Auszug aus "Das unbeschriebene Blatt: Die moderne Leugnung der menschlichen Natur" von Steven Pinker:
Nationalsozialismus und Marxismus war der Wunsch gemeinsam, die Menschheit neu zu gestalten. »Die massenhafte Veränderung der Menschen ist notwendig«, schrieb Marx; »der Wille, die Menschheit neu zu schaffen«, sei der Kerngedanke des Nationalsozialismus, schrieb Hitler. Gemeinsam war ihnen ferner ein revolutionärer Idealismus und eine herrschsüchtige Gewissheit bei der Verfolgung ihres Traums, ohne Geduld für stufenweise Reformen oder für Korrekturen aufgrund der menschlichen Konsequenzen ihrer Politik. Das allein war ein sicheres Rezept für Katastrophen. Dazu Alexander Solschenizyn im Archipel Gulag: »Macbeths Selbstrechtfertigungen waren schwach – und sein Gewissen verschlang ihn. Ja, sogar Jago bekam weiche Knie. Ein Dutzend Leichen waren zu viel für die Vorstellung und die seelische Kraft der Shakespeare’schen Schurken. Weil sie keine Ideologie hatten.«
Die ideologische Verbindung zwischen marxistischem Sozialismus und Nationalsozialismus ist nicht aus der Luft gegriffen. 1913 in München hat sich Hitler eingehend mit Marx beschäftigt und von ihm möglicherweise ein unheilvolles Postulat übernommen, das die beiden Ideologien später teilten: die Überzeugung, die Geschichte sei eine vorherbestimmte Folge von Konflikten zwischen Menschengruppen, und eine Verbesserung der menschlichen Verhältnisse könne sich nur aus dem Sieg der einen Gruppe über die anderen ergeben. Für die Nazis waren die Gruppen Rassen, für die Marxisten Klassen. Für die Nazis war der Konflikt der Sozialdarwinismus, für die Marxisten der Klassenkampf. Für die Nazis stand die »arische Rasse« als Sieger fest, für die Marxisten das Proletariat. Einmal etabliert, führten die Ideologien schon nach wenigen Schritten zu Gräueltaten: Der Kampf (häufig ein Euphemismus für Gewalt) ist unvermeidlich und nützlich; bestimmte Menschengruppen (Nichtarier, die Bourgeoisie) sind moralisch minderwertig; die Verbesserung der menschlichen Verhältnisse hängt von der Unterdrückung oder Beseitigung dieser Gruppen ab.
Die Ideologie vom Kampf der Gruppen liefert nicht nur eine direkte Rechtfertigung für gewaltsame Konflikte, sondern macht sich auch eine hässliche Eigenschaft der menschlichen Sozialpsychologie zunutze: die Neigung, Menschen in Eigen- und Fremdgruppen zu unterteilen und den Fremdgruppen die Zugehörigkeit zur Menschheit abzusprechen. Dabei spielt es keine Rolle, ob man die Gruppen biologisch oder historisch definiert. Psychologen haben herausgefunden, dass sie ohne Schwierigkeiten Gruppenfeindschaften erzeugen können, indem sie Versuchspersonen unter irgendeinem Vorwand in Gruppen aufteilen – und wenn es das Werfen einer Münze ist.
Die Ideologie des Kampfes Gruppe gegen Gruppe erklärt, warum die Ergebnisse von Marxismus und Nationalsozialismus so ähnlich waren. Die Ideologie des Unbeschriebenen Blattes erklärt einige Phänomene, die eine Besonderheit marxistischer Staaten waren:
- Wenn sich Menschen in psychologischen Merkmalen wie Begabungen oder Antrieb nicht unterscheiden, muss jeder, dem es besser geht, entweder habgierig oder räuberisch sein. Der Massenmord an Kulaken und »reichen« oder »bürgerlichen« Bauern war ein gemeinsames Merkmal von Lenins und Stalins Sowjetunion, Maos China und Pol Pots Kambodscha.
- Wenn der Geist bei der Geburt ohne Struktur ist und durch Erfahrung geformt wird, muss eine Gesellschaft, der es um einen Geist von der richtigen Art zu tun ist, die Erfahrung kontrollieren (»Auf das weiße Blatt schreibt man die schönsten Gedichte«). Die marxistischen Staaten des 20. Jahrhunderts waren nicht nur Diktaturen, sondern auch totalitäre Diktaturen. Sie versuchten, jeden Aspekt des Lebens zu kontrollieren: Kindererziehung, Ausbildung, Kleidung, Unterhaltung, Architektur, Kunst, sogar Ernährung und Sexualität. In der Sowjetunion erhielten die Schriftsteller den Auftrag, »Ingenieure der menschlichen Seelen« zu werden. In China und Kambodscha waren obligatorische Gemeinschaftsesssäle, nach Geschlechtern getrennte Schlafsäle für Erwachsene und die Trennung der Kinder von den Eltern wiederkehrende und verhasste Experimente.
- Wenn Menschen von ihren gesellschaftlichen Umwelten geprägt werden, kann das Aufwachsen unter bürgerlichen Verhältnissen einen bleibenden psychologischen Makel hinterlassen (»Nur das Neugeborene ist ohne Makel«). Daher blieben Kinder von Grundbesitzern und »reichen Bauern« in postrevolutionären Regimen ihr Leben lang stigmatisiert und sahen sich immer wieder Verfolgungen ausgesetzt, als wäre die bürgerliche Herkunft ein genetisches Merkmal. Schlimmer noch, da Herkunft unsichtbar ist, aber von Dritten erkannt werden kann, wurde die Denunziation von Menschen aus »schlechter Familie« zu einer Waffe im sozialen Wettbewerb. Das schuf eine Atmosphäre von Verrat und Paranoia, die das Leben in diesen Regimen zu einem Orwell’schen Alptraum machte.
- Wenn es keine menschliche Natur gibt, welche die Menschen veranlasst, die Interessen ihrer Familien über die der »Gesellschaft« zu stellen, dann müssen Menschen, die mehr auf ihrem eigenen Land anbauen als auf dem der Genossenschaftsbetriebe, deren Ernteerträge dem Staat gehören, habgierig oder faul sein und entsprechend bestraft werden. Furcht anstelle von Eigeninteresse wird zum Beweggrund für Arbeit.
- Wenn der Geist des Einzelnen das austauschbare Element eines superorganischen Gebildes namens Gesellschaft ist, dann wird die Gesellschaft und nicht der Einzelne zur natürlichen Bezugsgröße für Gesundheit und Wohlergehen und zur Nutznießerin alles menschlichen Strebens. Für die Rechte des Einzelnen ist kein Raum in dieser Ordnung.
Damit soll das Unbeschriebene Blatt nicht als gefährliche Doktrin angeprangert werden, so wenig, wie der Glaube an die menschliche Natur eine gefährliche Doktrin ist. Beide sind unabhängig von den verwerflichen Taten zu beurteilen, die in ihrem Namen begangen wurden. Es soll damit allerdings die grob vereinfachende Verknüpfung zwischen den Wissenschaften von der menschlichen Natur und den moralischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts aufgelöst werden. Diese oberflächliche Assoziation steht unserem Wunsch im Wege, uns zu verstehen, und steht dem moralischen Imperativ im Wege, die Ursachen dieser Katastrophen zu verstehen. Und das umso mehr, als die Ursachen etwas mit einer Seite unserer selbst zu tun haben, die wir nicht ganz verstehen.
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