Ian Hacking hat nach eigenem Bekunden "nie einen Gedanken auf den wissenschaftlichen Realismus vergeudet"[1], bis ihm ein befreundeter Experimentalphysiker von zwei Experimenten berichtete. Das erste Experiment ist das sog. Milikan-Experiment an winzigen Öltröpfchen. Wiederholte Versuche ergaben, dass die Ladungen dieser Tröpfchen immer negative ganze Vielfache einer bestimmten Größe sind. Diese Größe wurde als die Ladung von Elektronen identifiziert. Das Elektron galt lange Zeit als Grundeinheit der Ladung. Die Entwicklung der Teilchenphysik deutet jedoch in immer höherem Maße auf eine Entität hin, die Quarks genannt wird und welche eine noch niedrigere Ladungsmenge besitzt.
Das zweite Experiment ist das Experiment von LaRue, Fairbank und Hebard, welche die Ladungsmenge der Quarks bestimmen wollten. Ausgangspunkt ist ein Magnetfeld, in dem Metallkügelchen aus Niob schweben. Wenn man die Ladung dieser Kugeln nach und nach verändert, stellt man fest, dass der Übergang von der positiven zur negativen Ladung entweder bei Null oder bei +/-1/3e erfolgt. Daraus schlossen sie, dass die Ladung von Quarks +/- 1/3e betragen muss.[2]
Ian Hacking fragte seinen Physikerfreund nun, wie man die Ladung auf der Kugel verändern könnte. Seine Antwort beschreibt er in einer berühmten Passage:
„Now how does one alter the charge on the niobium ball? «Well, at that stage», said my friend, «we spray it with positrons to increase the charge or with electrons to decrease the charge.» From that day forth I’ve been a scientific realist. So far as I’m concerned, if you can spray them then they are real.”
- Ian Hacking: Representing and Intervening (1983), S. 23.
Hacking betont, dass es ihm wichtig ist, zwischen Experimenten an einem Objekt und Experimenten mit Hilfe eines Objektes zu unterscheiden. Das zweite Experiment wurde an Quarks und mit Hilfe von Elektronen durchgeführt. Es liefert laut Hacking nur gute Gründe für die Annahme, dass Elektronen "real sind". Sein Realismus bezieht sich also auf die Entitäten, die wir in Experimenten "benutzen", "manipulieren" oder "als Werkzeuge einsetzen" können:
“Experimenting on an entity does not commit you to believing that it exists. Only
manipulating an entity, in order to experiment on something else, need do that.”
- ebd., S. 263.
“Experimental work provides the strongest evidence for scientific realism. This is
[. . . ] because entities that in principle cannot be ‘observed’ are
regularly manipulated to produce new phenomena and to investigate other aspects of nature. They are tools, instruments not for thinking, but for doing.”
- ebd., S. 262.
Es ist offensichtlich erläuterungsbedürftig, was Hacking mit dem "benutzen" bzw. "manipulieren" von Elektronen meint. Er bezieht sich bei diesen Formulierungen nicht etwa auf simple heuristische oder populärwissenschaftliche Bilder, nach denen man mit Elektronen genau so sprühen oder schießen kann wie mit Wassertropfen oder Schrotkugeln. Wenn Hacking vom "manipulieren" von theoretischen Entitäten E spricht, meint er vielmehr das gezielte Ausnutzen (einiger) kausalen Eigenschaften von E zum routinemäßigen Bauen und Benutzen von Apparaten und Instrumenten. So schreibt Hacking u.a.:
“What convinced me of realism [. . . ] was the fact that by now there are
standard emitters with which we can spray positrons and electrons [. . . ]. We understand the effects, we understand the causes, and we use these to find out something
else.”
- ebd., S. 24
Am Beispiel der Elektronenkanone erläutert er dies genauer:
“Understanding some causal properties of electrons, you guess how to build
a very ingenious complex device that enables you to line up the electrons the way you want, in order to see what will happen to something else. Once you have the right experimental idea you know
in advance roughly how to try to build the device, because you know that this is the way to get the electrons to behave in such and such a way. Electrons are no longer ways of organizing our
thoughts or saving the phenomena that have been observed. They are ways of creating phenomena in some domain of nature. Electrons are tools.”
- ebd., S. 263
Es ist auffallend, dass Hacking kein Argument im klassischen Sinne formuliert: Er stellt keine als solche gekennzeichneten Prämissen auf, aus denen dann eine Konklusion folgen soll. Vielmehr zieht er - vor allem im letzten Kapitel des Buches - ein Resümee, das in elliptischer Form zuvor präsentierte Überlegungen, vortheoretische Intuitionen und lose Argumentationsfäden zusammenzieht.
