Eine Grundunterscheidung in der Debatte um Theorienreduktion betrifft die zwischen sukzessiven Reduktionen und interlevel Reduktionen.
Eine sukzessive (auch: diachrone) Reduktion betrifft i.d.R. das Verhältnis von historisch aufeinanderfolgenden Theorien. Diese haben meistens einen sich überschneidenden Gegenstandsbereich, der dann von der Reduktion betroffen ist.
Beispiel 1: Die Spezielle Relativitätstheorie ist sukzessiv reduzierbar auf die historisch vorangegegangene klassische Mechanik im Limes Geschwindigkeit à 0.
Beispiel 2: Die Quantenmechanik ist evtl. sukzessiv reduzierbar auf die historisch vorangegangene klassische Mechanik im Limes hoher Quantenzahlen.
Der sukzessive Reduktionsbegriff enthält also zwei Bedeutungskomponenten: den des Zurückführens und den des Verringerns (i.S.v: Verkleinern, Vereinfachen).
Beispiel 1 & 2: Die Spezielle Relativitätstheorie und die Quantenmechanik werden bei ihrer sukzessiven Reduktion auf die klassische Mechanik nicht nur auf diese zurückgeführt, sondern ihr Geltungsbereich auch massiv verkleinert.
Die neuartigen Gesetze der SRT und der QM bei hohen Geschwindigkeiten oder niedrigen Quantenzahlen gehen dabei also komplett verloren. Das ist aber intendiert, da es ja um die Frage geht, ob sich die mathematischen Vorhersagen der SRT und QM im Geltungsbereich der klassischen Mechanik dieser annähern.
Dies ist eine Frage für Physiker, für Wissenschaftsphilosophen ist interessanter:
Eine interlevel (auch: synchrone) Reduktion betrifft das Verhältnis von verschiedenen Gegenstandsbereichen, die dann von der Reduktion betroffen sind.
Klassische Beispiele: Die Biologie könnte interlevel reduzierbar auf die Chemie sein, die Chemie auf die Physik, die Soziologie und Logik auf die Psychologie usw.
Der interlevel Reduktionsbegriff impliziert somit eine Supervenienzbeziehung: Die Gegenstände der Disziplin A sind durch die Gegenstände der Disziplin B vollständig bestimmt: A-Unterscheidbarkeit impliziert B-Unterscheidbarkeit.
Häufiger Grund: Die Gegenstände der Disziplin A bestehen aus nichts anderem als aus Gegenständen der Disziplin B. Die Makrogegenstände werden also auf ihre Mikrokonstituenten reduziert. Man spricht von einer "Mikroreduktion".
Mikroreduktionen erlauben Existenzhierarchien. Ein Beispiel: Populationen à Lebewesen à Zellen à Moleküle à Atome à Elementarteilchen à Strings.
Also: Es gibt nur deshalb unterschiedliche Moleküle, weil diese aus unterschiedlichen Atomen aufgebaut sind. Und es gibt nur deshalb unter-schiedliche Atome, da diese aus unterschiedlichen Nukleonen aufgebaut sind.
Daraus folgt: Die Eigenschaften der komplexeren Teilchenfamilie A (zB Molekül) supervenieren über die Eigenschaften der Teilchenfamilie B (zB Atom).
Aber: Supervenienz ist keine hinreichende Bedingung für Reduzierbarkeit!
Beispiel: Die Supervenienztheorie des Mentalen kann beinhalten, dass mentale Eigenschaften irreduzibel gegenüber physischen Eigenschaften sind.
Eine ontologische Reduktion ist eine Form der interlevel Reduktion. Entität A ist auf Entität B ontologisch reduzierbar, gdw. B und A substantiell identisch sind.
Beispiel 1: Die Chemie ist ontologisch reduzierbar auf die Physik, gdw. chemische Entität der Sache nach nichts weiter sind als physikalische Entitäten.
Beispiel 2: Die Logik ist ontologisch reduzierbar auf die Psychologie, gdw. logische Sachverhalte ihrem Wesen nach psychologische Sachverhalte sind.
Eine ontologische Reduktion ist offenbar nur dann möglich, wenn:
1. Entitäten der Art B nur aus Entitäten der Art A konstituiert sind.
2. Bei dieser Konstituierung keine neuen Eigenschaften auftreten.
In diesem Sinne ist die Chemie ontologisch reduzierbar auf die Chemie. Denn:
1. Moleküle sind nur aus Atomen zusammengesetzt.
2. Bei dieser Zusammensetzung treten keine neuen Wechselwirkungen auf.
Alle für die Zusammensetzung relevanten Kräfte sind "alte" physikalische Kräfte.
Man könnte sagen: Die Chemie ist ein Teilgebiet der Physik.
Eine epistemische Reduktion ist eine Form der interlevel Reduktion. A ist auf A epistemisch reduzierbar, gdw. Wissen über A mit Wissen über B identisch ist.
Annahme: Wissen über A-Entitäten ist in den für B gültigen Gesetzen enthalten.
