Das Abgrenzungsproblem besteht in der Frage, ob – und wenn ja wie – sich Wissenschaft von nicht-wissenschaftlichen kognitiven Feldern abzugrenzen lässt.
Larry Laudans Aufsatz "The Demise of the Demarcation Problem" markierte eine Zäsur in der Debatte um dieses wissenschaftstheoretische Problem.
Laudan vertritt darin v.a. die folgenden Thesen:
· Die älteren Abgrenzungskriterien suchten nach epistemischen und die neueren nach sprachlichen Merkmalen von wissenschaftlichen Aussagen.
· Es ist bislang nicht einmal gelungen, ein notwendiges Merkmal von wissenschaftlichen Aussagen zu finden.
· Ein Abgrenzungskriterium sollte aber notwendige und hinreichende Merkmale von wissenschaftlichen Aussagen angeben können.
· Einiges spricht dafür, dass es ein solches Abgrenzungskriterium nicht gibt und das Abgrenzungsproblem damit letztendlich ein Scheinproblem ist.
„From Plato to Popper, philosophers have sought to identify those epistemic features which mark of science from other sorts of belief and activity. Nonetheless, it seems pretty clear that philosophy has largely failed to deliver the relevant goods.“
- Larry Laudan: The Demise of the Demarcation Problem (1983), S. 111
Bereits Aristoteles wollte wissenschaftliche Überzeugungen von anderen Überzeugungsarten abgrenzen. Er bot dafür gleich zwei Kriterien an:
1. Wissenschaftliche Überzeugungen sind infallibilistisch bzw. apodiktisch gewiss. Das unterscheidet sie von bloßer Meinung oder
Aberglauben.
2. Wissenschaftliche Überzeugungen bieten ein verstehendes Wissen ("Kowing-why") und Alltagswissen ein instrumentelles ("Knowing-how").
Das zweite Kriterium wurde im 17. Jahrhundert aufgegeben:
„To make a long and fascinating story unconscionably brief, we can say that most seventeenth century thinkers accepted Aristotle's first demarcation criterion (viz., between infallible science and fallible opinion), but rejected his second (between know-how and understanding). For instance, if we look to the work of Galileo, Huygens or Newton, we see a refusal to prefer know-why to know-how; indeed, all three were prepared to regard as entirely scientific, systems of belief which laid no claim to an understanding grounded in primary causes or essences.“
- ebd., S. 114
Das erste Kriterium wurde indes bis ins 18. Jahrhundert hochgehalten: Leibniz, Locke, Kant u.A. beschrieben wissenschaftliche Überzeugung bspw. als gewiss.
Im 19. Jahrhundert wurde aber auch das erste Kriterium aufgegeben: Dem bisherigen Infallibilismus wich allmählich ein wissenschaftlicher Fallibilismus.
Von nun an suchte man nach einer bestimmten wissenschaftlichen Methode.
a. Die Logischen Empiristen fanden diese in der Verifikation: Eine Aussage A ist wissenschaftlich, gdw. A bedeutungsvoll bzw. in der Erfahrung verifizierbar ist.
Larry Laudan kritisiert daran vollkommen zurecht:
Dieses Kritierium ist nicht-notwendig. Denn viele Allaussagen sind wissenschaftlich (z.B. Naturgesetzesaussagen), aber nicht verifizierbar.
Dieses Kriterium ist auch nicht-hinreichend. Denn viele Aussagen (z.B. Aussagen über die Flache Erde) sind nicht-wissenschaftlich, aber verifizierbar.
b. Karl Popper sah die wisenschaftliche Methode in der Falsifikation: Eine Aussage A ist wissenschaftlich, gdw. A in der Erfahrung logisch falsifizierbar ist.
Auch hieran kritisiert Laudan absolut zutreffend:
Dieses Kriterium ist nicht-notwendig. Denn viele Existenzaussagen sind wissenschaftlich (z.B. "es gibt Gravitationswellen"), aber nicht falsifizierbar.
Dieses Kriterium ist auch nicht-hinreichend. Denn viele Aussagen (Aussagen des Junge-Erde-Kreationismus) sind nicht-wissenschaftlich, aber falsifizierbar.
Die älteren Abgrenzungskriterien bis in das 19. Jahrhundert waren alle epistemisch motiviert: Sie wollten retrospektiv die Überzeugungen identi-fizieren, die es wert sind, geglaubt und "wissenschaftlich" genannt zu werden.