Eine häufige Reaktion hierauf ist es, anzuerkennen, dass Hackings Resümee einen enormen intuitiven Appeal hat. Dass es bei genauerer Analyse aber gar nicht leicht ist zu sagen, worauf dieser Appeal beruht und was genaugenommen überhaupt der wesentliche Gehalt von Ian Hackings Argumentation ist.
Vorerst lässt sich das "experimentelle Argument" vielleicht so rekonstruieren:
P1. Eine theoretische Entität E lässt sich in Experimenten als Instrument gezielt kausal manipulieren und korrekt kausal beschreiben.
K1. Wir besitzen gute Rechtfertigungsgründe für die Annahme: E ist real.
Jetzt stellt sich aber die Frage, wie Hacking den Schluss von P1 auf K1. rechtfertigt. Das heißt: Welche Zusatzprämisse P2 er (zumindest implizit) annimmt, um das experimentelle Argument deduktiv gültig zu machen.
Hacking hat mindestens zwei unterschiedliche Zusatzprämissen im Kopf:
P2a. Wenn sich eine theoretische Entität E gezielt und routinemäßig kausal manipulieren lässt, haben wir gute Rechtfertigungsgründe für die Annahme, dass E real ist.
“The ‘direct’ proof of electrons and the like is our ability to manipulate them
using well-understood low-level causal properties.”
- ebd., S. 274
“We believe in the reality of many entities postulated by theory because we can
construct devices that use those entities in order to interfere in other aspects
of nature [. . . ] When we use entities as tools, as instruments of inquiry, we are
entitled to regard them as real.”
- ebd., S. 578
P2b. Wenn sich eine theoretische Entität E korrekt kausal beschreiben lässt, dann haben wir gute Rechtfertigungsgründe für die Annahme, dass E real ist.
“We are
completely convinced of the reality of electrons when we regularly set out to build – and often enough succeed in building – new kinds of device that use various well-understood causal properties
of electrons to interfere in other more hypothetical parts of nature.”
- ebd., S. 265.
Es liegt nahe P2a. und P2b. als Teilkriterien aufzufassen, da sich gegen beide Gegenbeispiele finden lassen. Sie finden im Realitätskriterium P2 zusammen:
P2. Wenn sich eine theoretische Entität E kausal gezielt manipulieren und korrekt beschreiben lässt, haben wir gute Rechtfertigungsgründe für die Annahme, dass E real ist.
Leider rechtfertigt Hacking das zentrale Kriterium P2. an keiner Stelle explizit. Aber er schreibt, dass sich das Kriterium durch die Anwendbarkeit / Plausibilität desselben Kriteriums bzgl. der Alltagswelt und Alltagsentitäten motivieren lässt:
“The experimenter is convinced of the reality of entities, some of whose causal properties are sufficiently well understood that they can be used to interfere elsewhere in nature. One is impressed by entities that one can use to test conjectures about other, more hypothetical entities [. . . ]. This should not be news, for why else are we (nonsceptics) sure of the reality of even macroscopic objects, but because of what we do with them, what we do to them, and what they do to us?
Interference and interaction are the stuff of reality.”
- ebd., S. 251
Hacking greift dabei auf einen Gedanken von Karl Popper zurück:
“[. . . ] by and large I regard as excellent Land´e’s suggestion to call physically real what is “kickable” (and able to kick back if kicked)”.
- Karl R.Popper: Quantum Mechanics without “The Observer”, S. 15
Den Punkt, den Popper und Hacking plausibel machen wollen, ist der, dass wir sozusagen von Kindesbeinen an beobachtbare Entitäten wie z.B. Tische, die wir kausal manipulieren oder beschreiben können, als real anerkennen. Und dass im Bereich der unbeobachtbaren Entitäten wie z.B. Elektronen dasselbe gelten sollte.
Ian Hacking verweist auf William Newton-Smith[4], der drei Bestandteile des wissenschaftlichen Realismus beschrieben hat:[5]
1. Ontologischer Bestandteil: Wissenschaftliche Theorien sind entweder wahr oder falsch, und welches von beidem eine gegebene Theorie ist, beruht auf dem Sosein der Welt.
2. Kausaler Bestandteil: Wenn eine Theorie wahr ist, bezeichnen die theoretischen Termini der Theorie theoretische Entitäten, auf die die beobachtbaren Phänomene zurückzuführen sind.
3. Erkenntnistheoretischer Bestandteil: Zumindest prinzipiell ist es möglich, sich zu Recht auf Theorien oder Entitäten zu verlassen.
Diese drei Bestandteile entsprechen grob, aber nicht exakt den drei Thesen des Wissenschaftlichen Realismus. Hacking selbst schreibt, dass sich der kausale und erkenntnistheoretische im Groben[6] zu seinem Realismus summieren.
