechtfertigung).
Edmund Gettier entwarf jedoch zwei sog. Gettier-Fälle, in denen ein Subjekt S die gerechtfertigte, wahre Meinung hat, dass p, jedoch nicht weiß, dass p.
Beispiel: Der Unternehmer Smith hat zwei zuverlässige Angestellte Meier und Müller. Smith sieht, wie Meier aus einem Ford steigt und Meier erzählt Smith, dass er gerade einen Ford gekauft hat. Smith ist also gerechtfertigt anzunehmen:
(a) Meier besitzt einen Ford.
Und folgert daraus deduktiv:
(b) einer meiner Angestellten besitzt einen Ford.
Tatsächlich ist es aber Müller und nicht Meier, der einen Ford besitzt. Meier hat Smith ausnahmsweise angelogen. Der Satz (b) ist aber dennoch wahr. Somit besitzt Smith die wahre, gerechtfertigte Überzeugung, dass (b). Smith scheint aber trotzdem nicht zu wissen, dass (b), da (b) aus (a) deduziert wurde und (a) unwahr ist. Wenn das zutrifft, dann ist die Standardanalyse unzureichend.
Darauf kann man nun verschiedenartig reagieren:
1. bestreiten: Man bestreitet, dass die Gettier-Fälle Gegenbeispiele sind.
2. ergänzen: Man akzeptiert die Gettier-Fälle als Gegenbeispiele. Und man versucht die Standardanalyse durch eine weitere Bedingung W4 zu retten.
3. ersetzen: Man akzeptiert die Gettier-Fälle als Gegenbeispiele. Und man versucht die Standardanalyse durch eine andere Bedingung W3´ zu retten.
Die Widerlegbarkeits-Theorie des Wissens folgt der zweiten Strategie. D.h. sie akzeptiert die Gettier-Fälle als Gegenbeispiele und meint, dass die Standardanalyse um eine vierte Bedingung W4 ergänzt werden muss.
S weiß, dass p, gdw:
W1: p wahr ist,
W2: S glaubt, dass p, und
W3: S gerechtfertigt ist zu glauben, dass p.
W4: S’ Rechtfertigung nicht widerlegbar ist.
Diese Analyse scheint zumindest unser anfängliches Beispiel zu entkräften: Gemäß der Widerlegbarkeits-Theorie weiß Smith nicht, dass (b), da (a) die Rechtfertigung für (b) und (a) widerlegbar ist.
Was aber bedeutet "Widerlegbarkeit" genau?
Beispiel: S sieht, wie jemand ein Buch aus der Bibliothek entfernt, indem er es unter dem Mantel versteckt hinausträgt. Da S sicher ist, dass es sich bei dem Mann um Tom Grabit handelt, den er aus seinen Vorlesungen gut kennt, sagt er:
(p) Ich weiß, dass Tom Grabit das Buch gestohlen hat.
Aber angenommen, es gilt auch:
(q) Mrs. Grabit, die Mutter von Tom, hat ausgesagt, Tom sei am betreffenden Tage gar nicht in der Stadt gewesen. Tom habe aber einen eineiigen Zwillingsbruder, John, der an diesem Tage in der Bibliothek gewesen sei.
S hat gute Gründe e zu glauben, dass p, d.h. dass Tom Grabit das Buch gestohlen hat:
· S
sieht, wie jemand ein Buch aus der Bibliothek entfernt, indem er es unter dem Mantel versteckt hinausträgt.
· S
hält die Person, die er sieht, für Tom Grabit.
· S
kennt Tom Grabit gut aus seinen Vorlesungen.
Also gilt: (i) S glaubt, dass p und (ii) S ist gerechtfertigt zu glauben, dass p. Wenn außerdem (iii) gilt, dass p wahr ist, scheint S also zu wissen, dass p.
Aber: S weiß das aber nicht; S weiß nicht, dass Tom Grabit das Buch gestohlen hat.
Denn: S’ Rechtfertigung wird durch die Aussage von Mrs. Grabit widerlegt. S’ Rechtfertigung für die Überzeugung, dass p, ist deshalb widerlegt, weil Folgendes gilt: S hat gute Gründe e für die Annahme, dass p. Aber: Es gibt eine – S nicht bekannte – wahre Aussage q, so dass gilt: e und q zusammen rechtfertigen S nicht, p zu glauben.
Noch einmal: S’ Rechtfertigung für die Überzeugung, dass p, ist widerlegt, wenn:
· S
zwar gute Gründe e für die Annahme hat, dass p, wenn es aber
· eine
– S nicht bekannte – wahre Aussage q gibt, so dass gilt: e und q zusammen rechtfertigen S nicht, p zu glauben.
Was aber, wenn außerdem wahr ist:
(r) Mrs. Grabit ist geistig verwirrt, und Tom hat gar keinen Zwillingsbruder.
Dann gilt doch offenbar: e und q zusammen rechtfertigen S nicht, p zu glauben.
Aber es gilt auch: e, q und r zusammen rechtfertigen S wieder, p zu glauben.
In diesem Fall widerlegt q S’ Rechtfertigung also nur scheinbar.
Es gilt also, echte von nur scheinbaren Widerlegungen zu unterscheiden.
Vorschlag: Wenn S aufgrund von e gerechtfertigt ist zu glauben, dass p, dann wird diese Rechtfertigung durch die wahre Aussage q nur scheinbar widerlegt, wenn es eine weitere Aussage q′ gibt, für die gilt:
(i) e
& q rechtfertigen S nicht, p zu glauben
(ii) e & q & q′ rechtfertigen S aber wieder, p zu glauben, und zwar in demselben Sinn, in dem e S rechtfertigte, p zu glauben.
Die verbesserte Widerlegbarkeits-Theorie des Wissens lautet also:
S weiß, dass p, gdw:
W1: p wahr ist,
W2: S glaubt, dass p, und
W3: S gerechtfertigt ist zu glauben, dass p.
W4: es für jede wahre Aussage q, für die gilt: e & q rechtfertigen S nicht, p zu glauben,
eine weitere wahre Aussage q* gibt, für die gilt: e & q & q* rechtfertigen S wieder, p zu glauben, (und zwar in demselben Sinn, in dem e S rechtfertigte, p zu glauben.)
Aber: Nehmen wir an, Gert liest in der Zeitung, ein Führer der Bürgerrechtsbewegung sei ermordet worden. Der Artikel wurde von einem Augenzeugen geschrieben, der wahrheitsgemäß über das Ereignis berichtet hat. Gert glaubt, was er liest, und ist in seiner Überzeugung offenbar auch gerechtfertigt. Um Rassenunruhen zu vermeiden, haben sich allerdings alle anderen Augenzeugen verschworen, das Geschehene zu leugnen und stattdessen zu behaupten, dem Führer der Bürgerrechtsbewegung gehe es nach wie vor gut.
Alle Kollegen von Gert haben nicht nur den Artikel gelesen, sie haben auch die gegenteiligen Behauptungen der anderen Augenzeugen gehört und sind deshalb nicht gerechtfertigt zu glauben, der Führer der Bürgerrechtsbewegung sei ermordet worden. Weiß Gert, der nur durch Zufall nichts von den gegenteiligen Behauptungen gehört hat, nach der verbesserten Widerlegbarkeits-Theorie trotzdem, dass der Führer der Bürgerrechtsbewegung ermordet worden ist?
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