Beispiel 1: Die Biologie ist epistemisch reduzierbar auf die Chemie, gdw. Wissen über Gesetze der Biologie identisch ist mit Wissen über Gesetze der Chemie.
Eine epistemische Reduktion ist nach Ernst Nagel nur dann möglich, wenn:
1. Verbindbarkeitsbedingung: Der Begriff B* kann durch einen logisch äquivalenten Begriff A* ausgedrückt werden. Sodass gilt: A* ↔ B*.
Dazu benötigt es Sätze, die die Korrespondenz von A*- zu B*-Begriffen anzeigen.
Korrespondenzsatz: Der biologische Begriff "Hämoglobin" kann mittels chemischer Begriffe ausgedrückt werden, indem man die Strukturformel angibt.
2. Ableitbarkeitsbedingung: Die A`-Gesetze sind in den B`-Gesetzen logisch enthalten bzw. lassen sich aus diesen logisch ableiten. Sodass gilt: A' → B'.
Dazu muss man aufzeigen, dass A´-Gesetze Spezialfälle von B´Gesetzen sind.
Beispiel: Wenn die Mendelschen Regeln aus der Quantenmechanik ableitbar wären, dann würde es sich um einen Spezialfall der Quantenmechanik handeln.
Um nun die Gesetze der Vererbung aus den Gesetzen der Quantenmechanik abzuleiten, benötigt man: (a) die B´-Gesetze der Quantenmechanik, (b) die Korrespondenzsätze zu den entsprechenden A-Gesetzen der Genetik und (c) die Systemspezifikation, auf die man die Quantenmechanik anwenden will.
Also: Die epistemologische Reduktion der A-Entitäten auf B-Entitäten läuft so ab:
Aus:
i. B-Gesetze &
ii. bikonditionale Korrespondenzsätze für A-Begriffe &
iii. Systemspezifikationen.
lassen sich logisch ableiten:
iv. A-Gesetze.
Anmerkungen:
(1) Die epistemologische Reduktion kann ohne (c) Systemspezfikation nicht funktionieren. Denn ein Gesetz kann keine Aussagen über ein bestimmtes System treffen, wenn nicht angegeben ist, um welches System es sich dabei handelt.
(2) Die epistemologische Reduktion ist eine Typenreduktion. Denn die bikonditionalen Korrespondenzsätze (b) identifizieren Eigenschaftstypen.
(3) Die epistemologische Reduktion ist nicht notwendig eine Erklärung für B-Gesetze. Denn ein Teil der Prämissenmenge (a) bis (c) kann nicht als erklärungskräftig, sondern erklärungsbedürftig angesehen werden.
Eine explanatorische Reduktion ist eine Form der interlevel Reduktion. B ist auf A explanatorisch reduzierbar, gdw. B durch A erklärt werden kann.
Man spricht deshalb auch von einer "reduktiven Erklärung".
Beispiel 1: Biologische Entitäten sind explanatorisch reduzierbar auf chemische Entitäten, gdw. sie durch chemische Entitäten erklärt werden können.
Deduktiv-Nomologisches Modell: B kann durch A erklärt werden, gdw. sich B durch A unter Hinzunahme von sog. Antezedensbedingungen deduzieren lässt.
Wenn das Deduktiv-Nomologische Modell bedingungslos gelten würde, dann wären epistemische und explanatorische Reduzierbarkeit ein- und dasselbe.
Aber: Das DN-Modell gilt sicher nicht für alle wissenschaftliche Erklärungen.
Beispiel 2: Biologische Erklärungen sind häufig induktiv und differenzieren nicht eindeutig zwischen Antzendensbedingungen und Gesetzesaussagen. Trotzdem sind biologische Erklärungen sicher wissenschaftliche Erklärungen.
Eine methodologische Reduktion ist eine Form der interlevel Reduktion. B ist auf A method. reduzierbar, gdw. beide mit denselben Methoden erforscht werden.
Beispiel 1: Biologische Entitäten sind methodologisch reduzierbar auf chemische Entitäten, gdw. sie durch rein chemische Methoden erforscht werden können.
Aber: Methodologische Reduktionen sind meistens unmöglich. Die Evolution der Arten ist vielleicht ein chemischer Vorgang und kann chemisch erklärt werden. Aber trotzdem kann sie nicht mit den Methoden der Chemie erforscht werden.
Eine funktionelle Reduktion ist eine Form der interlevel Reduktion. B ist auf A funktionell reduzierbar, gdw. A und B die gleichen Funktionen besitzen.
Beispiel: Biologische Entitäten sind funktionell reduzierbar auf chemische Entitäten, gdw. beide durch die gleiche kausale Rolle definiert sind.
Beispiel 2: Mentale Entitäten sind funktionell reduzierbar auf Physische Entitäten, gdw. beide durch die gleiche kausale Rolle definiert sind.
Anmerkung: Explanatorische und funktionelle Reduktionen sind sicher in vielen, nach Expertenmeinungen womöglich aber nicht in allen Fällen identisch.
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