Dieser epistemische Anspruch schwand im frühen 20. Jahrhundert. Denn nach den neuen Kriterien von Carnap und Popper sind alle möglichen Überzeugungen wissenschaftlich, die aber nicht geglaubt werden sollten.
Die Aussage "die Erde ist flach" ist nach Popper ja paradoxerweise gerade deshalb wissenschaftlich, weil sie falsifiziert wurde, was impliziert, dass sie:
· Falsifizierbar und deshalb nach Popper wissenschaftlich ist; aber auch
· Falsch ist und deshalb nicht geglaubt werden sollte.
Die neueren Abgrenzungskriterien ab dem frühen 20. Jahrhundert sind nur noch syntaktisch respektive semantisch motiviert: Sie wollen diejenigen Aussagen identifizieren, die zur wissenschaftlichen Sprache gehören.
„The new demarcationism thus reveals itself as a largely toothless wonder, which serves neither to explicate
the paradigmatic usages of 'scientific' (and its cognates) nor to perform the critical stable-cleaning chores for which it was originally intended.“
- ebd., S. 122
Nach Larry Laudan sollten wir uns zuvorderst drei Fragen stellen:
(1) Unter welchen Bedingungen ist ein Abgrenzungskriterium angemessen?
Laudans Antwort:
i. Es sollte die paradigmatischen Fälle von Wissenschaft (Physik, Chemie, etc.) und Pseudowissenschaft (Homöopathie, Astrologie) als solche auszeichnen.
ii. Es sollte die besondere epistemische oder methodologische Stellung von wissenschaftlichen gegenüber nicht-wissenschaftlichen epistemischen Feldern erklären können. Genau das können und wollen die neueren Kriterien aber nicht!
(2) Welchen fundamentalen Zweck erfüllt ein Abgrenzungskriterium?
Laudans Antwort:
i. Es kann aufzeigen, welche kognitiven Felder wissenschaftlich sind und welche nicht. Diese Abgrenzung muss gut gerechtfertigt sein, jedoch nicht mit unserer alltäglichen Intuition zusammenfallen.
ii. Es kann zur Begründung für eine Reihe praktischer Maßnahmen gelten, die weitreichende moralische, soziale und wirtschaftliche Konsequenzen haben.
(3) Wie sieht eine angemessene formale Struktur eines Abgrenzungskriteriums aus?
Laudans Antwort:
i. Ein Abgrenzungskriterium sollte idealerweise einzeln notwendige und zusammen hinreichende Bedingungen dafür angeben können, dass ein kognitives Feld eine Wissenschaft ist oder nicht.
ii. Ein nur notwendiges Abgrenzungskriterium ist nicht zufriedenstellend. Denn dann würde es uns nur sagen, welche epistemischen Felder als wissenschaftlich in Frage kommen, nicht aber, welche es auch tatsächlich sind.
Dann könnten wir höchstens sagen, dass die Physik oder Mathematik eine Wissenschaft sein könnten, aber niemals, dass sie auch Wissenschaften sind!
iii. Ein nur hinreichendes Abgrenzungskriterium ist nicht zufriedenstellend. Denn dann würde es uns nur sagen, welche epistemischen Felder sicher wissenschaftlich sind, nicht aber, wodurch sie wissenschaftlich sind oder welche anderen Felder nicht wissenschaftlich sind.
Dann könnten wir nur sagen, dass die Physik eine Wissenschaft ist, nicht aber, warum sie eine Wissenschaft ist oder dass die Astrologie keine Wissenschaft ist.
iv. Nach Laudan war bis dato selbst die Suche nach einem nur notwendigen Abgrenzungskriterium erfolglos. Er geht nicht so weit zu sagen, dass dass es notwendiges und hinreichendes Abgrenzungskriterium nicht gibt. Aber die große Heterogenität der Wissenschaften legt das zumindest nahe. Wenn ein Abgrenzungskriterium aber notwendig und hinreichend sein muss, es ein solches aber vielleicht gar nicht gibt, dann ist das Abgrenzungs- ein Scheinproblem.
Dieses Scheinproblem der Abgrenzung von wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Überzeugungen sollte ersetzt werden durch das Problem der Abgrenzung von verlässlichen und nicht-verlässlichen Überzeugungen.
Nach Laudan wird sich dabei herausstellen, dass einerseits viele verlässliche Überzeugungen nicht-wissenschaftlich sind. Und dass andererseits viele nichtverlässliche Überzeugungen wissenschaftliche Überzeugungen sind.
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Philoclopedia (Samstag, 09 November 2019 19:34)
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