Hans Rosling ging als Kind immer gerne in den Zirkus. Ihn faszinierten vor allem die Schwertschlucker, die das Unmögliche möglich zu machen schienen. Zuhause versuchte er dann selbst, sich einen stabförmigen Gegenstand in den Rachen zu stecken, jedoch ohne Erfolg. Doch dann verrat ihm jemand, er müsse es statt mit einem runden Gegenstand mit einem flachen Gegenstand probieren. Und siehe da, einen flachen Gegenstand konnte er mit ein wenig Übung schlucken. Da Unmögliche ist doch möglich – wenn man nur weiß, wie!
Später wurde Rosling Professor für Internationale Gesundheit am Karolinska Institut in Schweden. In groß angelegten Tests stellte er 12.000 Menschen in verschiedenen Ländern 13 Fragen mit je drei Antwortmöglichkeiten. Die Fragen testeten das Wissen der Teilnehmer bezüglich weltweiten Entwicklungen, etwa in Bezug auf Bildung, Einkommen, Lebenserwartung, Demographie, Biodiversität und Klimaerwärmung. Wenn keiner der Teilnehmer irgendeine Ahnung von der Welt hat, kann man aufgrund der drei Antwortmöglichkeiten trotzdem noch mit einem Drittel richtige Antworten rechnen.
Aber zu Roslings großem Erstaunen hatten die meisten Teilnehmer weniger als ein Drittel der Fragen richtig. Dabei war es irrelevant, ob ein Teilnehmer bildungsfern oder ein hochdozierter Mann auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos war. Das heißt: Wenn man eine Reihe von Affen zufällig auf eine der Antworten hätte zeigen lassen, hätten sie eine bessere Trefferquote gehabt als die meisten internationalen Politiker, die hauptberuflich mit den internationalen Entwicklungen zu tun haben. Mehr noch: Die Mehrheit der Befragten lag nicht nur irgendwie falsch, sie schätzten die soziale Lage der Welt systematisch schlechter ein als sie es tatsächlich ist.
Wie konnte das sein? Nach Rosling beruht unser Weltverständnis auf längst veralteten Daten und Bildern aus schlechteren Zeiten. Wer nüchtern und sachlich Fakten und Daten sucht oder vermittelt, droht in der Informationsflut unterzugehen. Wirkungsmächtiger in einer aufmerksamkeitsökonomischen Gesellschaft sind emotionale Botschaften, dramatische Berichte oder Dringlichkeitsappelle. Rosling kritisiert in Factfluness die Oberflächlichkeit, mit denen Medien häufig an unsere Urinstinkte appellieren und alte Vorurteile zementieren, statt veraltetes Wissen aufzufrischen.
Unsere Urinstinkte sind auch ein Grund dafür, dass wir Dinge überdramatisieren, statt sie differenziert zu betrachten. Rosling entschloss sich 2005 dieser Ignoranz etwas entgegenzusetzen und gründete zusammen mit seinem Sohn und seiner Schwiegertochter die Gapminder-Stiftung. Diese möchte unser Blick auf die Welt in ein rechtes Licht rücken. Genauso wie wir instinktiv annehmen, dass ein Mensch kein Schwert schlucken kann, täuschen uns unsere Instinkte auch über die tatsächliche Lage der Menschheit hinweg.
Als "Instinkt der Kluft" bezeichnet bezeichnet Rosling die Versuchung, aufgrund eines bestimmtes Sachverhaltes die Welt in zwei Gruppen einzuteilen, zwischen denen ein tiefer Abgrund klafft: zwischen Arm und Reich, Entwickelt und Unterentwickelt, Gebildet und Ungebildet. Ein Blick in die Statistiken zeigt, dass es diese Zweiteilung tatsächlich einmal gab. Aber die Statistiken sind aus dem Jahre 1965! In der Zwischenzeit hat sich viel getan. Inzwischen leben beispielsweise drei Viertel der Menschen in Ländern mit mittlerem Einkommen. Rosling plädiert dafür, die Welt nicht in Arm und Reich einzuteilen, sondern in vier Einkommensstufen zu gliedern. Zur untersten Ebene zählen 1 Milliarde Menschen, die von 1 Dollar Einkommen pro Tag leben müssen. Auf der zweiten Stufe leben 3 Milliarden, die immerhin das Vierfache an Einkommen, also 4 Dollar zur Verfügung haben. Auf der nächsthöheren Stufe haben 2 Milliarden Menschen ihr Einkommen erneut vervierfacht: 16 Dollar pro Tag. Die vierte und oberste Stufe zählt 1 Milliarde Menschen, die mit mindestens 64 Dollar Einkommen pro Tag als wohlhabend angesehen werden. Insbesondere die letzte Gruppe, zu denen auch viele von uns zählen dürften, tut sich Rosling zufolge schwer, die Fortschritte der übrigen 6 Milliarden Menschen anzuerkennen.
