Helen Elisabeth Longino hat die folgende Liste populär gemacht:
Die Liste kontrastiert traditionelle epistemische Werte mit alternativen Werten.
Eine von Longinos Hauptannahmen ist sicherlich diese hier:
P1. Es hat soziopolitische Gründe, dass Wissenschaftler derzeit die traditionellen Werte bevorzugen.
Oft wird Longino so gelesen, dass sie darauf dieses starke Argument aufbaut:
P1*. Für die Wahl zwischen zwei opponierenden Werte gibt es in manchen Kontexten nur soziopolitische Gründe.
P2. Wenn es für die Wahl zwischen zwei opponierenden Werten in manchen Kontexten nur soziopolitische Gründe gibt, dann ist diese irrational.
K1. Die Wahl zwischen zwei opponierenden Werten ist zumindest in manchen Kontexten irrational.
Longino vertritt also einen Wertrelativismus. Nach diesem wird ein Wert dem anderen häufig aus soziopolitischen und nicht aus rationalen Gründen bevorzugt.
Zu diesen soziopolitischen Gründen zählen patriachale und androzentrische Wert-vorstellungen, die z.B. einseitige Machtbeziehungen vor gleichseitigen Beziehungen vorziehen. Hier kommt Helen Longinos Feminismus zum Vorschein.
Ihr Argument beruht offenbar auf zwei impliziten Annahmen A1 und A2.
implizite Annahme 1: Die opponierenden Werte sind jeweils inkompatibel. Ansonsten muss man sich gar nicht zwischen ihnen entscheiden.
Das trifft aber auf die ersten beiden ersten Werte in Longinos nicht zu:
implizite Annahme 2: Die opponierenden Werte sind beide epistemisch. Ansonsten muss man sich gar nicht zwischen ihnen entscheiden.
Das trifft aber auf die letzten beiden letzten Werte in Longinos Liste nicht zu:
Wenn wir diese beiden impliziten Annahmen aussondern, bleiben 2 Wertpaare:
Longinos Beispiel: Die Neoklassik wählt ein einfaches Haushaltsmodell, in dem es nur einen Akteur gibt, nämlich den Mann. Die feministische Ökonomik wählt dahingegen ein ontologisch heterogenes Haushaltsmodell, in dem auch Frauen und Kinder abgebildet werden. Denn sie möchte Machtstrukturen aufdecken, ihre Wahl zur ontologischer Heterogenität erfolgt also aus soziopolitischen Gründen.
KRITIK: Longino behauptet, dass es in manchen Kontexten nur soziopolitische Gründe für die Wahl zwischen zwei opponierenden Werten gibt. Ihr Beispiel kann diese Behauptung aber nicht stützen, denn die Wahl für ein hetero-genes Haushaltsmodell lässt sich auch ohne soziopolitische Gründe rechtfertigen.
RECHTFERTIGUNG: Das neoklassische Haushaltsmodell unterschlägt relevante Unterschiede zwischen den Haushaltsmitgliedern. Es ist also unzulässig sparsam, da es den Wert der empirischen Adäquatheit verletzt. In der Wissenschaftsphilosophie gibt es einen breiten Konsens, dass Sparsamkeit gegenüber empirischer Adäquatheit ein nachrangiger Wert ist. Daher kann die Wissenschaftsphilosophie die Wahl für das empirisch adäquatere, feministische Haushaltsmodell auch rational und ohne soziopolitische Gründe rechtfertigen.
Wenn man die beiden Werte Einfachheit und ontologische Heterogenität so formuliert, dass sie dem Wert der empirischen Adäquatheit nachgeordnet werden, besteht zwischen ihnen auch gar kein systematisches Spannungsverhältnis mehr:
Heterogenität: Eine Hypothese sollte nicht weniger relevante Entitätenarten postulieren, als es die empirische Evidenz gestattet.
(raffinierte) Sparsamkeit: Eine Hypothese sollte nicht mehr relevante Entitätenarten postulieren, als es die empirische Evidenz fordert.
Longinos Beispiel: Die Medizin propagierte einst ein einseitiges Fertilisationsmodell, in der das Spermium aktiv und die Eizelle nur passiv dargestellt wurde. Die Wahl für ein solches Fertilisationsmodell war von sexistischen Vorstellungen geprägt und hatte somit soziopolitische Gründe.
KRITIK: Dieses Beispiel wird von feministischen Wissenschaftsphilosophen häufig aufgeführt, es ist aber historisch zweifelhaft. Paul Groß hat z.B. heraus-gearbeitet, dass schon 1878 Fertilisationsmodelle wechselseitig waren.
Auch dieses Beispiel kann Longinos Argument nicht stützen. Die Wahl zwischen einseitigen oder komplexen Modellen kann hier aufgrund empirischer Evidenz und unabhängig von soziopolitischen Gründen getroffen werden.
Longinos kann die Prämissen des Argumentes also nicht sützten. Trotzdem finde ich ihre Liste interessant. Denn sie zeigt, dass alle epistemischen Werte (außer empirische Adäquatheit) nicht wahrheitsförderlich sind und deshalb vielleicht gar nicht die Bezeichnung als "epistemische" Werte verdient haben.
Nehmen wir den epistemischen Wert der Einfachheit. Viele Wissenschaftler suchen nach einfachen Hypothesen. Aber was sagt uns, dass die Zusammenhänge in der Welt tatsächlich einfach und nicht vielmehr ontologisch heterogen und kompliziert sind? Das heißt: Was sagt, dass die traditionellen Werte von der Liste und nicht alternative Werte wahrheitsförderlich sind?
Es gibt keinen Grund für diese Annahme. Daher ist die Suche nach einfachen Hypothesen vielleicht pragmatisch sinnvoll, aber nicht wahrheitsförderlich.
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