Thomas Kuhn beschreibt die Wissenschaftsentwicklung in einem 4-Phasenmodell:
1. Vorparadigmatische Phase
Bevor eine Disziplin in ihr Reifestadium eintritt, befindet sie sich in der vornormalen Phase. Diese wird oft auch vorparadigmatische Phase genannt.
Das grundsätzliche Charakteristikum einer vorparadigmatischen Wissenschaft ist es, dass sich noch keine einheitliche Lehrmeinung (kein Paradigma) zu grundlegenden Aspekten durchgesetzt hat. Das kann im Einzelnen u.a. bedeuten:
· Es gibt keinen allgemeinen Wissenskanon,
· Es gibt keinen Konsens über die Grundlagen der Disziplin, und/oder
· Es gibt keine einheitliche Methodologie.
Dementsprechend hat die inhaltliche Arbeit in der vorparadigmatischen Phase auch nur wenig mit der ansonsten üblichen Arbeit zu tun. Zunächst müssen Fragen nach den Grundlagen und zulässigen Methoden der Disziplin beantwortet werden. Im Vergleich zur normalen ist die vornormale Forschung:
Ø Unschlüssiger in der Wahl des intradisziplinär Wichtigen und Richtigen.
Ø Diffuser, weniger zielgerichtet, instabiler, spekulativer.
Ø Pluralistischer, vielfach durch eine Konkurrenz von "Schulen" geprägt.
Als Beispiele für eine vorparadigmatische Phase nennt Kuhn optische Theorien in der Zeit vor Newton[1], oder "die Schriften des Plinius sowie die Baconschen Naturbeschreibungen des 17. Jahrhunderts"[2]. Ein jüngeres Beispiel für vorparadigmatische Wissenschaft war für Kuhn die damalige Vererbungslehre[3].
Umgelegt auf die kuhnsche Spieleranalogie gleichen vorparadigmatischen Wissenschaftler Spielern, die nicht im eigentlichen Wortinnn gemeinsam ein Spiel spielen, sondern die zunächst damit beschäftigt sind, sich gegenseitig von den Vorzügen der von ihnen präferierten Spielinhalte- und regeln zu überzeugen.
Wenn sie sich dann auf gemeinsame Paradigmen geeinigt haben, können die Forscher in eine normalwissenschaftliche Phase übergehen. Typischerweise geschieht das, wenn einer der Schulen ein entscheidender Durchbruch gelingt, so dass die meisten Mitglieder der anderen Schulen sich ihr anzuschließen beginnen. Das entsprechende Paradigma muss hier folgende Eigenschaften besitzen:
a. Er muss einen Vorbildcharakter haben, der es ermöglicht, eine Forschungstradition an sie anzuschließen.
b. Es muss den Eindruck erwecken, wesentliche Grundsatzfragen des Gebiets zu lösen und damit die Disziplin fundieren zu können.
b. Es muss hinsichtlich seiner wissenschaftlichen Qualität seine Konkurrenten deutlich übertreffen. "Aber sie muss nicht alle Probleme erklären, mit dem sie konfrontiert wird, das ist niemals der Fall."[4][5]
[1] Thomas Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1979), S. 27 f.
[2] ebd., S. 30 f.
[3] ebd., S. 30
[4] ebd., S. 32
[5] Im Gegenteil: Ein neues Paradigma sollte nach Kuhn immer hinlänglich unpräzise und offen sein, sodass noch genug Raum für normalwissenschaftliche Forschungsarbeit verbleibt. Vergleich hierzu den etwas präziseren Begriff der positiven Heuristik in Lakatos Wissenschaftsphilosophie.
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Ladiova Ballack (Dienstag, 17 November 2020 10:55)
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