Damit stellt er sich zwei Gegenpositionen gegenüber. Erstens weist er den Instrumentalismus zurück, indem er behauptet, dass P2a. und dass Elektronen real sind. Zweitens weist er Bas van Fraassens den konstruktiven Empirismus zurück, indem er behauptet, dass P2b. und dass es prinzipiell möglich ist, aufgrund von "home truths" wahre Überzeugungen über Elektronen zu haben.
Es ist nicht letztendlich klar, ob Hacking sein zentrales Kriterium P2. normativ oder deskriptiv versteht. Wenn er es normativ im Sinne einer schwachen ontologischen Verpflichtung versteht, kann ein Instrumentalist entgegnen, dass Gesetzesaussagen, welche uns eine gezielte und routinemäßige Manipulation von Elektronen erlauben, nützliche Instrumente sind. Sie verpflichten uns aus Sicht eines Instrumentalisten aber nicht zu einem Entitätenrealismus gg. Elektronen.
Falls das Kriterium aber deskriptiv aufzufassen ist, stellt sich die Frage, ob es die Wissenschaftspraxis adäquat abbildet. Einige Autoren haben das bezweifelt.
Peter Galison[7][8] Alan Gross[9] und Margaret Morrison[10] haben dafür argumentiert, dass es wissenschaftshistorisch nicht notwendig war. Die Experimente, die Physiker von der Realität des Positrons oder Z-Bosons überzeugt haben, involvierten beispielsweise keine kausale Manipulation dieser Teilchen.[11] Entsprechendes gilt für Entitäten in der Astrophysik und anderen Disziplinen.[12]
Andere Autoren haben dafür argumentiert, dass Hackings Kriterium auch nicht hinreichend sei.[13] Ihre Gegenbeispiele beziehen sich mWn aber immer auf zufällige oder einzelne und nicht - wie von Hacking gefordert - auf gezielte und routinemäßige Manipulationen. Sie sind insofern zumindest schlecht gewählt.
Hackings Kriterium lässt sich erfolgreich gegen den ersten Einwand verteidigen, indem man darauf hinweist, dass es auch nur als hinreichendes Kriterium formuliert wurde. Und es sind mWn. bisher keine Gegenbeispiele ins Feld geführt wurden, die es als ein solches widerlegen oder entplausibilisieren könnten.
“There are surely innumerable entities and processes that humans will never know about. Perhaps there are many that in principle we can never know about. Reality is bigger than us [. . . ] The experimental argument for realism does not say that only experimenter’s objects exist. [. . . ] The sceptic like myself has a slender induction. Long-lived theoretical entities, which don’t end up being manipulated, commonly turn out to have been wonderful mistakes.”
- Ian Hacking: Representing and Intervening (1983), S. 274 - 275.
Hacking entkoppelt den Entitäten- vom Theorienrealismus. Denn er meint, dass sogenannte "home truths" oder phänomenologische Gesetze ausreichen, um einer Entität kausale Eigenschaften zuzuschreiben und es dann routinemäßig und gezielt manipulieren zu können. Eine höherstufige Theorie bräuche es dafür nicht.
Daran wurde erstens kritisiert, dass Hacking nicht präzise erläutert, was er als "home truth" oder phänomenologisches Gesetz versteht und wie diese von höherstufigen theoretischen Beschreibungen abzugrenzen sind.[14][15] Diesen Kritikpunkt kann man aber als behebbares, nicht irreperables Defizit ansehen.
Es wurde zweitens kritisiert, dass man unbeobachtbaren Entitäten zwar mit Hilfe von "home truths" kausale Eigenschaften zuschreiben kann.[16][17][18] Dass man bei der epistemischen Rechtfertigung dieser Zuschreibungen aber nicht ohne Theorien auskommt. Wenn man beispielsweise von dem home truth "Die Ladung des Elektrons beträgt 1, 602 · 10 ^ −19C" überzeugt ist, kann man dem Elektron aufgrund dessen gewisse kausale Eigenschaften zuschreiben. Wenn man diese Überzeugung aber epistemisch rechtfertigen möchte, muss man dies durch experimentelle Messungen tun, deren Resultat nur begründet werden kann, wenn man bestimmte Theorien als wahr beziehungsweise realistisch interpretiert.
Und es wurde drittens kritisiert[19], dass home truths oder phänomenologische Gesetze nicht ausreichen, um genug kausales Wissen für die Manipulation einer theoretischen Entität bereitszustellen. Es ist zwar möglich, z.B. ein Elektronen-mikroskop zu benutzen und dabei mit Hilfe von Elektronen Experimente durchzu-führen, ohne aber etwas über diese zu wissen, was über "home truths" oder phänomenologische Gesetze hinausgeht. Es ist aber nicht möglich, ein Elektron-enmikroskop zu bauen oder zu reparieren, ohne über Theorien oder Modelle zu verfügen. Das Bauen von Geräten wie Elektronenmikroskopen ist aber an erster Stelle unerlässlich, um theoretische Entitäten wie Elektronen kausal manipulieren zu können. Also komme auch Hacking nicht ohne Theorien(realismus) aus.