Allein in den letzten zwanzig Jahren hat sich das Niveau der extremen Armut auf der Welt nahezu halbiert. Der materielle Wohlstand ist in vielen Entwicklungs-ländern massiv angestiegen, Puerto Rico oder Südkorea haben mittlerweile ein höheres BIP pro Kopf als Spanien! Auch die Kindersterblickeits- und Geburtenraten in den Entwicklungsländern sanken rasant und passen sich immer mehr an denen in den Industrieländern an. Die Kluft zwischen Industrie- und Entwicklungsländer existiert noch in unseren Köpfen - aber immer weniger in der Welt!
Die Leute auf dem Weltwirtschaftsforum schätzten die Daten aber nicht nur falsch, sondern durchweg zu pessimistisch ein. Und das, obwohl sich Rosling zum großen Teil auf Daten von internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen oder der Weltbank bezieht, die für jeden frei zugänglich sind. Dass Menschen die Weltlage tendenziell zu pessimistisch einschätzen, führt Rosling auf den "Instinkt der Negativität" zurück. Wir alle hätten eine Neigung, negativen Dingen mehr Beachtung zu schenken als positiven.
Und in der Informationsflut, in denen Artikel Werbeinnahmen und Klickzahlen generieren müssen, haben es Berichte über einen Terroranschlag leichter als Berichte über schrittweise Verbesserungen. So entwickeln wir ein Bild von einer Welt, in der alles schlimmer wird. Rosling bestreitet auch nicht, dass es drängende Probleme gibt. Aber er kritisiert, dass wir der Fokus zu sehr auf diesen und nicht auf die vielen positiven Aspekten wie Alphabetisierung, Mädchenbildung und Internetzugang legen. Der "Instinkt der Negativität" führt zu eklatanten Fehlschlüssen über die Welt. So gehen viele Menschen davon aus, dass die Weltbevölkerung exponentiell ansteigen wird. Dabei hat sich durchschnittliche Anzahl von Kindern pro Kopf in den letzten 50 Jahren von 5 auf 2,5 halbiert. Die Weltbevölkerung wird sicher weiterwachsen, aber "peak child" ist erreicht und die Geburtenrate flacht weiter ab. Auch die Anzahl der Todesfälle durch Naturkatastrophen habe sich in den letzten einhundert Jahren mehr als halbiert. Eine Meldung, die in in unseren von Naturkatastrophen und Todesfällen dominierten Berichten schnell mal untergeht.
Rosling diskutiert noch eine Reihe von weiteren "Instinkten", darunter der Instinkt der Dimension, der Instinkt der Verallgemeinerung oder der Instinkt des Schicksals. Insgesamt ist ihm ein lesenswertes Buch gelungen, das dem allgegenwärtigem Alarmismus etwas entgegensetzt. Ankreiden kann man Factfulness vielleicht, dass es vor allem die soziale Frage beleuchtet und dann so tut, als wende sich die Welt insgesamt zum guten. Dabei sind einige ökologische Entwicklungen (Artenschwund, CO-2 Steuer) wahrhaft besorgniserregend und es zeichnet sich auch kein positiver Umkehrtrend ab. Wer sich für Bücher interessiert, die in ähnliche Kerbe wie Factfulness schlagen, ist mit Steven Pinkers "Aufklärung Jetzt: Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Eine Verteidigung" sehr gut beraten.
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