Das Wunderargument lässt sich so als abduktiver Schluss rekonstruieren:
P1. Der empirische Erfolg der Wissenschaften ist ein Fakt F.
P2. Die Hypothese des wissenschaftlichen Realismus H1 erklärt F zufriedenstellend.
P3. Keine andere konkurrierende Hypothese H2 ... Hn erklärt F so gut wie H.
K1. Also: H1 bzw. der wissenschaftliche Realismus ist wahr.
Unter F bzw. dem "Erfolg der Wissenschaften" versteht Putnam den Erfolg wissenschaftlicher Theorien bei Prognosen über beobachtbare Phänomene.
Und die einzige Erklärung für F sei H1 bzw. der wissenschaftliche Realismus.
Kritik: Dass das so nicht stimmt, zeigt das folgende Beispiel:
Eine Theorie T wird zunächst zur Erklärung der beobachtbaren Phänomene Pn konstruiert, anschließend werden aus T deduktiv wahre Sätze über Pn abgeleitet.
Das ist nach Putnam nun ein "Prognoseerfolg". Dieser erklärt sich aber am besten dadurch, dass T gerade dafür konstruiert wurden war, um Pn vorherzusagen!
Der Wissenschaftsrealismus ist in diesem Fall nicht die einzige, nicht einmal die beste Erklärung für erfolgreiche Prognosen über beobachtbare Phänomene.
Wenn man das Wunderargument vor diesem Einwand retten möchte, muss man das Explanandum F so präzisieren, dass der wissenschaftliche Realismus nun wirklich die beste oder einzige Erklärung ist, die F nicht zu einem Wunder macht.
Pierre Duhem hat darauf hingewiesen, dass ein solches Explanandum vorliegt, wenn Theorien erfolgreiche Prognosen über neue, zum Zeitpunkt der Konstruktion der Theorien noch gänzlich unbeobachtete Phänomene, treffen:
“Nehmen wir nun an, es gelte im Moment, wenn die Voraussagungen der Theorie mit der Wirklichkeit konfrontiert werden, eine Wette für oder gegen die Theorie zu schließen. Zugunsten welcher Seite wurden wir unseren Einsatz wägen?
Wenn die Theorie ein rein künstliches System ist, wenn wir in den Hypothesen, auf denen sie ruht, Ausdrücke sehen, die mit Geschick so aufgestellt werden, dass sie die bereits bekannten experimentellen Gesetze darstellen, wenn wir in ihnen aber keinen Reflex der wirklichen Beziehungen zwischen den Realitäten, die sich vor unseren Augen verbergen, vermuten, so werden wir denken, dass eine derartige Theorie von einer neu gefundenen Tatsache eher widerlegt als bestätigt werden wird. Es wäre ein wunderbarer Zufall, wenn die bisher unbekannte Gesetzmäßigkeit gerade einen ganz geeigneten Platz in dem Raume finden wurde, der von den anderen Gesetzmäßigkeiten freigelassen wurde, und wir wären toll, wollten wir auf diese Hoffnung hin unseren Einsatz wagen.
Wenn wir im Gegenteil in der Theorie eine naturgemäße Klassifikation erblicken, wenn wir wissen, dass ihre Prinzipien tiefe und wirkliche Beziehungen zwischen den Dingen ausdrucken, werden wir nicht erstaunt sein zu sehen, dass ihre Folgerungen der Erfahrung vorauseilen und die Entdeckung neuer Gesetze befördern. Wir werden kühn auf sie wetten.
Wenn wir von einer Klassifikation fordern, dass sie von vornherein Tatsachen, die erst in Zukunft entdeckt werden, ihren Platz anweist, zeigt das am deutlichsten, dass wir diese Klassifikation für naturgemäß halten. Und wenn die Erfahrung die Voraussagungen unserer Theorie bestätigt, dann fühlen wir, wie sich in uns die Überzeugung festigt, dass die Beziehungen, die unser Verstand zwischen den abstrakten Begriffen hergestellt hat, tatsächlich den Beziehungen zwischen den Dingen entsprechen.”
- Pierre Duhem; Ziel und Struktur physikalischer Theorien (1978) S.32/33[1]
William Whewell hat überdies auf weitere Fälle hingewiesen, bei denen der wissenschaftliche Realismus auch die einzige vernünftige Erklärung scheint:
“No example can be pointed out, in the whole history of science, so far as I am aware, in which this Consilience of Inductions has given testimony in favour of an hypothesis afterwards discovered to be false. If we take one class of facts only, knowing the law which they follow, we may construct an hypothesis, or perhaps several, which may represent them: and as new circumstances are discovered, we may often adjust the hypothesis so as to correspond to these also. But when the hypothesis, of itself and without adjustment for the purpose, gives us the rule and reason of a class not contemplated in its construction, we have a criterion of its reality, which has never yet been produced in favour of falsehood.”
- William Whewell: The Philosophy of the Inductive Sciences, Founded upon their History (1847), S. 67/68
In Anlehnung an Duhem und Whewell lassen sich nun zwei neue Explananda formulieren:
ExplanandumD: Der "Erfolg der Wissenschaften" besteht in dem Erfolg wissenschaftlicher Theorien bei erfolgreichen Prognosen über neue, zum Zeitpunkt der Konstruktion der Theorien noch unbeobachtete, Phänomene.
ExplanandumW: Der "Erfolg der Wissenschaften" besteht in dem Erfolg wissenschaftlicher Theorien bei erfolgreichen Prognosen über neue, während der Konstruktion der Theorien bekannte, aber nicht in ihr mit eingegangene Phänomene, verstehen.
Diese zwei Explanada lassen sich nun noch zusammenführen:
ExplanandumZ: Der "Erfolg der Wissenschaften" besteht in dem Erfolg wissenschaftlicher Theorien bei erfolgreichen Prognosen über neue, d.h. nicht in ihre Konstruktion mit eingeflossene Phänomene, verstehen.
Die beste Erklärung für dieses präzisierte ExplanandumZ scheint nun tatsächlich der wissenschaftliche Realismus zu sein. Denn wie ließe sich der Prognoseerfolg von Theorien wie der Quantenmechanik - über gänzlich neue Phänomene - besser erklären, als dass diese Theorien etwas mit der Realität zu tun haben?
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