Die letzten beiden Kritikpunkte sehen überzeugend aus. Dem zweiten scheint Hacking auch indirekt nachzugeben.[20] Die Konsequenz hieraus scheint für mich zu sein, dass man Einzelfallunterscheidungen anstrengen muss, um festzustellen, ob - und wenn ja, wie weit und genau erstens epistemische Rechtfertigungen einer "home truth" und zweitens Theorien notwendig sind, um die im Einzelfall untersuchte theoretische Entität manipulieren zu können.
Ist Hackings experimentelles Argument eine Variante des Wunderarguments?
Ist Hackings experimenteller Realismus von der Pessimistischen Meta-Induktion betroffen?
[1] Ian Hacking: Representing and Intervening (1983), S. 45
[2] Das gilt als überholt. Mittlerweile geht man davon aus, dass die elektrische Ladung von Quarks entweder -1/3e oder +2/3e beträgt.
[3] Das gezielte und routinemäßige Manipulieren von E ist also eine hinreichende Beidngung dafür, dass wir gute Gründe für die Annahme haben, dass E real ist. Sie ist aber nicht unbedingt notwendig! Das heißt Hacking schließt nicht aus, dass es auch andere Bedingungen gibt, unter denen wir gute Gründe für diese Annahme haben. Er ist aber sehr skeptisch gegenüber solchen Bedingungen.
Vgl. Hacking (1983), S. 274 - 275.
[4] William H. Newton-Smith: The Underdetermination of Theory by Data (1978), S. 72.
[5] Hacking (1983), S. 27 - 29.
[6] “[. . . My] realism about entities is not exactly (2) and (3). Newton-Smith’s causal ingredient says that if a theory is true, then the theoretical terms denote entities that are causally responsible for what we can observe. He implies that belief in such entities depends on belief in a theory in which they are embedded. But one can believe in some entities without believing in any particular theory in which they are embedded.” - ebd.
[7] Peter Galison: Review of: Ian Hacking; Representing and Intervening. In: Isis 77 (1986), S. 119f.
[8] Peter Galison: How Experiments End (1987), S. 261f.
[9] Alan Gross: Reinventing Certainty: The Significance of Ian Hacking’s Realism. In: Arthur Fine, Micky Forbes, Linda Wessels: PSA (1990), S. 421–431.
[10] Margaret Morrison: Theory, Intervention and Realism. In: Synthese 82 (1990), S. 13f.
[11] siehe u.a. Frank Close, Michael Marten, Christine Sutton: The Particle Explosion (1987), Kap. 4, 9.
[12] Dudley Shapere: Astronomy and Antirealism. In: Philosophy of Science 60 (1993), S. 134–150
[13] Alan Gross: Reinventing Certainty: The Significance of Ian Hacking’s Realism. In: Arthur Fine, Micky Forbes, et al.: PSA 1990 (1990), S. 421–431
[14] siehe z.B. Margaret Morrison: Theory, Intervention and Realism. In: Synthese 82 (1990), S. 14
[15] David Resnik: Hacking’s Experimental Realism. In: Canadian Journal of Philosophy 24 (1994), S. 409.
[16] Margaret Morrison: Theory, Intervention and Realism. In: Synthese 82 (1990), Abschnitt 3.2.
[17] David Resnik: Hacking’s Experimental Realism. In: Canadian Journal of Philosophy 24 (1994), S. 405ff.
[18] Martin Carrier: New Experimentalism and the Changing Significance of Experiments: On the Shortcomings of an Equipment-Centered Guide to History. In: Michael Heidelberger, Friedrich Steinle (Hg.): Experimental Essays — Versuche zum Experiment (1998), S. 175 - 191.
[19] Margaret Morrison: Theory, Intervention and Realism. In: Synthese 82 (1990).
[20] Hacking nennt das Stichwort "home truths" jedoch nicht explizit: “Modelling of the apparatus. There are theories, or at least background lore, about the instruments and equipment listed below [. . . ]. I shall speak of the (theoretical) modelling of the apparatus, an account of how it works and what, in theory, it is like. We are concerned with phenomenological theory that enables us to design instruments and to calculate how they behave”
- Ian Hacking: The Self-Vindication of the Laboratory Sciences. In: Andrew Pickering (ed.): Science As Practice And Culture (1992), S. 45.
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