„In einer Welt, die überflutet wird von belanglosen Informationen, ist Klarheit Macht.“ 

- Yuval Noah Harari

Mathematischer Nominalismus

Der mathematische Nominalismus ist eine ontologische Position in der Philosophie der Mathematik, nach der mathematische Entitäten nicht als abstrakte Objekte existieren.

Allgemein gilt: Eine Entität E ist ein abstraktes Objekt, gdw. E weder ein raumzeitliches bzw. kausales noch ein mentales Objekt ist. Abstrakte Objekte sind also ausschließlich negativ charakterisiert!

Der Platonismus besagt, dass mathematische Entitäten als abstrakte Objekte existieren. Er ist die Gegenposition zum Nominalismus im Universalienstreit.

Bekannte nominalistische Schulen und sind u.a.:

1. Empirismus: mathematische Entitäten existieren als (oder: sind reduzierbar auf) konkrete Objekte.

2. Modaler Strukturalismus: mathematische Entitäten existieren nur in Beziehung zueinander.

3. Fiktionalismus: mathematische Entitäten existieren überhaupt nicht.

Im Folgenden wird vor allem der Nominalismus im Sinne des Fiktionalismus diskutiert. Für eine Einführung in die anderen beiden Schulen siehe hier und hier.

Folgen und Kritik

a. Das Anwendungsproblem

Die Mathematik wird häufig erfolgreich in wissenschaftlichen Theorien eingesetzt.

Frage: Wie lässt sich dieser Erfolg zufriedenstellend erklären? 

Der Platonist könnte hierauf antworten: Unsere besten Theorien referieren z.B. auf reale mathematische Gesetzmäßigkeiten und sind deshalb erfolgreich.[1]

Aber: Nehmen wir an, dass unsere besten Theorien tatsächlich auf abstrakte Entitäten referieren. Warum sollte das unseren Prognoseerfolg bei konkrete Entitäten wie Experimenten oder Vorhersagen oder unseren Anwendungserfolg bei konkrete Entitäten wie Satelliten oder Smartphones erklären? 

Diese Gegenfrage ist für den Platonisten sehr schwer zu beantworten.

Stewart Shapiro:[2] Es reicht nicht aus, wenn der Platonist behauptet, dass die konkreten Objekte Strukturen instantiieren, die die Mathematik beschreibt.

Denn: Es gibt unendlich viele mathematische Strukturen, und es gibt keine Möglichkeit, eindeutig zu bestimmen, welche davon in einer endlichen Region der konkreten physischen Welt tatsächlich oder nur teilweise instanziiert wird.[3] 

Beispiel: Quantenmechanische Phänomene können gruppentheoretisch[4] und auch im Sinne der von-Neumannschen Hilbert-Räume charakterisiert werden.[5] Es gibt keine Möglichkeit herauszufinden, welche die Teilchen instantiieren.

Zwischenfazit: Der Platoniker hat große Probleme die obige Gegenfrage zu beantworten. Trotzdem wird der Anwendungserfolg der Mathematik in den Einzeldisziplinen oft als ein starkes Argument für den Platonismus angesehen.

Denn: Der Platoniker kann zumindest behaupten, dass Mathematik irgendetwas mit der Welt zu tun hat und sich deshalb erfolgreich auf selbige anwenden lässt.

Der Fiktionalist muss dahingegen erklären, wieso wir mit mathematischen Entitäten die Welt so erfolgreich vorhersagen und beherrschen können, wenn sie doch nicht existieren und damit auch nichts mit der Welt zu tun haben.[5][6]

b. Das Problem der einheitlichen Semantik

Im Platonismus können sowohl erfahrungswissenschaftliche als auch mathe-matische Sätze mit derselben (referenziellen) Semantik beschrieben werden.

Dabei sind die Wahrheitsmacher von erfahrungswissenschaftlichen Sätzen konkrete Objekte und die von mathematischen Sätzen abstrakte Objekte. 

Im Fiktionalismus können erfahrungswissenschaftliche und mathematische Sätze dahingegen nicht mit derselben (referenziellen) Semantik beschrieben werden. Denn Sätze wie "2 + 2 = 4" referieren auf nichts in der Welt. Es braucht daher eine neue Semantik für mathematische Aussagen.

Laut dem Sparsamkeitsprinzip ist das auch ein Argument für den Platonismus.

c. Das Verständnisproblem

Ein Platonist kann den mathematischen Diskurs wortwörtlich nehmen.

Beispiel: Wenn ein Mathematiker sagt "Es gibt unendlich viele Primzahlen", dann kann der Platonist das so verstehen, dass der Mathematiker tatsächlich behauptet, dass es unendlich viele Primzahlen (als abstrakte Objekte) gibt.

Also: Wenn der Platonist Recht hat, ändert sich insbesondere die Semantik und die Syntax mathematischer Aussagen nicht.

Ein Nominalist kann den mathematischen Dikurs dahingegen nicht wörtlich nehmen. Für sein Verständnis muss er häufig entweder etwas an der Syntax oder an der Semantik von mathematischen Sätzen ändern.

Beispiel: Ein Modalstrukturalist muss Modaloperatoren einführen[7]. Nach diesen wird ein mathematischer Satz S dann in zwei modale Aussagen übersetzt:

i. Wenn es Strukturen der geeigneten Art gibt, wäre S in diesen Strukturen wahr.

ii. Es ist möglich, dass es solche Strukturen gibt.

Hier wird sowohl die ursprüngliche Syntax als auch die Semantik von S verändert.

Der Fiktionalist muss auf eine ähnliche Weise Fiktionsoperatoren einführen[8] und ebenso die Syntax und Semantik von mathematischen Sätzen verändern.

Wenn man den mathematischen Diskurs für nicht renovierungsbedürftig und gelungen hält, dann ist das ein Argument für den Platonismus.

Internationaler Mathematikerkongress; Zürich (1932): Sollte man Mathematiker wörtlich nehmen?
Internationaler Mathematikerkongress; Zürich (1932): Sollte man Mathematiker wörtlich nehmen?

Siehe auch

Fußnoten

[1] Hier könnte er das berühmte Argument der Unentbehrlichkeit hervorbringen.

[2] Stewart Shapiro: Philosophy of Mathematics: Structure and Ontology (1997)

[3] Siehe auch: Argument der Unterbestimmtheit durch empirische Evidenz.

[5] Der Strukturalist muss erklären, wieso wir mit mathematischen Entitäten die Welt so gut vorhersagen und beherrschen können, wenn sie doch nichts mit der Welt zu tun haben und nur in Beziehung zueinander existent sind?

[6] Der Empirist muss generell erklären, wie mathematische Objekte konkret  wie Stühle existieren. Wo in Raum und Zeit finde ich die "3" oder gar "∞"?

[7] Geoffrey Hellman: Mathematics without Numbers (1989)

[8] Hartry Field: Is Mathematical Knowledge Just Logical Knowledge? (1989)

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